Der Sommer mit Pfadfindern, Piraten und trächtigen Ratten

Es ist Sommer in der südlichen Hemisphäre und Winter auf der nördlichen Erdhalbkugel. Im Januar bringt Literatur.Review sie zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Daryll Delgado ist in Tacloban City, Philippinen, geboren und aufgewachsen. Ihr erstes Buch, After the Body Displaces Water (USTPH, 2012), dem diese Erzählung entnommen ist, gewann den zweiunddreißigsten Manila Critics Circle/Philippines National Book Award für das beste englischsprachige Buch mit Short Storys und war Finalist für den Madrigal-Gonzales First Book Award 2013. Sie erhielt Schreibstipendien in Australien, Spanien und auf den Philippinen und hat Abschlüsse in Journalismus und vergleichender Literaturwissenschaft. Ihr Roman Remains (Ateneo de Naga University Press, 2019) ist ihr zweites Buch und erscheint im Frühjahr 2025 in deutscher Übersetzung.
„Schalt den Fernseher ein!“, befahl mir mein Bruder lautstark, als er ins Wohnzimmer stürmte. Die Tür hinter ihm knallte so heftig zu, dass ich dachte, sie würde sich komplett aus den Angeln heben. Die Glasjalousien im Aluminiumfensterrahmen klapperten, und Staub waberte durch die windstille Luft in alle Richtungen.
Mein Freund und ich sprangen überrascht vom Sofa auf, da wir nicht damit gerechnet hatten, dass mein Bruder so früh am Tag zurück sein würde. Es musste erst drei Uhr sein, in der glühenden Hitze war es nachmittags draußen flirrend weiß.
„Oh mein Gott! Oh, mein Gott! Putangina! Wir sind aufgeflogen! Sie haben uns erwischt!“, plapperte er weiter, während seine Hände zitterten, als er die Fernbedienung auf den Fernseher richtete und den lokalen Nachrichtensender einstellte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und glitten an seinen Schläfen an dem bleichen Gesicht hinunter. Sein Haar war zerzaust. Sein weißes Bürohemd hatte am Rücken dunkle, rußige Flecken und in einem Ärmel einen Riss.
„Wer?! Was ist denn los?!“, fragten wir. Wir hatten keine Ahnung, was los war. „Setz dich bitte mal und komm runter“, forderte ich meinen Bruder auf und bat meinen Freund, ihm etwas Wasser zu holen.
„Tanginaaa!“, schrie mein Bruder wieder Richtung Fernseher. Dann machte er einen Schritt und schlug mit der Faust so fest gegen die Wand über dem Fernseher, dass seine Knöchel bluteten und an der Betonmauer blutige Hautfitzelchen klebten.
„Hoy!“, fuhr ich ihn an und stürzte zu meinem Bruder, um ihn davon abzuhalten, sich selbst und die Wand erneut zu demolieren. Er wich ein Stück zurück und schmetterte dann stattdessen die Fernbedienung gegen den Bildschirm, so dass das schwarze Teil zersplittert auf den Boden fiel.
Mein Freund und ich wandten uns um, um zu sehen, was oder wer auf dem Bildschirm zu sehen war. Und, oh mein Gott. Wir trauten unseren Augen nicht, wen wir da sahen. Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. „Was war das? Was? Warum? Was ist das? Das macht doch keinen Sinn.“ Es machte keinen Sinn, dass sie dort waren und wir hier und ihnen zusahen. „Was soll das? Was zur Hölle ist das?“
„Pu. Tang. Ina.", sagte mein Freund im Flüsterton, mit der gleichen Befürchtung wie mein Bruder. Auf seinem Gesicht spiegelte sich der Schock meines Bruders wider.
Bevor ich irgendetwas tun konnte, bevor ich auch nur ansatzweise verstehen konnte, was da vor sich ging, was ich sah, trat mein Bruder mitten in den Bildschirm, so dass der Fernseher mit einem lauten Knall gegen die Wand krachte. An jenem Nachmittag war das kleine Wohnzimmer erfüllt von seiner Wut.
Draußen war es nach wie vor ruhig. Der schwarze, kahle Baum am Fenster hob sich scharf vom strahlenden Weiß des Sommerhimmels ab.
Es war der Sommer 2002, und mein Freund und ich hatten uns wieder in Quezon City eingefunden, nachdem wir nach unserem Abschluss ein paar Jahre lang zu Hause in der Provinz gelebt hatten.
