Zimmer 202

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Eine Geschichte von den Philippinen – übersetzt aus dem Tagalog ins Englische von Joseph T. Salazar
Chuckberry J. Pascual
Bildunterschrift
Chuckberry J. Pascual

Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.

Chuckberry J. Pascual ist Romanschriftsteller, Verfasser von Kurzgeschichten und Übersetzer. Er ist der Autor des Jugendromans "Mars, May Zombie!" (Seht her, Mars, Zombies!) und von vier Kurzgeschichtensammlungen, darunter "Bayan ng mga Bangkay" (Land der Leichen) und "Ang Nawawala", ins Englische als "The Vanished" (Avenida Books, 2023) übersetzt von Ned Parfan. Er schrieb Bücher über Ethnografie, Literaturkritik und Literaturgeschichte, darunter "Pagpasok sa Eksena: Ang Sinehan sa Panitikan at Pag-aaral ng Piling Sinehan sa Recto" (Entering the Scene: Das Kino in der philippinischen Literatur und eine Studie über ausgewählte Kinos in Recto).

"Willst du etwas davon?!"
Mano richtete die Waffe auf das Gesicht des brüllenden Mannes. Ein Schuss hallte wider, und das Gesicht des Mannes platzte auf wie eine Blume. Eine Blume aus Tocino – dem süßen, gepökelten, rotbraunen und in dieser Gegend sehr beliebten Schweinefleischgericht – falls es je eine solche gegeben hat. Sein weißes Hemd war blutgetränkt, der Körper kippte nach hinten, und er landete wie eine weggeworfene Stoffpuppe auf dem Zementboden. Die Menge schrie immer lauter. Einige drängelten sich vor und schubsten, weil sie sehen wollten, was mit dem Mann geschehen war; andere wichen zurück – diejenigen, die zuvor den starken Mann markiert hatten, als sei es ihnen gleichgültig, aber angesichts der Blutspritzer jetzt zitterten – und einige erstarrten auf dem Fleck zur Salzsäule.
Ich schob mein Motorrad neben Mano, klappte mein Helmvisier hoch und sagte: "Genug. Wir sind hier fertig."
Mano schien nichts zu hören. Er stand immer noch vor der Menschenmenge. Er war jetzt richtig aufgedreht. Er riss seinen Helm herunter. "Und, ihr Bastarde? Wo ist jetzt eure Überwachungskamera? Ihr Arschlöcher!" Er richtete die Waffe auf einen Mann, der vor der Gruppe an einem Pfosten stand. "Du da? Fühlst dich wohl mutig? Bist du's?"
Die Augen des Mannes weiteten sich. Er versuchte, sich hinter den Pfosten zu ducken, konnte sich aber nicht durch die Menge drängen. Zu Tode erschrocken versuchten auch ein paar andere, sich hinter dem Pfosten zu verstecken, genau wie die Leute, die schon da waren.
Ich schimpfte wieder mit ihm. "Scheiße, Mano. Das ist schon das zweite Mal. Hör auf."
"Fick dich doch, Santi."
"Du bist zu weit gegangen!", mischte sich eine alte Frau ein.
Augenblicklich kam mir unsere Grundschuldirektorin in den Sinn: Miss Pacana. Eine strenge alte Jungfer, die immer sagte: "Sie sind zu weit gegangen!", wenn sie wütend war, als ob das Verhalten der Menschen eine messbare Grenze hätte. Obwohl ich mich vorher gedrängt gefühlt hatte, Mano zu schelten – oder ihm vielleicht eher einen Schrecken einzujagen, wie bei einer scharfen Glattrasur, damit er aufhörte – hielt ich mich jetzt zurück. Der Anblick der alten Frau amüsierte mich: Sie ähnelte wirklich Fräulein Pacana, so klein und rundlich mit lockigen kurzen Haaren. Sie steckte in einem Hauskleid und schien das Kochen unterbrochen zu haben, als sie mit einem Messer aus dem Haus stürmte. Da die Leute eine Gasse bildeten, weil einige aus Angst vor dem Messer zurückwichen, musste ich fast kichern. Niemand wagte es, ihr entgegenzutreten; alle hatten zu viel Angst. Diese Feiglinge. Sie hatte mehr Mut als alle von denen.
"Geh weg!" rief Mano und drehte der alten Frau den Rücken zu.
"Nein, du machst dich fort! Du bist zu weit gegangen!", schrie die alte Frau. Sie blieb ein paar Schritte entfernt von uns stehen. Ihr Blick schweifte zwischen Mano und mir hin und her.
"Bringt sie nach Hause!", rief Mano in die Menge.
Verdammt, hast du jetzt plötzlich Skrupel, wollte ich sagen.
Niemand in der Menge rührte sich. Sie brummelten immer nur untereinander. Feige Schweine.
Ich nickte zu der alten Frau. "Sie halten sich wohl für mutig, Ma'am?"
Mit schlotternden Wangen näherte sich die alte Frau Manos Rücken. Ich ließ sie gewähren. Sie schwang ihr Messer nach ihm, schaffte es aber nur, seine Jeansjacke aufzuschlitzen. Da ihr Schlag kraftlos war, fiel das Messer auf das Pflaster. Mano drehte sich zu ihr um. Die alte Frau sprang zurück und stolperte fast, denn die Angst holte sie jetzt ein. Mano ergriff das Messer und schritt auf sie zu. Er packte sie am Hals und stach ihr in den Bauch. Der Stich ging leicht durch. Vielleicht hatte die alte Frau das Messer vor dem Kochen geschärft. Manos Hände und Arme waren nun blutverschmiert, aber er hörte nicht auf. Ich hatte ein Kribbeln in der Nase von dem üblen Geruch. Anscheinend wollte der Bastard mitten auf der Straße Hackfleisch zubereiten.
Einige Leute waren angewidert, andere wurden wütend, wieder andere kreischten, aber niemand kam, um ihr zu helfen. Ich richtete meine Waffe auf die Leute um mich herum. Hätte wirklich jemand eingreifen wollen, wäre das schon längst geschehen. Was glaubten sie denn, was Mano tun würde? Verdammt, er hätte nicht abdrücken sollen.
Ich ließ das Motorrad aufheulen. "Verdammt noch mal, Mano! Wenn du nicht aufhörst, bist du der Nächste!"

