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Wurzeln

Wie Wurzeln schlagen, wenn sich die Stimme auf zwei Sprachen und die Seele auf zwei Länder verteilt?
María Ignacia Schulz
Bildunterschrift
María Ignacia Schulz

Es ist Sommer im globalen Norden und Winter im globalen Süden. Grund genug, im August auf Literatur.Review Sommer und Winter zusammenzuführen und bislang unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt zu veröffentlichen.

María Ignacia Schulz ist eine afrokolumbianisch-deutsche Forscherin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie promoviert in Geisteswissenschaften und digitale Gesellschaft an der Internationalen Universität von La Rioja und ist dort Mitglied der GREMEL-Forschungsgruppe. Sie hat einen Master-Abschluss in spanischer und lateinamerikanischer Literatur (Internationale Universität La Rioja) und studierte Linguistik und Literatur an der Universität Cartagena (Kolumbien), wo sie unter anderem auch kolumbianische Literatur unterrichtete. Bei dem vom ERC (Europäischer Förderrat) unterstützten Projekt AFROEUROPE & CYBERSPACE (Universität Bremen) ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitglied der Forschungsgruppe De Áfricas y Diásporas: Imaginarios Literarios y Culturales an der Universität Alcalá (Spanien). Ihre Forschungsinteressen umfassen Identitätskonstruktionen, hispanische afrokaribische Literaturen, schwarze und afrokaribische Feminismen und Afro-Cyberaktivismen in der spanischsprachigen Welt.

Und wenn du erst einmal oben bist, kannst du alles sehen und fühlst ein solches Glück,
dass du dir für den Rest deines Lebens keine Sorgen mehr machen musst. - Amy Tan

Der alte Stahl hat sich wieder an die Arbeit gemacht. In seinem Garten. Vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass er leer war, kahl, und der Boden grau wie Zement. Es waren keine Pflanzen zu sehen, die sich in früheren Jahren um diese Jahreszeit schon aufgerichtet hatten, leuchtend und vielversprechend. Von meinem Fenster aus sehe ich, dass er einen Pflug in den Händen hält und ihn mit eher langsamen Bewegungen führt. Er setzt einen Fuß vor, dann den anderen. Fast neunzig Jahre ist er alt, und doch hat er so viel Vertrauen in das, was er macht. Die Weisheit von jemandem, der sein ganzes Leben lang nichts anderes getan hat als zu säen. Sein Garten, eine Parzelle von etwa 800 Quadratmetern, hatte das ganze Jahr über etwas zu bieten: Gegen Ende des Frühlings wuchsen buschige Salate, und der Garten war voll grünender Blumen. Mit der Sommersonne zeigten sich die ersten Sonnenblumen und die Pflanzen, die rote, saftig delikate Tomaten verhießen. Als mein Hund einmal in seinen Garten gelaufen war und ich mich tausendmal entschuldigt hatte, gab er mir ein Zeichen, auf ihn zu warten, und kam mit einem Butternusskürbis und einem Rübchen Rote Bete zurück.

Groß ist unser Garten ebenfalls, und Sebastian hat es sich zur Aufgabe gemacht, Gemüse, Grünzeug und neuerdings auch Blumen für mich zu pflanzen. Er spürte die bäuerliche Berufung, die die Nachbarn in unserer Straße auszeichnet. Unser Haus war, wie die anderen auch, einst ein Bauernhof, auf dem alles angebaut wurde, was man zum Überleben brauchte, und auch Tiere züchtete. Im Gegensatz zu uns sind die Nachbarn hier geboren. Eine Generation folgt der nächsten, und so leben mit dem alten Stahl und seiner Frau auch sein Sohn und seine Schwiegertochter. Auch die Enkelkinder und sicherlich auch die Urenkel werden in diesem Haus wohnen, wenn die Urgroßeltern einmal nicht mehr sind.