Wir mieteten eines von drei Zimmern in der Wohnung, die sich mein Bruder mit zwei anderen Jungs von der Arbeit teilte. Don und Gerry, so hießen sie, stammten ebenfalls von den Visayas. Don war jung, übergewichtig, glatthäutig und blass. Gerry war alt, muskulös, behaart und dunkel. Sie verstehen, was ich meine. Der Kontrast war ziemlich krass.
Ich habe nie verstanden, welcher Arbeit sie wirklich nachgegangen sind. Die drei fuhren um zwei Uhr nachmittags los und arbeiteten bis Mitternacht oder sogar bis zwei Uhr morgens am nächsten Tag. Manchmal kam ein Lieferwagen mit stark getönten Scheiben, um sie abzuholen, aber meistens nahmen sie einfach ein Taxi. Mein Bruder erzählte mir, dass der Lieferwagen vor allem zum Ausliefern und Abholen von Waren benutzt wurde. Ich habe mich nie darum gekümmert, welche Art von Produkten geliefert oder abgeholt wurden.
Ihr Büro befand sich im weit entfernt gelegenen Fairview, am Rande von Quezon City. Die Arbeit bestand darin, Computer zu programmieren, Maschinen zu überwachen, Discs zu produzieren und ihre chinesisch sprechenden, ausländischen Bosse aus Malaysia zu unterhalten. Die Arbeit sei aber gut bezahlt, sagten sie. Und das war sie definitiv. Mein Bruder lieh mir ständig Geld; zurück gab ich es ihm nie. Mein Freund und ich lebten damals von unserem Uni-Stipendium. Wir mussten nie wirklich etwas für die Miete berappen. Letztlich hat immer wieder mein Bruder unseren Anteil übernommen.
Wenn wir keine Lust zum Kochen hatten, haben wir viel in der Tomas Morato Street gegessen, die buchstäblich nur einen Steinwurf von der Wohnung entfernt war, oder wo immer wir wollten. Selbst wenn wir Zeit zum Kochen hatten, was mein Bruder sehr gerne tat, aßen wir stattdessen auswärts. Es war, als könne er es nicht erwarten, das ganze Geld, das er hatte, auszugeben, sobald er es bekam. Folglich hatte er keine Ersparnisse. Er schaffte sich nichts Großes an, wie das Erwachsene tun, z. B. ein Auto oder gar Möbel für die Wohnung. Er besaß eine Menge teurer Schuhe und Kleidung, hatte allerdings weder die Zeit noch die Gelegenheit, sie zu tragen.
Es war Don, der Ersparnisse hatte. Seine einzigen Anschaffungen waren Bücher. Computerbücher. Und er versuchte immer, vor uns mit seinen Beständen und seinem neu erworbenen Computerwissen anzugeben. Ich glaube, er wollte unbedingt, dass wir ihn als eine Art Computergenie anerkennen. Was er wahrscheinlich auch war. Oder auch nicht. Ich bin nie dahinter gekommen. Oder er wollte uns klarmachen, dass er von den dreien allermindestens der Einzige war, der wirklich Ahnung von Computern hatte, auch wenn sie bei der Arbeit alle dasselbe taten.
Wenn sich zum Beispiel mein Computer aufhängte, war Don immer schnell zur Stelle und tüftelte daran herum, während er mir die Feinheiten dieser Maschinen erklärte, was es wirklich bedeutet, wenn ein Vorgang nicht mehr klappt, und wie die konventionellen Begriffe des Aufhängens – z. B. Dinge zum Trocknen aufhängen, sich aufhängen, um zu sterben usw. – in der Informatik tatsächlich sehr gut anwendbar sind. Solche verrückten Dinge.
Sobald Don über Computer sprach, war da dieses Glitzern, dieses klimplerkleine Flackern in seinen Augen. Es war ein eigenartiges, unvergessliches Leuchten, das mich unangenehm berührte und ihn verletzlich aussehen ließ und auch unangenehm.
Don war sehr groß, und das war eine weitere Sache, die ihm eindeutig nicht angenehm war. Er war etwa 1,80 m groß, aber völlig schlaff. Nicht im Geringsten sah er sportlich aus. Er sah aus wie ein typischer Computerfreak mit fahlem Teint, der etwas frische Luft und direktes Sonnenlicht bitter nötig hatte. Seine Vorderzähne waren klein und irgendwie spitz, was ihn manchmal bösartig aussehen ließ. Aber er war ganz und gar nicht boshaft. Er liebte Coldplay, lieh sich immer meine CDs aus, und er wusste mit einer zerbrechlichen und verzweifelten Gewissheit, dass er zu Höherem bestimmt war, als Apparate zu überwachen und ausländische Chefs zufriedenzustellen, die kein Englisch sprachen, gegen Arbeitsnormen verstießen und einen Dreck von Computern verstanden.