* * *

Frau Galvan, unsere Klassenlehrerin, stand vorne in der Klasse. Ihre Stimme zitterte beim Sprechen.
"Danke, Klasse. Ich bin dankbar, dass ich in der kurzen Zeit, die wir zusammen verbracht haben, die Chance hatte, euch zu unterrichten. Und um die Wahrheit zu sagen, ihr habt auch mir etwas beigebracht."
Ich blickte nach rechts und sah Mary Grace schniefen. Ich wollte gerade fragen, ob sie sich erkältet habe, aber ich verstummte, als ich bemerkte, dass Cynthia, das Mädchen, das vor Mary Grace saß, ebenfalls schniefte und flennte. Cynthia wäre attraktiv gewesen, wenn sie nur nicht so nah am Wasser gebaut hätte. Erst neulich triefte sie wie eine Kuh, weil jemand aus Versehen die Limonade verschüttete, die sie gerade gekauft hatte.
"Seid alle brav, okay? Seid nett zu meiner Vertretung", fuhr unsere Klassenlehrerin fort.
Ich schaute zu meinen Mitschülern. Fast alle rotzelten. Einige atmeten schwer, andere seufzten, ganz rot im Gesicht. Ich kratzte mich am Kopf. Was sollte das denn? Nur weil Frau Galvan wegging, war jetzt plötzlich Heulen angesagt? Oder waren sie alle erkältet?
"Vergesst eure Lehrerin nicht, okay?"
Frau Galvans Stimme wurde immer leiser. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und der Rotz kroch ihr über die Lippen. Sie biss sich immer wieder auf die Lippe, als ob sie den Hintern zusammenkneifen wollte, um sich nicht in die Hose zu machen.
Ich stellte mir vor, wie unsere Klassenlehrerin mit verzerrtem Gesicht auf der Toilette saß. Dabei versuchte ich nicht zu lachen. Keiner bemerkte es. Die ganze Klasse führte bereits eine regelrechte Schniefsymphonie auf. Jemand jammerte sogar, als sei ihm mit einem Besenstiel auf das Schienbein geschlagen worden. Als ich nach der Ursache suchte, sah ich Jonathan, den großen Kerl, an die Wand gekauert. Es war Jonathan, der letzte Woche Cynthias Getränk verschüttet hatte. Wie ein Verrückter war er durch den Korridor gerannt, wobei er versehentlich mit der Heulsuse zusammengestoßen war. Jetzt schien er ihr in Sachen Flennen den Rang abzulaufen. Was um alles in der Welt war hier los?
Ich meldete mich.
"Ja, Santi?"
Miss Galvan lächelte und sah aus, als ob sie sich ihre ganze Scheiße verkneifen wollte. "Werden Sie sterben, Ma'am?"