Die Familie Stahl verkaufte ihre Ernte früher auf den Märkten und in einigen örtlichen Supermärkten, aber angesichts des harten Wettbewerbs im Großhandel, wo immer mehr zu immer niedrigeren Preisen angeboten wird, konnten sie ihre Erzeugnisse nicht mehr verkaufen. Also beschlossen sie, nur noch für den Eigenbedarf anzubauen. Das hat er mir erzählt, als wir uns über den Zaun hinweg unterhielten. Zumindest glaubte ich, ihn zu verstehen, denn er spricht fränkischen Dialekt. Ich nicke oft mit dem Kopf und tue so, als würde ich ihn verstehen, nur um das Gespräch fortzusetzen und seiner Stimme zu lauschen, wie einem Wasserfall mit vielen Steinen. Er erzählte mir, dass die Situation schwierig geworden sei und dass sein Sohn beschlossen habe, mit der Landwirtschaft aufzuhören und die Familientradition nicht fortzusetzen. Er hingegen stand weiterhin zwischen vier und fünf Uhr morgens auf, um mit dem Tagwerk zu beginnen: die Bewässerungsanlage in Gang setzen, das Unkraut jäten, das sich frech zwischen seine geliebten Pflanzen drängte, pflügen, wenn es nötig war, und Früchte ernten, wenn er wusste, dass sie reif genug zum Verzehr waren. Er muss eine große Familie haben, die außerhalb unseres Viertels lebt, denn seine besteht nur aus sechs Personen, und ich glaube nicht, dass sie so viel Salat essen können, wie dieser Garten hervorbringt: Während er spricht, denke ich an Kopfsalat, Salat mit Marinade, Salat mit Knoblauch, Salat für Sandwiches, Salat ... Salat. Wie können sie so viel Salat essen? Gegeben hat er mir nie welchen, obwohl ich ihn gerne probiert hätte. So große, grüne und frische runde Köpfe.

Ich verabschiede mich vom alten Stahl und gehe mit meinem Hund in meinen Garten zurück. In der Mitte bleibe ich stehen und drehe mich langsam, und mit meinem ganzen Körper dreht sich mein Blick. Dies ist mein Garten. Dies ist mein Zuhause. Hier werde ich sterben, sage ich mir, und ein gewisses Zittern steigt mir von meinen Füßen bis zu den Ohren. Ich schließe die Augen und denke an meine Mutter in Cartagena. Sicherlich stand auch sie einmal mitten in unserem Garten, wiederholte meine Worte und spürte mein Beben.

***

Zwanzig Jahre zuvor war ich schon einmal in Deutschland im Urlaub gewesen. Damals erschien mir die Welt wie neu erschaffen. Eine weite Wiese von frischem, hellem Grün tat sich vor meinen Augen auf. Der Zug raste dahin, aber seine Geschwindigkeit kümmerte mich nicht, sondern nur die ausgedehnten Rapsfelder, die von Zeit zu Zeit grün und gelb entlang des Weges aufflackerten. Meine Augen wurden immer größer, als wollten sie alles in sich aufnehmen, die Farben, die Helligkeit, den Sommer. Es huschte wohl ein Lächeln über mein Gesicht. Anders konnte es nicht gewesen sein. Ich war froh, dass ich den Sprung über diese Pfütze, den großen Teich, wie wir den gewaltigen atlantischen Ozean unter Freunden nannten, gewagt hatte, um mir die Angst vor diesem Abenteuer, das vor ein paar Wochen begonnen hatte, als ich Erich kennenlernte, nicht anmerken zu lassen.

Wir hatten uns erst dreimal getroffen: Das erste Mal mittags; ich war blau gekleidet, hatte meine Haare offen und einen Stapel Klausuren zu korrigieren. Er fragte mich, wie ich heiße, was ich mache, warum der Film noch nicht angefangen habe, und ob ich mit ihm tanzen gehen würde. Ich antwortete, dass ich Camila heiße, dass ich unterrichte, dass der Film pünktlich beginnen würde, weil es im Institut sehr ernst zugeht, dass er beruhigt sein könne und wir ja tanzen gehen könnten. Aber ich bin nicht hingegangen. Das hätte das zweite Treffen sein können. Stattdessen war es in einer Salsa-Bar. Ich blickte hinüber zur Turmuhr, um zu sehen, wie spät es schon war, und wollte gerade ein paar Schritte allein tanzen, als ich ihn hereinkommen sah. Da war er, der Typ, der vor ein paar Tagen wahrscheinlich auf mich gewartet hatte. Ich versuchte, mich zwischen dem Bier und den Beats eines Liedes zu verstecken, an das ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann, aber ich konnte nicht verhindern, dass er zu mir herüberkam. Und wieder eine Verabredung, diesmal für Sonntag. Ich kam zwei Stunden später als vereinbart, mit Isabel, meiner Freundin, die mich überredet hatte, aus dem Bett zu kommen. Diesmal bist du wenigstens gekommen, war seine Begrüßung. Acht Wochen später saß ich mit ihm im Zug von Frankfurt nach Stuttgart und schaute aus dem Fenster, als wären die Welt und ich in diesem Moment erschaffen worden. Ich fühlte das Glück eines Kindes, das selbst nach ausgesprochenem Unfug seine weißen Sneaker für die Schule nicht beschmutzt hatte.

