Wenn Klugheit die Dummheit der Welt in ihre Schranken weist

TransitJessica Zafra | Ein ziemlich böses Mädchen | Transit | 144 Seiten | 20 EUR
Man kann nur hoffen, dass die Literatur aus den Philippinen durch die kommende Frankfurter Buchmesser, auf der die Philippinen Ehrengast sein werden, so etwas wie einen Durchbruch erlebt und endlich auch außerhalb der Philippinen mehr gelesen wird. Denn die Philippinen haben ja nicht nur einen großen Klassiker wie José Rizal zu bieten, über dessen Wirkung bis in die Gegenwart Caroline S. Hau in ihrem Essay Über das Nichtlesen von Rizal hinweist. Nein, die Philippinen sind auch mit einer Gegenwartsliteratur gesegnet, die diverser und aufregender nicht sein könnte, wie man etwa bei der auf Literatur.Review veröffentlichten Kurzprosa von Jenny Ortuoste, Daryll Delgado, Bebang Siy, Allan N. Derain und Chuckberry J. Pascual sehr schön nachlesen kann.
Wer es auch einmal mit dem längeren Format, also einem Roman versuchen möchte, dem sei Jessica Zafras nun ins Deutsche übersetzter Roman Ein ziemlich böses Mädchen ans Herz gelegt, das auf Englisch unter dem Titel The Age of Umbrage bereits 2020 auf den Philippinen erschienen ist.
Es ist Jessica Zafras literarisches Debüt, was schon ein wenig überrascht, denn Zafra ist keine Unbekannte in der zeitgenössischen philippinischen Literaturszene. Die ehemalige Zeitungskolumnistin und Fernsehmoderatorin (und frühere Bandmanagerin der Eraserheads) hat sich mit ihren scharfsinnigen Beobachtungen eine Kultanhängerschaft aufgebaut, wobei sie sich besonders auf aktuelle Themen, Literatur- und Filmkritik, obskure Trivialitäten aus der Unterhaltungsbranche und ihre ganz besondere Theorie über die Weltherrschaft und die Diaspora des Landes konzentriert.
Auch Zafras kurzer Bildungsroman ist durch eine skalpellartige, die philippinische Gesellschaft während der späten Regierungszeit von Ferdinand Marcos sezierende Perspektive geprägt. Eine Perspektive, die über das Erwachsenwerden von Zafras junger Heldin Guada ganz hervorragend funktioniert. Denn Zafra kann über Guada nicht nur von der Selbstermächtigung und den Widerstandsgeist eines jungen Mädchens erzählen, dessen ambitionierter, alleinerziehender Mutter es gelingt, über ihren Beruf als Köchin bei einer der reichsten Familien Manilas angestellt zu werden und so auch ihrer Tochter völlig neue Bildungschancen ermöglicht. Womit die Mutter allerdings nicht rechnet, ist Guadas selbstbewusstes Eintreten für einen ganz eigenen Weg und ihren kritischen, ja fast schon zynisch-ätzenden Blick gegenüber einer dekadenten, korrupten Gesellschaft, deren grundlegende Strukturen über das Bildungssystem wieder und wieder reproduziert werden.
Guada erinnert an ähnlich angelegte, junge Heldinnen der jüngsten Literatur des globalen Südens, die sich ganz ähnlich über Bildung und vor allem die Literatur selbst emanzipieren. An die großartige Silvy aus Timor in Felix K. Nesis Die Leute von Oetimu etwa, oder die wunderbar kluge Tête Fêlée aus den Slums von Port-au-Prince in Jean D’Amériques Zerrissene Sonne. So wie diese jungen, wilden, unberechenbaren Frauen, gelingt es auch Guada, einen ganz eigenen Weg zu gehen, der sich trotz vordigitaler Zeiten ohne Internet und soziale Medien und der zur Neige gehenden Herrschaft des auch im Westen berüchtigten Diktators Marcos Mitte der 1980er Jahre unheimlich gegenwärtig anfühlt. Und das nicht nur wegen diesem modernen, jungen Mädchen, sondern auch wegen machtpolitischer Verhältnisse, die sich gerade dieser Tage zu wiederholen scheinen. Nicht nur weil Marcos Sohn Ferdinand Emmanuel „Bongbong“ Romualdez Marcos Jr. seit 2022 an der Macht ist, sondern wir inzwischen in einer Welt leben, in der autokratische, populistische Regierungsformen mit ihren neokolonialen Metastasen auf der ganzen Welt wieder en vogue sind und von breiten Bevölkerungsschichten sogar „freiwillig“ gewählt werden.
Deshalb ist Zafras Roman nicht nur ein zutiefst empathisches, aber auch komisches und sehr ironisches Buch über das Erwachsenwerden eines jungen und klugen Mädchens und ihres Balancierens zwischen Herkunft und Zukunft in einem Manila und einer Gesellschaft, das disparater nicht sein könnte, sondern auch ein Buch über den verzwickten Traum von der Diaspora und eine Welt, die die gleichen dummen Fehler gnadenlos zu wiederholen scheint, egal wie destruktiv sie auch sein mögen. Oder um es mit Zafras eigenen Worten zu sagen:
Sie küsste Guada auf den Kopf und schwebte aus der Kapelle, ohne Tia Mauras Proteste überhaupt zu vernehmen. Das war es, was man mit Geld kaufen konnte, fand Guada an diesem Tag heraus, die Macht, über das Leben anderer Leute zu entscheiden, einfach, weil sie es konnten.