* * *

Die Hälfte seines Gesichts war in das Licht getaucht, das durch die Glasfront des 7-Eleven sickerte, die andere Hälfte blieb in Dunkelheit gehüllt. Groß, mit mahagonifarbener Haut, einer spitzen Nase und einem Bart. Wo hat Bruno diesen Kerl nur gefunden? Der Typ kennt tatsächlich Leute, die wie echte Menschen aussehen.
Ich ließ das Motorrad aufheulen und klappte das Visier meines Helms hoch und runter. Er blickte unauffällig zurück und ging auf mich zu, um seinen eigenen Helm aufzusetzen. Ich rückte vor, damit er auf dem Rücksitz Platz nehmen konnte.
Er hielt sich an mir fest, während wir die Straße hinunterfuhren.
Ich ließ ihn einfach. Er roch gut, wie ein Araber.
"Neben Andok's, Andok's, Andok's", flüsterte ich in die Luft.
"Was?"
"Nichts. Ich wiederhole nur den Orientierungspunkt, damit ich ihn nicht vergesse", sagte ich.
"Mano", sagte er.
"Santi. Woher kennst du Bruno?" Keine Antwort.
Wir bogen in eine enge Straße ein. Ich versuchte es erneut. "Das erste Mal?" Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. "Nein." Lügner. Aber das ist schon okay. Ich ließ es auf sich beruhen.

* * *

"Verdammt, ihr zwei steht euch wirklich nahe!" übertrieb Bruno, Rauch ablassend.
"Idiot, so hat er sich vorgestellt", antwortete ich. "Ist mir doch egal, ob er Manuel oder Mano oder wie zur Hölle nochmal heißt."
Bruno legte die Zigarette in den Aschenbecher und nahm sein Telefon in die Hand. "Wie war er?"
"Ein Nervenbündel, aber er ist lernfähig. Ich werd's ihm beibringen." Er war nicht nur ein Wrack; der Typ hat vorhin sogar geheult. Ich brachte ihn zu Lovelies, da hörte die Flennerei auf. "Hier, Ge. Ich habe ihm eine SMS geschickt. Wir treffen uns nächste Woche wieder im 7-Eleven." Ich nickte nur und nahm einen Schluck von meinem Bier.
"Nimm's locker, Mann. Er liebt dich auch."
"Blödmann."
Bruno nahm wieder die Zigarette, machte einen Zug. "Du willst jetzt doch nur irgendwas."
Der Rauch trieb mir die Tränen in die Augen, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Bier. Es war noch mehr als halb voll, aber ich kippte den Rest in einem Zug hinunter.
"Es scheint, dir hat's gefallen", grinste Bruno.
Ich knallte die Bierflasche auf den Tisch. "Du kannst mich mal." Dann stand ich auf und verließ das Bierlokal. Dieser Wichser kann eine List auf Meilen riechen.

* * *

"Wann hast du es herausgefunden?" Mano saß ausgezogen auf dem Bett. Vor ihm das Tablett mit dem bestellten Essen.
"Weiß ich nicht mehr", antwortete ich und zog mir den Slip an. "Zieh dir vor dem Essen etwas an. Wenn deine Schamhaare in die gebratenen Bihon-Nudeln geraten..."
"Ich ziehe etwas an, wenn du meine Frage beantwortest", sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Was ist dein Problem?"
"Ich will es nur nochmal hören. Wir sind doch schon seit langem Partner."
"Versteh das nicht falsch, Mano. Wir sind Arbeitspartner. Du bist derjenige, den Bruno anruft, um mich zu begleiten. Wovon sprichst du?"
"Genau das ist es! Wir sind Partner."
"Wie auch immer." Wenn ich jemand anderem gegenüberstehen würde, hätte ich ihm schon längst eine verpasst. Aber es ist ja auch meine Schuld. Am Anfang wollte ich ihn nur trösten. Dann war ich erregt, und dann hat er wieder geweint. Das hat mich wieder erregt. Fuck.
"Sagst du's mir jetzt, oder was?"
Ich holte tief Luft. "Seit unserem ersten Job."
"Bei 7-Eleven?"
"Du weißt es doch schon."
"Wie fandest du mich?"
"Gutaussehend."
"Ist das alles?"
"Was willst du denn noch? Ich habe dich nachher hierhergebracht. Was willst du hören, Arbeitspartner?"
Mano lächelte, dann stand er auf, um sich den Slip anzuziehen, und setzte sich wieder auf das Bett.
Ich setzte mich neben ihn und legte ihm etwas von den Nudeln auf den Teller.
"Nur eine Sache, Santi."
Ich nahm einen Bissen und nickte. "Was denn?"
"Ich liebe dich."
"Ist das Essen nicht gut?" sagte ich, den Mund voll gebratener Nudeln. "Iss mal."