Manchmal schimmerte in Dons Augen Traurigkeit, manchmal große Hoffnung, vor allem, wenn er davon sprach, dass er endlich diese spezielle zweistufige Lizenzprüfung online ablegen würde oder dass er eines Tages, sehr, sehr bald, Steve Jobs auf der Apple Convention seine neuen Erfindungen und Software vorstellen würde. Für all diese Dinge sparte er sein Geld und sich selbst auf.
„Wie eine trächtige Ratte“, pflegte Gerry zu sagen, „eine trächtige Ratte, die nach Essensresten und warmen Stoffen für ihr Versteck sucht.“ Gerry veralberte Don gern wegen seiner Knauserei. Ich habe die Parallele mit der trächtigen Ratte nie verstanden, bis ich in jenem Sommer fast eine gesehen hätte.
Sie erzählten mir, dass eine Ratte ein Loch in einen der Eckpfosten unserer alten Wohnung gebohrt hatte. Die Jungs hatten das Loch gefunden, ohne die Ratte darin. Gerry und mein Bruder machten sich daran, den Bau aufzubrechen und fischten allen möglichen unkenntlichen, graffitiähnlichen Kleinkram von einst ganzen Dingen heraus. Mit Stöcken und Stangen kratzten und schabten sie die Wände des Rattenlochs ab. Und dann schüttete mein Bruder, um das Loch zu füllen, mit einer seltsamen Mischung aus Wut und Spieltrieb Salzsäure hinein. Don und ich sahen zu und erschauderten bei dem Gedanken, dass sich die Ratte, aufgedunsen von dem Wurf kleiner schwarzer Föten, in der Säure auflöste.
Ich habe die Ratte nie wirklich gesehen. Aber das hielt mich nicht davon ab, nächtelang von ihr zu träumen. Ich wusste, dass mein Freund genervt war, weil ich beim Sex plötzlich aufhörte, weil ich überzeugt war, die trächtige Ratte zu sehen, die so groß war wie eine Katze und einen Schwanz hatte, der so dick war wie der Körper einer Schlange, und die von einer Ecke unseres Zimmers in die andere schnellte oder unter unser Bett kroch.
Eines Tages war er einfach weg – die Ratte, mein Freund. Erst nach einer Woche kam er zurück. Ich träumte weniger von der Ratte, stellte ich fest. Als er zurückkam, hatte er eine Plüschmaus dabei, als Geschenk und Mittel zur Befriedigung meiner Faszination und Besänftigung meiner Angst. „Ayan, para matigil ka na“, sagte er, damit ich damit aufhören könne. Das sorgte für viel Gelächter, aber für viel mehr taugte es nicht. Der Druck, den unser Liebesspiel auf das Federbett ausübte, beunruhigte mich nach wie vor. Ich träumte wieder von der Ratte, die unter dem Bett gefangen war, die im Bettrahmen eingeklemmt war, deren aufgeblähter Bauch platzte, deren Kopf platt gequetscht war und deren dicker, nasser Schwanz heftig auf den Holzboden schlug.
Ich lernte allmählich, mich trotz der Albträume aktiver am Akt zu beteiligen, nur weil ich meinen Freund vermisst hatte, und weil er, nun ja, sehr energisch war mit seinen Versuchen und Seitenhieben, mich dazu zu bringen, nicht an die Ratte zu denken. Er wurde immer kreativer, um meinen irrationalen Ängsten und Faszinationen für Nagetiere Genüge zu leisten. Musophobie nennt man das wohl, eine extreme Angst vor Mäusen und Ratten. Ich glaube, es war in jenem Sommer, als ich das Wort zum ersten Mal hörte, und als ich begann, meinen Freund wirklich zu lieben.
Aber zurück zu Don, der so harmlos war wie ein Disney-Mouseketeer. Allerdings war er ein bisschen ein Geizhals, ja, das habe ich schließlich gemerkt. Ich machte den Fehler, ihn einmal darauf hinzuweisen, beim Sonntagsessen. Am Vorabend waren wir alle in einer der Bars in Tomas Morato etwas trinken gewesen. Don hatte nichts bestellt, sich aber mit Begeisterung an unseren Vorspeisentellern bedient und ist dann kurz vor Mitternacht gegangen, weil er müde war und noch viel zu lesen hatte. Als die Rechnung kam, vergaßen wir, angetrunken wie wir waren, dass Don gegangen war, und teilten sie durch fünf, was die ganze Berechnung vermasselte und meinem Bruder einen weiteren Grund lieferte, Geld auszugeben ... und nochmals auszugeben.
