Die bedeutsame Unfähigkeit, sich nicht auf Rühr- oder Spiegelei festlegen zu können

OetingerSuzanne Collins | Der Tag bricht an - Teil 5 der Tribute von Panem-Reihe | Oetinger | 464 Seiten | 26 EUR
Wer die seit 2008 mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Tribute von Panem-Romane von Suzanne Collins gelesen hat, mag sich natürlich fragen, ob der nun fünfte Roman, Der Tag bricht an, überhaupt nötig war. Denn im Kern erzählt Collins eine Geschichte, die sie auch schon in den Büchern zuvor erzählt hat. Vor allem die Passagen, in denen sich die jugendlichen Protagonisten in einer hypermodernen Variante des römischen Kolosseum gegenseitig auslöschen, um der bitteren Moral der autokratischen Zentralregierung zu genügen, die damit an den verheerenden Bürgerkrieg in der Vergangenheit erinnern will, klingen fast schon ein wenig zu vertraut.
Das liegt jedoch nicht nur an den ersten drei Romanen, in denen sich die jugendliche Katniss Everdeen selbst ermächtigt und die Macht des Kapitols, der Zentralregierung einer dystopischen USA, infrage stellt. Und es liegt natürlich auch nicht nur an der vielen Lesern vertrauten antiken Vergangenheit, die Collins referenziert, haben doch nach dem Mythos von Theseus und dem Minotaurus schon die alten Griechen sieben Jungen und sieben Mädchen als Tribut aus Griechenland nach Kreta geschickt. Vielleicht liegt es an den Verfilmungen, die noch erfolgreicher als die Romane waren und filmisch sicherlich aufregender sind als die einfache Sprache, mit der Collins ihre Geschichte präsentiert und dessen Bildsprache sehr nachhaltig wirkt. Der Hauptgrund dürfte jedoch der Erfolg neuer Formate wie die südkoreanische TV-Serie Squid Game sein, in der sich Menschen in einer Arena nach und nach umbringen, in der Hoffnung, dass es wenigstens einem gelingt, durch einen Sieg seinem prekären Leben eine neue Zukunft zu geben. Oder an den überaus erfolgreichen Wellen von Dark Romance-Bestsellern der New Adult-Literatur, in denen vor allem junge Mädchen moralischen Grauzonen ausgesetzt sind und in denen Gewalt und Unterdrückung nicht selten völlig unhinterfragt im Zentrum der Handlung stehen.
Zwar spielt auch bei Collins die Gewalt eine zentrale Rolle, jedoch ist sie, anders als bei den oben beschriebenen Formaten, politisch motiviert. Das war schon zu Beginn der Reihe so, und Collins‘ literarischer Durchbruch erfolgte nicht von ungefähr zu einem Zeitpunkt, als Autokratien und Populismus ihren weltweiten Siegeszug begannen. Auch zu ihrem neuesten Band kommentiert Collins explizit, dass sie von David Hume und seinen Ideen beeinflusst worden sei. Diese zeigen eine Menschheit, in der immer wieder die Wenigen die Vielen regieren. Wie aktuell diese Ideen sind, verdeutlicht nicht nur der weltweite Siegeszug autokratischer und diktatorischer Systeme gegenüber Demokratien, sondern auch die Art und Weise, wie diese Systeme an die Macht gelangen: Oft sind es junge Wähler, denen die Freiheit zu anspruchsvoll ist und die sich eine „starke“ Führung wünschen. Dies ist auf den Philippinen genauso der Fall wie in den USA, Deutschland oder Argentinien.
Die Tribute von Panem-Reihe von Collins zeigt sehr anschaulich, wohin dieses Wahlverhalten führt und wie es sich anfühlt, nicht mehr frei zu sein. Wie wichtig es ist, gerade das zu zeigen, lässt sich an einer vergleichbaren Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen. Solange die Zeitzeugen noch lebten und davon erzählen konnten, was es bedeutete, von einer Diktatur wie der des Dritten Reichs in Krieg und Genozid geführt zu werden, schien ihre Zeugenschaft auch so etwas wie ein Schutzschirm gegen kommendes Unheil zu sein. Doch mit dem Tod der letzten Zeitzeugen scheint dieser Bann gebrochen.
Zwar kann Literatur diese Zeitzeugenschaft nicht vollständig ersetzen, doch sie kann dabei helfen, die Mechanismen zu erkennen und sich politisch zu wappnen. Mit dem vierten Band (The Ballad of Songbirds and Snakes, 2020) und nun dem fünften geht Collins einen sehr „filmischen” Weg. Sie bedient sich der Prequel-Technik, d. h., sie erzählt eine Vorgeschichte zur Kernhandlung der ersten drei Teile, in denen sich die charismatische Katniss selbst ermächtigt. In The Ballad of Songbirds and Snakes griff Collins 50 Jahre zurück, um zu zeigen, wie der eigentlich sympathische Coriolanus Snow zu dem Tyrann wird, von dem in den ersten drei Bänden erzählt wird. Dies war fundiertes Diktatoren-Coming-of-Age, das nicht nur zeigte, dass letztendlich jeder Mensch für Macht korrumpierbar ist, sondern auch, dass jede Demokratie durch diese Korrumpierbarkeit verletzbar ist.
In Der Tag bricht an geht Collins nun 24 Jahre zurück. Während sie in dem ersten Prequel das Coming-of-Age der „Macht“ beschreibt, thematisiert sie in Der Tag bricht an das Coming-of-Age der „Opfer“, der Beherrschten. Doch ganz anders als Katniss in den ersten drei Bänden ist Haymitch Abernathy, jener „Berater“, der ihr 24 Jahre später in der Arena zur Seite steht: ein gebrochener Held, ein Mensch, der zweifelt, einer, der sich nicht einmal sicher ist, ob er die Kompetenzen hat, sich zwischen einem Rühr- und einem Spiegelei zu entscheiden.
Doch Collins zeigt, dass gerade dieser Zweifel es ist, der Menschen widerstandsfähig macht und dazu befähigt, der Versuchung der Macht zu widerstehen. Es ist diese Ambiguitätstolerenz, die uns befähigt, offen und damit demokratisch zu bleiben. Dieser Ansatz, den klassischen „Loser“ zum Helden zu machen, ist in der New Adult und Kinderbuch-Literatur nicht neu, doch Collins gelingt es, politisches Denken und Action-Elemente so überzeugend zu verweben, dass es eine wahre Freude ist.
Obwohl „Freude” natürlich das falsche Wort ist, zeigt es mir vielmehr, dass die Hoffnung auf ein Ende der gegenwärtigen Tendenzen noch lebt. Und das umso mehr, als von dem Mitte März 2025 weltweit zeitgleich erschienenen Roman allein in der ersten Woche mehr als 1,5 Millionen Exemplare verkauft wurden, davon 1,2 Millionen in den USA – einem der Länder, die sich derzeit am stärksten dem autokratischen Weg verschrieben haben. Das sind doppelt so viele Exemplare, wie von dem ersten Prequel zum Launch verkauft wurden, und dreimal so viele, wie der im Jahr 2010 erschienene dritte Band der Reihe, Mockingjay, verkauft wurde. Mit der Verfilmung, deren Dreharbeiten im Juli 2025 beginnen, dürfte sich Collins‘ Botschaft noch einmal multiplizieren. Damit könnte der Roman nicht nur eine Weichenstellung für kommende Erstwähler sein, sondern auch ein wichtiges Bollwerk gegen die apolitischen Tendenzen gegenwärtiger New-Adult-Literatur.