Es war das erste Mal, dass ich Cartagena verließ. Eigentlich zum zweiten Mal. Das erste Mal fuhr ich mit meinen Freunden nach Punta Arena, einer Insel, die etwa fünfzehn Minuten mit dem Boot von Cartagena entfernt liegt. Ich hatte vergessen, eine Zahnbürste einzupacken, und viele andere Dinge, weil ich es nicht gewohnt war, Koffer zu packen oder für einen Ausflug etwas mitzunehmen. Seitdem habe ich immer eine in meiner Tasche, auch wenn ich im Supermarkt einkaufe. Aber es war das erste Mal, dass ich mit dem Flugzeug gereist bin. Wenn ich daran denke, dass ich mir geschworen habe, nie wieder in ein Flugzeug zu steigen, es sei denn, es wäre absolut notwendig, wegen der Qualen und der Angst, die es in mir auslöst, wegen des zwanghaften Zitterns, das sich von meinem Adamsapfel aus ausbreitet, wegen meiner schwitzenden Hände und weil ich mich unweigerlich an den Sitz kralle, kann ich mir nicht vorstellen, wie glücklich ich bei diesem ersten Mal war.

Erich nahm mich mit in seine perfekt aufgeräumte kleine Zwei-Zimmer-Wohnung: alles an seinem Platz und von allem zu viel für meinen Geschmack und meinen Seelenfrieden. Batterien in unbekannten Spannungen, Küchenrollen, die sich im Regal stapelten, Packungen mit haltbarer Milch, Glühbirnen, Nägel und Schrauben in allen Formen und Größen. Seifen, Spülschwämme, Öl, Salz ... von allem, was es in der Wohnung gab, war noch mehr in dieser kleinen Kammer zu finden, die ich an meinem ersten Morgen in Deutschland zufällig entdeckt hatte. Ich war allein, und ich erinnere mich noch an die Angst, die mich überkam. Wie kann man alles ein bisschen mehr haben, millimetergenau geordnet nach Größe, Farbe, Gebrauch? In meinem Haus gab es nur das, was man für den Tag benötigte. Wenn man eine neue Glühbirne brauchte, ging man in den Laden, um sie zu kaufen. Wenn man keine Milch mehr hatte, ging man in den Laden. Wenn man eine Schraube brauchte, ging man zu seinem Nachbarn, der Mechaniker war. Werkzeuge kamen aus jedem Haus und blieben in einem, bis ein anderer Nachbar sie brauchte. Ich beruhigte mich dadurch, dass ich diese Reise organisiert hatte und alle meine Papiere in Ordnung waren, seine und meine. Sollte mir etwas zustoßen, würde man zumindest irgendwann herausfinden, wer meine Leiche zerstückelt und wo man sie versteckt hatte. Das Wichtigste war, dass man mich tot oder lebendig fand. An jenem ersten Morgen nach meiner verhängnisvollen Entdeckung beschloss ich, vor dem Fenster zu stehen und darauf zu warten, dass Erich von der Arbeit nach Hause kam. Ich frage mich, warum ich nicht weggelaufen bin. Es war eine Art mystische Faszination für diese neue Welt, die mich dazu brachte, dort vor dem Fenster auf meinen Tod zu warten, während ich in einen Himmel blickte, der weniger strahlend blau war als mein Himmel in Cartagena.