Es gibt einen Ausdruck in Tagalog, den ich sehr mag – neben „kapit sa patalim“, etwa „auf Messers Schneide hängen“, wie in Verzweiflung – „galit sa pera“, wofür es im Englischen keine zufriedenstellende Übersetzung gibt, was aber wörtlich bedeutet, „wütend auf Geld, kann es kaum erwarten, es loszuwerden“. Genau so verhielt sich mein Bruder in Bezug auf Geld, eine Kombination aus den beiden Redewendungen: verzweifelt und wütend darauf.
Am nächsten Tag sprach ich das Thema beim Mittagessen an. Nicht die Ausgabepraktiken meines Bruders, sondern eher Dons mangelnde Ausgaben. Zuerst war Don sehr defensiv und sagte, er habe uns eigentlich gesagt, dass er an diesem Abend nicht ausgehen wolle, aber wir seien sehr „hartnäckig“ gewesen. Er sagte, er habe nichts bestellt, weil er nicht habe bleiben wollen. Aber weggeschlichen habe er sich nicht. Durchaus nicht. Warum sollte er auch? „Tatsächlich“ habe er alle um die „Erlaubnis zu gehen“ gebeten.
Wir alle lachten über Dons Gebrauch des Wortes „Erlaubnis“. Seine Augen bekamen wieder diesen seltsamen Schimmer, wodurch er sehr unangenehm wirkte und ihn noch leichter zum Ziel unserer Neckereien machte. Und dann passierte es. Er schluchzte. Das feuchte Licht in seinen Augen verwandelte sich in eine Träne, die ihm unweigerlich über die fette, schwabbelige Wange lief. Sie schien nichts mit dem, was vor sich ging, zu tun zu haben, kam so unerwartet, dass wir sie fast nicht bemerkt hätten.
Don stand wortlos auf, nahm seinen Teller und ging in die Küche. aus irgendeinem unerfindlichen Grund taten wir alle so, als würden wir die Träne - eine Träne! - nicht sehen. Fast wäre Gerry ein Witz darüber entfahren, aber er hielt sich zurück. Don wandte unbeholfen das Gesicht ab, als er auf dem Weg zu seinem Zimmer an uns vorbeiging, und sagte in ruhigem Ton, dass er abwaschen werde, aber erst viel später, wenn er mit den Vorbereitungen für eine Online-Prüfung fertig sei, „also bitte alle Teller auf die Spüle stellen, danke“.
„Sorry, Don“, brachte ich gerade noch heraus.
Das Apartment lag im nicht so glamourösen Teil der Scout Area, einem trendigen Viertel mit Bars, Restaurants und Cafés. Aber der Ort hat auch eine dunkle Geschichte, die ihn immer noch durchdringt, jedenfalls für meine Begriffe. Er ist nach der Gruppe von Pfadfindern benannt, die auf dem Weg zu einem Weltpfadfindertreffen in Kairo waren und alle starben, als 1963 das Flugzeug, in dem sie sich befanden, vor Bombay ins Arabische Meer stürzte. An der Rotunde, wo sich die Tomas Morato und die Timog Avenue treffen, steht ein Denkmal für die Pfadfinder und ihren Leiter. Zufälligerweise befindet sich hier auch die Ozone Disco, die Schauplatz einer der weltweit tödlichsten Brände in einem Nachtclub (ja, so ein Ranking gibt es tatsächlich) war, bei dem etwa 160 Menschen ums Leben kamen, von denen die meisten gerade ihren College-Abschluss feierten.
Aber in unserer Straße, zumal in unserer Wohnung, hatte man nicht den Eindruck, dass man sich mitten in einem der belebtesten Orte der Stadt befand. Manchmal gab es kein Wasser in den Wasserhähnen. Manchmal war der Boden im Badezimmer überschwemmt. Aber das Haus hatte drei große Schlafzimmer mit riesigen holzgerahmten Fenstern, eine Doppelgarage, in der kein einziges Auto stand, viele streunende Katzen, keine Ratten – jedenfalls keine in Sicht – und vor der Wohnung stand ein alter, verzweigter Baum, der keine Früchte trug und kaum Blätter hatte. Jener Sommer, in dem wir die Wohnung bezogen, war einer der heißesten des Landes. „Auf dem Land waren die Äcker rissig und lechzten nach nur einem Tropfen Regen; das ungenährte Getreide war aus Verzweiflung verkümmert; Tiere fielen tot um oder irrten wie Gespenster durch verlassene Städte.“ So stand das alles in den Zeitungen, jedenfalls sensationell aufgebauscht durch meinen albernden Freund.