* * *

Ich sollte als Nächster auf die Schaukel, aber Jonathan wollte unbedingt. Er sagte, sein Kindermädchen würde gleich wütend.
Fein.
Aber Jonathan war schwer. Ich hatte Mühe, ihn anzuschubsen. Und ständig schrie er. 
Mach schon, stoß fester! Stoße mehr! Ich mag, wenn ich mich fühle, als würde ich fliegen!
Ich schubste ihn noch dreimal an.
Waaah! Schubs mich, Santi! Schubs! 
Sein Schreien tat mir in den Ohren weh. Das nächste Mal, als die Schaukel zurückschwang, versuchte ich, ihn zu treten. Aber er war schwer, und die Schaukel hatte an Geschwindigkeit zugelegt. Sie nahm mich um, und ich schlug mit dem Kopf auf dem Zementboden auf.
Für einen Moment lag ich auf dem Boden. Dann setzte ich mich langsam auf. Meine Ellbogen waren aufgeschürft und schmerzten, mein Kopf pochte. Ich befühlte meinen Kopf. Am Genick war eine Beule. Das tat weh.
Eine Lehrerin kam auf mich zu. Ich kannte sie nicht.
"Schau, was dir passiert ist! Schlimm ist das! Jetzt entschuldige dich bei ihm! Sag, dass es dir leidtut!" Ich schaute auf. Neben der Lehrerin lag Jonathan und blutete aus dem Mund. Geschieht dir recht, dachte ich. Nicht, dass ich das gesagt hätte. Ich sah Jonathan nur an und fragte mich, was wohl sein Kindermädchen sagen würde. 
Die Lehrerin hörte nicht auf zu quasseln. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf sie. Sie kniff mich immer wieder mit ihren langen Fingernägeln. Dabei fragte ich mich, wie sie damit in der Nase bohrt.
"Sag Entschuldigung! Sag Entschuldigung! Komm jetzt! Sag, dass es dir leidtut!"
Sie hielt mich am Ellbogen fest und zog mich hoch. Die Schürfwunden an meinen Ellenbogen taten noch mehr weh, und die Beule an meinem Kopf pochte. Ich spürte etwas Warmes in meinen Augen.
Ich bürstete mich ab und entschuldigte mich. "Tut mir leid, Jonathan. Tut mir leid, Lehrerin."
"Okay, akzeptiert. Komm schon, du bist jetzt richtig brav. Jetzt ab in die Klinik."
Die Lehrerin nahm Jonathans Hand und half ihm auf. Sie versuchte auch, mich festzuhalten, aber ich wehrte mich und verdrückte mich.
"Wenn es das ist, was du willst, ist das deine Entscheidung. Rüpel."
Als sie sich abwandten, stürzte ich mich wie ein Stier nach vorne. Ich würgte irgendwie, als ich sie am Rücken stieß. Und grinste, als sie auf den Zementboden stürzte.