Passiert ist mir nichts, sonst würde ich diese Geschichte ja nicht schreiben. Es war einer der glücklichsten Sommer in meinem Leben. Beschauliche Spaziergänge durch Weinberge, Spaziergänge zum Biergarten oder „Gärten des Biers“, wie ich ins Spanische übersetze. Beim Busfahren seine Hand auf meinem Oberschenkel zu spüren, während ich schon den Impuls unterdrückte, aufzustehen und Stopp! zu schreien, den ich schon aus meinem Körper zu kommen spürte, und wie wir beide in ein Gelächter ausbrachen, das die Blicke der anderen Fahrgäste auf uns zog. Auszusteigen und die Straße zu überqueren, wenn es die Ampel anzeigte und nicht, wie ich wollte: rennend, von links nach rechts schauend und wieder seine Hand, die meine Impulse zügelte, und wieder das Lachen.

***

Ich kehrte noch ein paar Mal nach Deutschland zurück, und er kam auch nach Kolumbien. Und irgendwann dachte ich, dass ich hier auch sterben könnte oder Wurzeln schlagen – eine andere Art, auszudrücken, dass man an einem bestimmten Ort sterben auch sterben will. Bis zu jener Nacht, als wir in Dresden aus einer Diskothek kamen. Wir mussten mit der U-Bahn bis zur Endstation fahren und dann das Taxi nehmen, das er schon vorbestellt hatte. Bald würden wir wieder bei seinen Eltern sein, die wir bei dieser Gelegenheit in einer kleinen Stadt namens Pirna besucht hatten. Es war schon nach zwei Uhr morgens. In dem U-Bahn-Wagen saßen noch ein paar andere Fahrgäste. Alle trugen schwarze Mäntel, schwarze Mützen und schwarze Handschuhe. Es war Winter und sehr kalt. Plötzlich spürte ich, wie sich Schwere auf meine rechte Schulter senkte, und ich drehte meinen Kopf zum Fenster. Drei junge Männer mit kahlgeschorenen Köpfen und weiten Jacken glotzten mich an und gestikulierten dabei ununterbrochen. Sie stiegen in den Zug und sagten im Vorbeigehen Scheißneger. Sie setzten sich schräg gegenüber zu unserem Sitzplatz, damit sie mich weiter beobachten und beschimpfen konnten. Scheißneger, so erfuhr ich später und habe ich für immer gelernt, bedeutet Scheißneger. Schwarze, für mich, denke ich. Scheißnegerin. Die anderen Fahrgäste wurden langsam unruhig. Erich sah mich an und sagte mir, ich solle nicht auf sie achten, sie wollten nur provozieren, ein bisschen ärgern und sonst nichts. Ich kann mir vorstellen, dass die anderen Leute im Waggon das Gleiche dachten, denn nach und nach ließen sie uns mit ihnen allein zurück. Vielleicht mussten sie nicht bis zur Endstation fahren wie wir und schon gar nicht jetzt, wo die es immer angespannter und aufdringlicher wurde. Eine Stimme kündigte die Endstation an. Der unmissverständlichen Hinweis, den Zug zu verlassen. Die drei jungen Männer stiegen zuerst aus, dann Erich und ich. Als wir ein paar Meter weitergingen, sahen wir sie mit Stöcken in den Händen. Sie schienen auf uns zu warten. Als sie uns sahen, kamen sie auf uns zu. Erich ergriff, wie er es immer tat, wenn er mich auf etwas hinweisen wollte, meine Hand, aber diesmal hielt er sie so fest, dass es mir wehtat. Er zog sie samt meinem Körper hinter sich her, als wir zum Zug zurückrannten. Eilig stiegen wir ein, und mit dem Zugführer, der verwirrt dreinblickte, begann ein Gespräch, das sich, wie ich später erfuhr, darum drehte, dass wir aussteigen müssten, schließlich sei das die Endstation, dass nein, da draußen ein paar junge Männer mit Schlagstöcken auf uns warteten, dass er doch bitte die Polizei rufen sollte, dass er sie angerufen habe, aber sie meinten, es sei ja nichts passiert; und dann erinnerte sich Erich daran, dass er ein Taxi bestellt hatte, das weiter unten schon auf uns warten sollte. Ein weiterer Anruf, und das Taxi fuhr vor, hielt vor der Tür des Zugführers, und wir stiegen aus dem Zug. Erics Knie zitterten, wie er mir später gestand. Als der Taxifahrer hörte, was passiert war, sagte er in tadellosem Spanisch, dass er mit einer Mexikanerin verheiratet sei und dass sie seit fünfzehn Jahren in Dresden lebten und dass ihnen so etwas noch nie passiert sei. Der Gedanke, dass der Baum Wurzeln schlägt, reifte bereits in mir, als ich im Stillen beschloss, niemals in Deutschland zu leben. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich mich schon in Pirna seltsam einsam gefühlt hatte. Auf der Straße gab es niemanden, der so war wie ich, ich meine, schwarz. Anders zu sein war die meiste Zeit eine Grund gewesen, stolz zu sein. Aufrecht und selbstbewusst zu leben. Hier aber entdeckte ich nur beim Blick in den Spiegel eine andere wie mich. Wir beschlossen, sofort nach Stuttgart zurückzukehren. Zudem redeten Erich seine Freunde gerade ins Gewissen, wie er auf die Idee kommen konnte, in Ostdeutschland mit einer Schwarzen in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein. Und ich dachte, als er mir davon erzählte, fast entschuldigend und mit dem Wunsch, dass ich mich doch bei ihm verwurzeln würde, dass er das nicht hatte voraussehen können. Und ich vergaß den Baum, die Wurzeln und seine Blätter und den ganzen Blödsinn. Ich habe mir geschworen, nicht zurückzugehen. Wenn die Angst einmal eingenistet hat, weiß man nicht, wie man sie wieder loswird. Männer mit rasiertem Schädel ließen mich jedes Mal erzittern. Viele zwinkerten mir lächelnd zu, ohne zu verstehen, warum ich plötzlich erstarrte, wenn wir auf der Straße aneinander vorbeigingen. Sorry, sagten sie. Sie dachten, sie hätten mir auf dem Bürgersteig den Weg versperrt und entschuldigten sich. Ich habe nur gezittert. Zurück in der Wohnung brach es aus mir heraus wie ein Wasserfall, ungehemmt, was mich aber noch wütender machte, weil es keinen Sinn ergab.