„In einer alten Wohnung in Scout Tobias, Ecke Scout Santiago“, fuhr er mit seiner, wie er es nannte, Reportagestimme fort, „haben die Leute sich aller sittsamen Kleidung entledigt, sind durch die Hitze völlig ausgelaugt und haben kaum noch genug Kraft, um sich ... fortzupflanzen. Das ist der Anfang vom Ende“, sagte er. Wir waren in unserem Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Wir konnten die knorrigen Äste des alten Baumes draußen sehen. Alles war still. Es weht absolut kein Lüftchen. Aber unsere Körper waren ineinander verschlungen, schwitzten stark, waren höchst lebendig in der drückenden Hitze.
An einem Zahltag gab mein Bruder, wie versprochen, sein ganzes Gehalt für eine ziemlich große Klimaanlage aus und ließ das Ding ausgerechnet im Wohnzimmer installieren. Zuvor hatte ich mir von meinem Stipendiengeld gerade einen kleinen Fernseher gekauft, und von da an war dieses Zimmer der Ort, an dem wir uns nach einem langen Arbeitstag versammelten.
Ich brachte die Idee auf, dass wir uns einen Kabelanschluss zulegen. Allein der Gedanke daran gefiel uns sehr. Mehrere Male hingen wir im Wohnzimmer ab und sprachen darüber, welche Sendungen wir uns anschauen würden, wenn wir Kabelfernsehen hätten, und welche Sendungen wir zu Hause, wo wir Kabelfernsehen hatten, ständig sahen.
Obwohl der Sommer ohne einen Kabelanschluss zu Ende ging und jener Fernseher buchstäblich in Stücke ging, wurde das Wohnzimmer zum kühlenden und coolsten Mittelpunkt dieser glühend heißen, alten Wohnung. Schließlich wandelte es sich auch noch zum gemeinsamen Schlaf-, Ess- und Arbeitszimmer.
Aber wir tranken nur in der Garage, wo wir ohne Probleme rauchen konnten. Das war die einzige Hausregel, die wir aufstellten und auch einhielten. Außerdem waren diese Sommernächte sehr schön, wenn auch feucht. Der Himmel war immer klar, die Sterne funkelten. Don kam gerne nachts aus seinem Zimmer. Er mochte den nächtlichen Sternenhimmel, allerdings nicht die Sonne. Er saß gerne draußen und redete mit uns, aber er trank fast nichts.
Der standfeste Trinker war Gerry. Er spielte gerne Gitarre, sang Dylan, die Beatles, Simon and Garfunkel, Freddie Aguilar und dann auch etwas Nirvana. Wenn er sang, immer ernsthaft, manchmal auch falsch, färbte sich sein dicker, muskulöser Hals rot und die Adern drohten fast herauszuspringen.
Gerry drehte auch gerne mal einen Joint, selbst in seinem Alter. Gerry war alt. Wir nannten ihn den ältesten Jolog der Welt. Er war alt genug, um Großvater zu sein, was er auch war; allerdings verleugnete er diesen Fakt.
Gerry wurde in jenem Sommer fünfzig. Ich erinnere mich nur deshalb daran, weil das der einzige Samstag war, an dem er mit uns nicht trank. Wir haben nie erfahren, wohin er an jenem Abend gegangen ist, in einem weißen Hemd mit Button-Down-Kragen, schwarzen Hosen und Glanzlederschuhen. Aber am nächsten Tag war er wieder da, nüchtern und mit trockenen Auges. Seltsam. Mein Freund meinte, dass Gerry wahrscheinlich in die Kirche ging, beichtete und Buße tat; das war sein geheimes Leben. Mein Freund war überzeugt, dass Gerry nur vorgab, cool zu sein, hart zu sein, während er in Wirklichkeit ein Engel mit Tattoos war. Oder ein Agent des Geheimdienstes.
Einmal erhaschte ich einen Blick auf ein Foto von einem jungen Mann und zwei Jungen in Gerrys Brieftasche. Der junge Mann auf dem Foto sah genauso aus wie Gerry, und daher wusste ich, dass Gerry sicher nicht, wie mein Bruder vermutete, ein Pädophiler war, und diese Kinder nicht seine Beute waren. Sie waren sein Sohn und seine Enkel. Na ja, heutzutage weiß man nie so recht, sagte mein homophober Bruder oft. Du könntest auf der Toilette, an der Theke oder im Zug direkt neben einem stehen, oder du könntest ein Zimmer mit ihm teilen, stimmt's, Gerry? Mein Bruder scherzte und stichelte unerbittlich. Don zog nur die Augenbrauen hoch und übertrieb es mit dem Gähnen. Haaah-gähn, jetzt geht's wieder los.