* * *

Mano war angezogen, aber er wollte immer noch nicht vom Bettrand weg. Seine Augen waren rot vom Weinen.
"Mano. Komm schon", drängte ich ihn. Ich hätte mich selbst treten können. Diesmal werde ich es Bruno sagen. Echt, ich werde jetzt den Partner tauschen. Ich will keinen Klotz am Bein haben. 
"Antworte mir erst."
"Verdammt noch mal, was willst du denn von mir?" Ich wurde lauter.
"Antworte mir! Auch verdammt noch mal! Warum bringst du mich immer wieder hierher?" brüllte Mano zurück. "Ich halte das nicht mehr aus!"
Es führte zu nichts. "Wir werden später darüber reden. Wir müssen los." Ich schnappte mir die Schlüssel und ging aus dem Zimmer. Du musst nicht gehen, wenn du nicht willst, Arschloch. Um mich von ihm abzulenken, wiederholte ich den Orientierungspunkt in meinem Kopf: blaues Tor, blaues Tor, blaues Tor.

* * *

Mano war angezogen, aber weigerte sich immer noch, vom Bettrand aufzustehen. Seine Augen waren vom Weinen ganz rot.
"Mano. Genug davon", drängte ich. Ich könnte mir in den Hintern beißen. Warum macht mich sein verrotzeltes Gesicht so an? Wo hat Bruno diesen Typ gefunden? Verdammt, ich wusste doch, dass gutaussehende Männer in diesem Job nichts zu suchen haben. Gut, dass wir die Partner wechseln können. Ich will keinen Ärger."
"Antworte mir erst."
"Scheiße, warum hast du diesen Job angenommen, wenn du keine Eier hast? Was zum Teufel bist du? Warum arbeitest du nicht einfach in einem Büro, verdammt noch mal!" Ich erhob meine Stimme.
"Verdammt, du mich auch! Antworte mir! Wie kannst du bei solchen Jobs schlafen?" brüllte Mano zurück. "Ich halte das nicht mehr aus!"
"Das führt doch zu nichts. Wir werden später darüber reden. Komm her." Ich packte sein Kinn, drehte ihn zu mir und küsste ihn. "Willst du etwas davon?"

* * *

Ich war damals auf dem Weg nach Hause. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich so verärgert war. 
Ich musste immer wieder daran denken, was Mr. Ferrer, unser Sozialkundelehrer, gesagt hatte. Er hatte mir vorgeworfen, ich hätte eine schlechte Einstellung. Nach seinem dramatischen Vortrag in der Klasse hob ich die Hand und sagte ihm, wie bedauernswert die Philippinen seien, weil wir uns immer als Opfer sähen. Seiner Meinung nach waren wir von Anfang an dem Untergang geweiht – von den Spaniern erobert, an die Amerikaner verkauft, von den Japanern missbraucht, von den Marcos ausgeraubt und von Cory mit falschen Hoffnungen gefüttert.
Ich hatte lediglich etwas erwähnt, das ich im Fernsehen gesehen hatte, eine Dokumentation über das Meer. Ich beobachtete diese kleinen Fische, unzählige an der Zahl, anscheinend aber hirnlos. Während ihrer Wanderungen werden sie von anderen Tieren gejagt. Delfine schikanieren sie, stören ihre Bewegungen, um leichtere Beute zu haben. Reiher schnappen sich diejenigen, die sich an die Wasseroberfläche verirren, und diejenigen, die überleben, müssen den Begegnungen mit Walen oder Haien ausweichen, die sie verschlingen würden. Sie sahen bedauernswert aus, denn es war kaum ein Entkommen. Vielleicht, so überlegte ich laut, sind wir dazu bestimmt, wie diese kleinen Fische zu sein. Vielleicht sind die Amerikaner die Wale, die Spanier die Delfine und die Japaner die Haie, sie haben jedenfalls ähnliche Augen. Das ist eine traurige Sichtweise, sagte Herr Ferrer.
Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte, also sah ich ihn nur an. Ist nicht er der Lehrer? Da musste ich einen Vortrag halten.
Mr. Ferrer räusperte sich, bevor er weitersprach.
Das Gute – wenn ich deinem Vergleich folge, Santi – ist, dass es viele von uns gibt. Auch wenn die großen Raubtiere einschüchternd wirken, können sie die kleineren Fische, wenn sie sich zusammenschließen, mit Stärke und Einigkeit überwinden. Das sollte uns daran erinnern, dass kollektives Handeln und Widerstandsfähigkeit zu bedeutenden Siegen führen können, selbst wenn wir vor gewaltigen Herausforderungen stehen.
Meine Klassenkameraden jubelten. Mr. Ferrers Stimme wurde wieder ganz poetisch, als ob er etwas Tiefsinniges sagen würde. Immer, wenn er sich so verhielt, wussten wir alle, dass es etwas Ernstes war. 
Aber ich konnte nicht anders – ich hob meine Hand, um das Wort zu ergreifen. 
Sir, haben Sie jemals einen Wal gesehen, der von Sardellen gefressen wurde?
Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Und da schimpfte mich Mr. Ferrer wegen meiner schlechten Einstellung. So ein Mistkerl.