***

Y así pasaron los días, und so vergingen die Tage, wie es in einem Lied heißt. Auch die Geschichte mit Erich verging. Es geschah eines Abends, als ich Esteban begleitete, um einen Film eines deutschen Regisseurs zu sehen: Das Akkordeon des Teufels. Esteban legte seine rechte Hand wortlos auf meine linke Hand und ließ sie dort. Ich schreckte kurz zusammen, aber ich sagte nichts, denn ich wollte dieser einfachen Geste keine weitere Bedeutung verleihen. Wir gingen schweigend zurück zum Institut und verabschiedeten uns. In meinem Kopf drehte sich alles und ich fragte mich schon, ob ich nach dem Haar in der Suppe suchen, ihm noch einmal in diese Augen schauen sollte, die mich schon viele Monate zuvor in ihren Bann gezogen hatten, noch bevor ich Erich getroffen hatte.

***

Der alte Stahl kam ins Krankenhaus. Da er nicht in seinem Garten war, nahm ich an, dass er es war, nach dem sie suchten, als ich den Krankenwagen kommen sah. Vom Wohnzimmerfenster aus, das auf die Straße geht, konnte ich nicht ausmachen, ob er es war, den sie mitgenommen haben. Unweigerlich schleicht sich eine gewisse Traurigkeit in meinen Blick, der sich nach innen richtet. Ich lasse Erinnerungen Revue passieren: die zum Abschied erhobene Hand meines Vaters, der sanfte Kuss meiner Mutter, der auf seinen Fingern ruht, der Schnee, der fällt, und ich in Stiefeln ohne die richtigen Sohlen, in denen ich auszurutschen drohe, die Eltern von Esteban voller Freude. Die Bilder kommen zurück, und ich laufe in den Garten hinaus. Es sind jetzt mehr als sechzehn Jahre in diesem Land. Ich spreche immer noch nicht die Sprache von Anne Seghers oder Julia Frank, nein, meine Sprache ist verquer. Meine Zunge ist schräg gespalten, an lichten Tagen fließt sie und an anderen so, als lernte sie erst. Meine Zunge spricht, aus vielen Wurzeln gespeist, auch mit Akzenten. Aus meinem Mund kommt umwerfendes Lachen und nie gehörte Musik. Meine Kinder hingegen schwimmen ohne Angst wie Fische im Wasser in den Sprachen und erfinden manchmal Wörter, die von ihren Welten erzählen; sie sprechen fließend, und ich weiß, dass sie wissen, dass sie hier sicher sind und hier hingehören. Während ich darüber nachdenke, sehe ich, wie ich selbst stehen bleibe, mitten in den Garten gepflanzt. Ich breite meine Arme aus wie Flügel und versuche vorsichtig, mich zu drehen, bis ich abhebe, aber aus meinen Füßen wachsen schnell kräftige Wurzeln tief in den Boden. Ein wenig Angst beschleicht mich. Ich kann nicht ins Haus zurück. Ich bin ein Apfelbaum und ein Nussbaum zugleich, und aus meinen Ohren sprießen winzige Blätter.