Aber es war Gerry, der die fiesesten Schwulenwitze machte. Deshalb habe ich zuerst gedacht, dass Gerry vielleicht nur überkompensiert, dass er nicht nur ein Heiliger und ein Geheimagent ist, sondern auch schwul. Er hat nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht und ist auch nie mit einem ausgegangen; und er teilte sich nun mal ein Zimmer mit Don. Gerry war auch besonders gehässig, was Dons „weiche Art“ anging, wie er es gern ausdrückte, und machte immer wieder Andeutungen bezüglich Dons Sexualität, die Don vielleicht offener ausgesprochen hätte, wäre er nicht so sehr mit seinen Software-Träumen beschäftigt gewesen. Die beiden hatten eine sehr merkwürdige Beziehung. Sie achteten aufeinander und kümmerten sich umeinander, das war klar, auch wenn sie nicht immer die richtigen Worte dafür fanden.
Gerry hat ziemlich stark den Körper eines Arbeiters, sagte ich einmal zu meinem Freund. Und mein Freund meinte, diesmal sei ich diejenige, die gemein sei. Aber es stimmte. Gerry hatte die ungesündesten Angewohnheiten, er hatte keine Ahnung von Sport oder Diät, aber er hatte die härtesten Bauchmuskeln, die straffsten Unterarme und den festesten Hintern. Ich schwöre bei Gott. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, herauszufinden, woher er kam und so. Aber sein Körper, der gewöhnlich in lächerlich engen und kurzen Jeanshosen steckte, verriet es mir. Da war ein Mann, der lange und hart gearbeitet hatte, nicht im Fitnessstudio, vielmehr auf Frachtschiffen oder in Fabriken.
Gerry sah wirklich seltsam aus. Sein Gesicht war so alt wie das eines Veteranen des Zweiten Weltkriegs, mit all den groben Furchen und markanten Kampfspuren. Aber sein Körper schien alterslos, von den Kräften der Natur perfektioniert. Und von Armut, fügte mein Freund immer hinzu.
Ich erinnere mich, dass ich dieselben Gedanken hatte, als ich fünf Jahre später Gerrys Leiche zum letzten Mal sah, bekleidet mit einem einfachen weißen Button-down-Hemd und einer schwarzen Hose, die in einem schlichten, lackierten Holzsarg lag. Er war schon fast zwei Tage tot, bevor man seine Leiche verwest auf dem Boden des Zimmers fand, das er damals in einer Pension irgendwo in Lawton gemietet hatte. Dem Bericht zufolge gab es keine Anzeichen für ein Verbrechen. Es sah so aus, als hätte er einen schweren Anfall gehabt und wäre mit dem Gesicht nach oben vom Bett auf den Boden gefallen, wobei seine rechte Hand noch den Rand einer Decke umklammert hatte. Aber seine Augen standen offen. Und es gab keine Erklärung für die blauen Flecken und die starke Verfärbung an seinem Hals.
Mein Bruder kam, um Gerrys Leiche abzuholen. Er war der Einzige, den sie erreichen konnten, sagte der Polizeibeamte. Sie hatten die Visitenkarte meines Bruders in Gerrys Brieftasche gefunden. Abgesehen von etwas Bargeld, Zigarettenpapier, mehreren Bankeinzahlungsbelege unter derselben Kontonummer und einem alten Foto war die Karte meines Bruders alles, was sie in seiner Brieftasche gefunden hatten.
Mein Bruder arbeitete damals für einen fetten, korrupten Kongressabgeordneten. Nach nur zwei Jahren in seinem neuen Job hatte er es geschafft, sich ein eigenes Haus zu kaufen und sich das Verhalten eines fiesen Regierungsvertreters zugelegt. Er war oberflächlich, fast abweisend und stets in Eile. Für nächtliche Wachen blieb er nicht auf, hatte keine Zeit, sich zu uns zu setzen oder zu plaudern. Aber er sorgte für die Bezahlung von allem.
Mein Bruder hatte wirklich Glück. Er war nicht in dem „Büro“ in Fairview, als die nationale Ermittlungsbehörde NBI, begleitet von einem einem Kamerateam, eine Razzia durchführte. Mein Freund dachte, mein Bruder könnte es gewusst haben, er könnte in letzter Minute von dem Buchhalter, der immer eine Schwäche für ihn hatte, einen Tipp bekommen haben. Mein Freund dachte ferner, dass es ihr eigener Chinoy-Boss oder mein Bruder selbst gewesen sei, der die Razzia angeordnet und den illegalen Einwandererstatus der beiden Ausländer gemeldet hatte.