* * *

In dem Viertel gibt es direkt am Eingang einen kleinen Lebensmittelladen. Sie werden den Laden mit dem blauen Tor erkennen, Nummer 35. Er liegt ein paar Blocks von der Barangay Hall entfernt, gegen vier Uhr nachmittags. Es ist noch nicht ganz Rushhour, aber die Schulkinder sind schon auf dem Heimweg. Viele Dreiräder kreuzen herum, ein paar Autos hier und da. Wenn Bruno mich letztes Jahr darum gebeten hätte, hätte ich wahrscheinlich nein gesagt. Aber heutzutage ist unsere Arbeit sehr gefragt, also habe ich es gemacht. Der Wettbewerb ist hart, vor allem, weil es an potenziellen Kunden nicht mangelt. Bruno nennt das, was wir tun, "Bevölkerungskontrolle", etwas, das er von den Bullen aufgeschnappt hat. Die sind jetzt anscheinend auch unsere Konkurrenten. Aber Bruno bekommt auch von der Polizei Hinweise, meist von hochrangigen Polizisten, die es sich leisten können, den Job zu ignorieren. Die machen sich lieber nicht die Hände schmutzig und überlassen uns die Drecksarbeit.
Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Aufträge ich mit Mano schon erledigt habe. Vielleicht testet Bruno mich und bereitet mich auf etwas anderes vor. Aber im Moment mache ich einfach mit und schaue, wohin es führt.
Mano hielt sich an mir fest, als wir mit dem Bike fuhren. Ich wollte ihm sagen, wie sehr er mich nervt, weil er so ein Drama macht, nur um dann doch aufzutauchen. "Keine Sorge, ich werde mich später mit dir anlegen, du Idiot. Das ist es doch, was du willst, oder? Erst wirst du es bereuen, dann lieben?" Ich weiß, wie du denkst, Kumpel. Aber um zu verhindern, dass die Dinge noch mehr eskalieren als ohnehin schon, habe ich geschwiegen. Was vorhin bei Lovelies passiert ist, war genug. Um ehrlich zu sein, erregt mich das jetzt erst. Also lass ich die Dinge schleifen. Blaues Tor, blaues Tor, blaues Tor.
Der Job wäre schnell erledigt gewesen: Das Ziel liegt direkt vor Augen, kein Warten nötig.
Ein oder zwei Schüsse, dann rennen. Fast niemand auf der Straße, abgesehen von den Studenten, an denen wir vorbeikamen. Perfekt. Aber Mano war mit dem Kopf nicht bei der Sache.
Ich schaltete herunter, als ich das Haus mit dem blauen Tor entdeckte. Ein Mann stand davor und goss die Pflanzen. Mano zerrte an meiner Jacke.
"Halt an."
"Lass uns einfach vorbeifahren," sagte ich. Es wird schnell gehen."
"Halt an", drängte Mano.
"Ich mache das allein, wenn du nicht mitspielen willst", begann ich und erstarrte, als ich den Lauf einer Waffe an meiner rechten Seite spürte. "Scheiße..."
"Ich versaue es, wenn du nicht anhältst."
Als wir am blauen Tor ankamen, stellte ich das Motorrad ab. Mano stieg ab und richtete die Waffe sofort auf den Mann. Der Mann drehte sich um, seine Augen weiteten sich vor Schreck, er zeigte auf seine Brust und brach dann auf der Straße zusammen. Es sah aus, als hätte er einen Herzinfarkt gehabt. Mano trat an den niedergestreckten Mann heran und schoss ihm in die Brust.
Der Job sollte jetzt erledigt sein. Aber Mano drückte noch einmal ab, ein, zwei, drei Mal. Die Brust des Mannes war durchlöchert und sein Kopf zerschmettert.
Dieser Mistkerl.
Eine Frau kam aus dem blauen Tor, wahrscheinlich die Gattin des Mannes. "Oh mein Gott! Rudy! Was ist passiert?" Sie warf einen Blick auf Mano, trat einen Schritt zurück und eilte dann zurück ins Haus.
Es kamen Leute heraus. Ich warf das Motorrad an. Wir mussten von dort weg. "Mano!"
Mano warf mir einen Blick zu, dann der wachsenden Menge, blieb aber neben der Leiche stehen.
Was zum Teufel ist mit diesem Wichser los? Ich wurde lauter. "Los, weg hier!"
Die Menge wurde unruhig. "Fick dich!" "Mörder! Ihr Bestien!" Aber inmitten des Chaos ertönte eine Stimme: "Wir haben hier Überwachungskameras! Wir werden euch erwischen, ihr Hurensöhne!"
Ich suchte nach dem Besitzer der Stimme: ein Mann in weißem Hemd, der am Tor des Hauses neben Nummer 35 stand. Er sah wütend aus, seine Halsadern zeichneten sich schon aus einigen Metern Entfernung ab.
Ich wollte Mano noch einmal zurufen – vielleicht gibt es wirklich eine Videoüberwachung –, aber es war zu spät. Er schritt bereits auf den Mann in Weiß zu, die Waffe in der rechten Hand.