De fuego y tiempo: el cuento afrocolombiano contemporáneo | Verónica Peñaranda, Yaír André Cuenú, Uriel Cassiani | El Cuarto plegable | 224 Seiten | 65.000 COP | Titelbild Pelucas Porteadores: Liliana Angulo Cortés


Über die Geschichte

Veröffentlicht in: De fuego y tiempo: el cuento afrocolombiano contemporáneo (Lugar Común Editorial, 2023). Herausgeber*innen: Verónica Peñaranda Angulo, Uriel Cassiani und Yaír André Cuenú M.

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Diese Anthologie besteht aus 24 Geschichten von acht Autoren sowie dem Titelbild, das integrativer Bestandteil der Zusammenstellung ist und das Werk der bildenden Künstlerin Liliana Angulo Cortés. Die zweiteilige Struktur, „De fuego“ („Vom Feuer“) und „De tiempo“ („Von der Zeit“), spielt auf das Bild der Erfindung der fiktiven Zeit an, als sich die Vorfahren der gesamten Menschheit in Höhlen am Feuer Geschichten erzählten. Die Zusammenstellung ist sehr vielfältig, was Alter, Themen, Sprache, Stil und Berufe angeht. Die Klassifizierung ist eher dem Zeitpunkt der Veröffentlichung geschuldet als anderen Variablen. Was die Anordnung im Buch betrifft, so werden, soweit möglich, nacheinander ein Autor und eine Autorin genannt. Bei „De fuego“ haben wir uns für eine konventionelle Gliederung entschieden, beginnend mit einem der Pioniere; bei „De tiempo" überließen wir die Ordnung dem Zufall.

Der Name des ersten Teils ist, wie bereits erläutert, eine Hommage an das Bild des Feuers und das Motiv der ersten Erzählungen. Insgesamt sind es acht Erzählungen, fünf veröffentlichte und drei unveröffentlichte, von inspirierenden und/oder bereits zum Kanon zählende Vertreter*innen dieses Genres: Carlos Arturo Truque, Sonia Nadhezda Truque, Alfredo Vanín, Amalia Lú Posso, Pedro Walther Ararat (posthume Hommage) und Adelaida Fernández Ochoa. Im zweiten Teil, „De tiempo“, finden wir eine Reihe unveröffentlichter Geschichten aus verschiedenen Teilen des Landes und der Welt. So vielfältig wie die Wahrnehmungen der Zeit sind auch diese Geschichten aus vielerlei Welten: Estercilia Simanca Pushaina, Uriel Cassiani, Giussepe Ramirez, Rubén D. Álvarez Pacheco, Trilce Ortiz, Juan Sebastián Mina, Hernán Grey Zapateiro, María Ignacia Schulz, Yaír André Cuenú Mosquera, Luis Mallarino, Isabella Sánchez Victoria, Sedney Suárez Gordon, Robinson de Jesús Quintero und Ana Yuli Mosquera.

Die hier vorgestellten Erzählungen fesseln auf Anhieb mit Sehnsucht, der Allgegenwärtigkeit des Todes, der Ehrfurcht vor der Liebe, dem Neuanfang im Leben, den mündlichen Überlieferungen, dem Räume und Identitäten öffnenden Motor Musik, der Opazität des menschlichen Daseins, der Feier des Verborgenen.

(Dieser Text stammt aus der Einleitung zum spanischsprachigen Buch.)