Bevor sie ins Gefängnis geworfen wurden, wurden Don und Gerry und die beiden Ausländer den Medien präsentiert. Die Ausländer bedeckten ihre Gesichter mit ihren dünnen, blassen, zitternden Händen. Gerrys Körper war für die Kameras nicht vollständig sichtbar, nur sein armseliges altes Gesicht war zu sehen. Als die Kameras auf ihn heranzoomten, versuchte er, sich hinter Don zu ducken. In der Zwischenzeit war Don aufgrund seiner Größe und seiner hellen Haut unter den vieren am stärksten aufgefallen und wurde zum Aushängeschild für diese erste erfolgreiche Anti-Piraterie-Operation. Wie bemerkenswert, dachte ich. Bemerkenswert, wie Dons Augen glitzerten, sogar, wenn er unter Schock steht, sogar im Fernsehen.
Später erfuhr ich, dass Don im Gefängnis fast gestorben wäre. Er wurde direkt vor den Augen von Gerry zusammengeschlagen, der nichts tun konnte, um seinen Mitbewohner, den zerbrechlichen Riesen zu schützen. Don musste ins Krankenhaus gebracht werden, gleich nachdem sie auf Kaution freigelassen worden waren. Ihr Chef bezahlte natürlich alles. Er war sehr großzügig. Gerry arbeitete weiter für ihn. Genau wie mein Bruder und dessen Arbeitgeber, der Kongressabgeordnete. Sie alle arbeiteten für ihn.
Don fuhr nach Hause in die Provinz und blieb dort eine ganze Weile, nahm zu, las zurückgezogen seine Computerbücher, bereitete sich auf die Online-Zulassungsprüfungen vor und perfektionierte die Software, die er für die Apple Convention in den USA entwickelt hatte.
Letztes Jahr noch kam eines Abends überraschend Don zu Besuch. Ja, genau diesen Monat vor einem Jahr. Mein Freund und ich wohnten damals schon in einem Wohngebiet in der Nähe des Universitätscampus, das zwar atmosphärisch, aber nicht von der Entfernung her weit von der Scout Area entfernt schien. Unser kleines Haus war sorgfältig eingerichtet – alles darin war relativ neu und unseren derzeitigen Verhältnissen angemessen. Wir hatten es von allen Spuren früherer Bewohner befreit. Die ursprünglich vorhandenen Betonfliesen waren allesamt herausgerissen und durch Holzdielen ersetzt worden. Die cremefarbenen Wände wurden in Ocker und Hellbraun neu gestrichen. An der Stelle, an der früher offensichtlich ein Fernseher gestanden hatte, wurde ein deckenhohes, wandfüllendes Bücherregal aufgestellt.
Es war ein Freitagabend, erinnere ich mich. Wir hatten Gäste zum Essen da, Kollegen von der Universität. Es war eine besonders kühle und windige Sommernacht. Es klingelte an der Tür, nur einmal, und ich rannte hin, weil ich dachte, es sei der Pizzalieferant. Vom Türrahmen aus sah ich nur die Silhouette eines großen, beleibten Mannes, der unbeholfen am Tor stand und sein schweres Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. „Pizza Hut?“, rief ich aus. „Hier ist Don“, antwortete er in einem so monotonen Tonfall und ohne jede Gefühlsregung, dass ich es fast nicht hörte. „Wie bitte? Wer ist da?“ – „Don hier“, sagte er mit noch tieferer Stimme. Oh mein Gott, Don! Ich eilte zum Tor, um ihm öffnen und ihn hereinzulassen. „Komm rein, komm rein, Don!“ Er wollte nicht reinkommen. Wir hatten Gäste, stellte er fest. Und er könne sowieso nicht lange bleiben.
Wir saßen draußen auf der Veranda und sahen uns stattdessen die wenigen Sterne an, die man sehen konnte. Er war gerade vom Flughafen gekommen. Er würde nur zwei Tage in Manila bleiben, dann würde er nach Taiwan fliegen.
„Taiwan? Wow! Wirst du dort studieren? Hast du ein Stipendium bekommen?“, habe ich gefragt. „Warum Taiwan?“
„Zum Arbeiten, nicht zum Studieren. In einer Elektronikfabrik. Produktionslinie. Die Fabrik liefert Hardware. Kleinere Teile. Für Computer von Apple“, sagte er und leierte die Informationen roboterhaft herunter.