* * *

Ma, sind Kuhhirne und Menschenhirne in etwa gleich? Die, die wir in Lugaw oder Porridge mischen, sind nur zerdrückt, aber sie sehen fast gleich aus.
Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen. Wir saßen in der Küche. Die Sonne ging gerade unter, und meine Mutter kochte Kaffee, während ich den Kühlschrank nach einem Snack durchwühlte. Das Abendessen war auf dem Weg, aber mir war vorher noch nach etwas Süßem.
Meiner Mutter fiel fast die Thermoskanne runter. 
Hä? Was ist denn jetzt in dich gefahren?
Ich habe vorhin gesehen, wie jemand angefahren wurde, sagte ich. Eine Frau überquerte die Straße, obwohl die Ampel nicht mehr rot war, und wurde von einem Lastwagen angefahren.
"Oh mein Gott. Was hast du getan?"
"Nichts. Was hätte ich denn tun sollen? Die Polizei war schon da."
Meine Mutter schüttelte den Kopf und rührte ihren Kaffee mit einem Löffel um.
Ich schnappte mir den Rest Schokoladenkuchen von gestern und setzte mich neben meine Mutter. Wir tranken schweigend Kaffee und aßen Schokoladenkuchen. Fast hätte ich eine Erinnerung erwähnt an Papa, als er noch am Leben war. Wir gingen immer zu Ogo's Porridge in der Nachbarstadt, wo es den besten Lugaw gab. Ich bestellte oft Lugaw mit Innereien aus Kuhhirn. Manchmal nahm ich auch Suppe Nummer fünf. Ein guter Deckname, angesichts der Tatsache, dass sie aus Stierhoden hergestellt wird. Mein Vater hat mich immer gehänselt und gefragt, warum ich "Eier" mag, und gesagt, dass er Stierhoden eklig findet. Ich habe nur gelacht. Sie sind köstlich.
Aber ich behielt diese Gedanken für mich. Seitdem meine Mutter Witwe ist, kann sie selbst die kleinste Sache zum Weinen bringen. Ich aß weiter Schokoladenkuchen und plante, am nächsten Tag mal wieder bei Ogo vorbeizuschauen.

* * *

Mano war immer noch angezogen, aber er weigerte sich, vom Bett aufzustehen.
Seine Augen waren rot vom Weinen.
Wir waren gerade zu Lovelies Motel zurückgekehrt. Wir waren leicht entkommen. Nachdem Mano die alte Frau erstochen hatte, versuchte uns die Menge zu umringen. Aber bevor sie näherkommen konnten, feuerte ich vor ihnen einen Schuss in den Boden ab. Sie zerstreuten sich wie Fische, die von Dynamit getroffen wurden – völlig nutzlose Feiglinge. Mano konnte herauskommen und sprang auf. Ich ließ das Motorrad aufheulen, und wir rasten davon.
Als wir bei Lovelies ankamen, brach Mano in Tränen aus. Wir waren in der Lobby, und er hörte nicht auf zu weinen. Der Wachmann starrte uns an – es war nicht zu übersehen, Manos Jacke war blutverschmiert und meine wahrscheinlich auch auf dem Rücken. Aber er sagte kein Wort. Er würde es nicht wagen.
Die Empfangsdame an der Rezeption beachtete uns weniger. Zwar muss sie das Blut gerochen und Manos Schniefen gehört haben, aber sie nahm nur die Zahlung entgegen, gab mir den Schlüssel und schaute nicht einmal in unsere Richtung. 
"Deshalb brauchen wir einen festen Ort", wollte ich Mano erklären, als wir den Flur zu unserem Zimmer hinuntergingen, schließlich wollte ich ihn in unser Handwerk einweisen. Aber ich hielt mich zurück; er war zu verzweifelt. Es schien, als hätte er seinen Verstand in dem Haus mit dem blauen Tor gelassen. Selbst als wir an zwei Typen mit blutunterlaufenen Augen vorbeikamen – wer weiß, was die eingeworfen hatten –, schluchzte Mano einfach weiter. Der Süchtige mit dem Vollbart, der schnüffelte wie ein hungriger Hund, starrte uns an. Ich zückte kurz meine Waffe, und er rannte davon.
"Mano, hör auf damit", sagte ich. "Ich kümmere mich um Bruno. Denk dran, wenn es schief geht, tauchen wir unter. Das ist die Abmachung. Manchmal ziehen sie Chaos vor, auch wenn das mehr Leichen bedeutet. Dadurch wird das Motiv verwischt. Du hast doch deine Ersparnisse versteckt, oder?"
"Haben sie keine Familien?" fragte Mano. Er schluchzte wie ein Kind, das von seinen Spielkameraden zusammengeschlagen wurde.
Ich wollte ihn zur Vernunft bringen: "Du gehörst nicht zu ihrer Familie, also weine nicht deswegen. Du tötest jemanden und weinst dann? Du musst härter werden!" Aber ich habe mir auf die Zunge gebissen. Stattdessen ließ ich meinem Frust freien Lauf, indem ich Essen bestellte. Ich griff zum Telefon und bestellte an der Rezeption knusprig gebratene Schweinefüße, ein ganzes Huhn, zwei Schüsseln Lomi-Nudelsuppe und zwei 1,5-Liter-Softdrinks.

* * *

"Wir sind im Lovelies und sehen uns einen Snuff-Film auf meinem Handy an. Jemand hat ihn mir online geschickt. In dem Video solle jemand getötet werden. Ich dachte, es sei wahrscheinlich nur ein weiterer Actionfilm. Oder ein Horrorfilm. Aber dieser hier ist anders. Es ist echt. Da hängt ein Baby von der Decke, an Händen und Füßen gefesselt. Es hat nichts an. Seine kleine Muschi wird vor der Kamera zur Schau gestellt.
"Was zum Teufel! Das arme Baby!" rief Carlo.
Carlo finde ich ziemlich zimperlich, wohingegen ich einfach nicht darüber nachdenke. Er ist härter als Mano. Als ich ihn das erste Mal bei 7-Eleven gesehen habe, habe ich nur den Kopf geschüttelt. 
Bruno verarscht mich, er hat mir einen anderen Fick gegeben, der durchdrehen wird.
"Fuck, Santi. Schalt das aus", sagte Carlo.
Ein Mann näherte sich dem Baby. Er hatte ein Schwert, wie ein Samurai. Er zielte mit dem Schwert auf die Muschi des Babys.
Ich sah Carlo an. Er schimpfte weiter, aber seine Augen waren auf den Bildschirm genietet.
"Willst du was davon?"


Über den Übersetzer

Joseph T. Salazar begann seine Lehrtätigkeit an einer nicht-säkularen Universität, wo er Kurse über philippinische Literatur gab. Im Rahmen von Forschungsstipendien und Lehraufträgen lebte er auch in China, Indonesien und Thailand und tauchte in die literarischen Kulturen dieser Regionen ein. Seit über einem Jahrzehnt lebt er als Veganer. Dabei erkundet er, wie sich Rohstoffe aus der Dritten Welt und religiöse Traditionen beim Thema Essen kreuzen. Seine Gedichte, Geschichten und Forschungsartikel befassen sich mit den Grenzbereichen der Identitätsfindung. 'Room 202' ist seine erste literarische Übersetzung. Derzeit arbeitet er an der Fakultät für Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft der Universität der Philippinen.