„Das ist gut, das ist gut“, sagte ich. „Danach kannst du das Examen machen, das du schon immer machen wolltest ... Es ist so lange her, Don, was hast du noch so gemacht?“ fragte ich und versuchte, das Schweigen zu brechen.
„Hab versucht, mich ... aufzuhängen. Im alten Haus meiner Mutter“, sagte er und blickte auf seine Hände, die auf seinem Schoß ruhten.
„Was? Don! Warum denn?“
„Die ganze Decke stürzte ein. Runter. Mit mir. Zu schwer. Mutter war so wütend“, sagte er, lächelte kurz und sah weg.
„Was? Oh, Don.“ Ich griff nach seiner Hand. Aber er zog sie weg und stand auf, um zu gehen.
Als er sich herunter beugte, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, sah ich seine Augen. Sie waren klar und trocken, aber irgendwie tot.
„Pass auf dich auf, Don“, brachte ich noch heraus.
Im Bett mit meinem Freund denke ich manchmal an Dons leblose Augen, an Gerrys toten Körper, an die stille Wut meines Bruders auf sich selbst und an die verrückte trächtige Ratte, die den ganzen Sommer 2002 über ein Phantom geblieben war. „Der Sommer unserer Unzufriedenheit“, wie mein Freund ihn jetzt scherzhaft nennt.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich war auf jeden Fall vor jenem Sommer und streckenweise auch währenddessen glücklich. „Aber was ist seitdem passiert? Wie konnte es so tragisch enden? Wie konnte das alles so schief gehen? Warum haben wir überlebt und sie nicht?“ Hin und wieder stelle ich meinem Freund diese Fragen.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht? Warum habe ich mein Zuhause verlassen?“ Ich war zur Lügnerin geworden. Ich war entweder zu glücklich oder zu gelangweilt. Ich hatte entweder alles verdrängt oder war prophetisch drauf. Ich sah es vor mir, gab aber vor, es nicht sehen.
Mitten im Akt stoppe ich wieder. Mein Freund ist nicht wenig überrascht, als ich aus dem Bett springe.
„Oh fuck, oh Mann“, sagt er.
Ich laufe nackt von einer Ecke des Zimmers zur anderen, während er mit seinem Unbehagen – in seiner Unzufriedenheit – daliegt und mich beobachtet.
„Es war wahres Glück! Genau das war es! Wir hatten damals eine Familie und Hunde, ein Auto, ein richtiges Zuhause, mit richtigen Ratten! Wir hatten beim Blick aus dem Schlafzimmer Berge und Felder, drei Minuten bis zum Strand, kleine Cafés, echte Gespräche, mit echten Freunden, wir tranken nachts am Magsaysay, kippten im Amphitheater um, sprangen nackt ins Meer! All diese Ausflüge aus der Stadt hinaus, Lachen, das nicht enden wollte, Gitarrenmusik, lauter Gesang! Und ich habe zu all dem Nein gesagt?! Was habe ich mir nur dabei gedacht!“
Ich merke, dass ich wie eine Verrückte brülle, also senke ich meine Stimme.
„Warum haben wir unser Zuhause verlassen? Warum sind wir hierher zurückgekommen?“
Er gibt keine Antwort.
Ich höre auf, auf und ab zu gehen. Ich trete ans Fenster. Es weht eine seltene Sommerbrise. Sie weht die Vorhänge zur Seite, aber von unserem Fenster aus kann man den Nachthimmel nicht gut sehen. Stattdessen sehe ich Reklametafeln, und das fahle Licht einer Straßenlaterne wirft seltsame, unförmige Schatten an die Wand.
„Wir waren einfach noch nicht reif fürs Paradies?“, bietet er an.
„Waren sie vielleicht bereit, aber haben es nicht verdient? Ist es das, was du meinst?! Fick dich! Und wie konntest du eigentlich all dem zusehen und so bleiben?“
„Wie denn, Schatz?“
„So eben! Unversehrt!“
Er schüttelt den Kopf. Ich weiß, dass er versucht zu verstehen, aber er tut es nicht. Aber ich vielleicht auch nicht.
Er steht vom Bett auf. „Lass uns nach Hause gehen, lass uns heiraten“, sagt er.
Er stellt sich hinter mich, zieht mich sanft an seine Brust. Und tut dann sein Bestes, um mich vergessen zu machen. Aber ich weiß, dass jene trächtige Ratte noch da ist, gefangen unter unserem Bett.