The Scramble for Africa – Aber was passierte im Jahrhundert davor?

Princeton U. PressRichard Reid | The African Revolution: A History of the Long Nineteenth Century | Princeton University Press | 432 Seiten | 35 USD
Die ersten europäischen Kontakte mit Afrika über den Seeweg ab dem 15. Jahrhundert sind gut beschrieben. Der transatlantische Sklavenhandel von fast allen Seiten ausgeleuchtet. Aber was passierte in Afrika im Jahrhundert vor der europäischen Eroberung? Der europäische Zugriff erfolgte nicht aus dem Nichts. Die europäische technische Überlegenheit, der medizinische Schutz gegen die Malaria und eine wachsende europäische Bevölkerung machten die Eroberung Afrikas unausweichlich. Richard Reid zeigt zu Beginn seines Buches die Karte eines afrikanischen Kontinents, der von allen Seiten von 18 europäischen militärischen Armeen attackiert wird. Allein Äthiopien konnte sich, neben der Neugründung Liberia, diesem massiven Zugriff entziehen und seine Selbständigkeit behaupten. Die europäischen Mächte teilten sich Afrika auf der Berliner Konferenz von 1884/85 untereinander auf. Ab 1890 ging alles sehr schnell.
Handelsbeziehungen zwischen den beiden Kontinenten waren schon seit Jahrhunderten fest etabliert. Europäer kauften Sklaven und Elfenbein, Afrikaner bezogen im Austausch moderne Waffen. Wer diese besaß, konnte sich ein Herrschaftsgebiet erobern. Voraussetzung: Er musste weiter Menschen als Sklaven verkaufen, um seine militärtechnische Überlegenheit bewahren zu können. Deshalb entstanden entlang der Handelswege neue Herrschaftsformen. Oft sicherten Sklavenhändler ihren eigenen Nachschub und schufen sich mit der Zeit eine feste territoriale Basis, die jedoch immer von anderen Händlern in Frage gestellt werden konnte. Es kam allein auf die überlegene Feuergewalt an, nicht auf angestammte Herrschaftslinien. Das ist im Kern die Afrikanische Revolution des 19. Jahrhunderts. Fast überall konnten Warlords Reiche errichten, die aber in der Regel mit dem Tod des Anführers wieder zerfielen. Man könnte auch von einer Mafia an der Macht sprechen. Der zentrale, der prägende Begriff dieser Zeit: Gewalt!
Dennoch findet der Autor immer wieder sehr positiv besetzte Begriffe für die Zeit zwischen 1800 und 1890. Von Sich-selbst-neu erfinden (reinvention), von ökonomischer Transformation und sozialen Aufstiegsvisionen, von Gewalt und Geschichtsbewusstsein ist die Rede. Afrika ist für Richard Reid vor allem eines: in Bewegung! Der europäische Handel zwingt den Kontinent auf die Weltbühne. Und Afrika sagt nicht nein, sondern ergreift, was im Rahmen des Möglichen liegt. Der Handel, der sich zuerst entlang der Küsten entwickelt hat, greift im 19. Jahrhundert immer stärker ins Innere ein. Was die Europäer anzubieten haben, ist attraktiv. An erster Stelle stehen Feuerwaffen. Geliefert werden im Austausch Menschen. Sklaverei hat in Afrika eine lange Tradition. Kämpfe zwischen den Völkern und Stämmen auch. Die große Vielfalt der afrikanischen Völker begünstigt diesen Tauschhandel. Wer nicht mitmacht, hat verloren.
In Ostafrika, ausgehend von in Sansibar ansässigen Arabern, bildeten sich Handelsimperien. Das bekannteste wurde von Tippo Tip errichtet. Er baute das 1860 als Handelsdepot gegründete Nyangwe im heutigen Kongo nach 1870 zum größten Sklavenumschlagplatz in Zentralafrika aus. Dieser Sklavenhandel belieferte die arabisch-muslimische Welt. Der Handel mit Amerika war zu dieser Zeit schon zum Stillstand gekommen. Die Ächtung des transatlantischen Sklavenhandels entzog vielen Gewaltherrschern auf Dauer die Existenzgrundlage. Ohne Sklavenhandel war der Waffenkauf nicht mehr bezahlbar. Der große Einstieg in die Verwertung der afrikanischen Rohstoffe erfolgte erst nach der Besitznahme des Kontinents durch die Europäer.
Richard Reid teilt Afrika seit 1800 in drei große Epochen: präkolonial (- 1890), kolonial (1900 - 1960), postkolonial (1960 – 2020 ?). Er betont, dass die europäische Eroberung in vielen Fällen auf den großen Veränderungen seit 1800 auf gebaut hätten. Er bezieht das ausdrücklich auch auf einen Teil der kolonialen Grenzziehungen. Afrikanische Herrscher konnten sich zum Teil in die Zusammenarbeit mit den Eroberern retten, bei Widerstand wurden sie jedoch unterworfen und getötet. Sein Kernanliegen ist es darzustellen, dass Afrika vor der europäischen Unterwerfung keine Terra inkognita war, kein Raum, der einfach nur, abgeschnitten von der Welt bis auf einen kleinen Küstenstrich, unberührt vor sich hinlebte. Das Gegenteil war der Fall. Der Umsturz der alten afrikanischen Welt war bereits in vollem Gange und wurde von den Afrikanern selbst in die Hand genommen. Am Ende war der technische Vorsprung der Europäer allerdings so groß, dass sich ihm niemand entziehen konnte. Eine eigenständige afrikanische Entwicklung wurde brutal abgewürgt. Selbstbehauptung war nur zeitweise und nur unter größten Opfern möglich. Der einmalige militärische Sieg des Mahdi über die Engländer war nur möglich geworden, weil dieser „den Sudan“ leerverkauft hatte. Nur so konnte er seine Waffenkäufe finanzieren. Das schreibt Joseph Ki-Zerbo in seinem Buch „Die Geschichte Schwarz-Afrikas“ („Histoire de l’Afrique Noire“, erschienen 1978 bei Librairie Hatier und 1979 auf Deutsch im Peter Hammer Verlag). Für diesen Träger des Alternativen Nobelpreises möchte ich hier eine Lanze brechen. Er ist, meines Wissens nach, der erste Afrikaner, der eine vollständige Geschichte seines Kontinents und seiner Völker geschrieben hat.
Richard Reid schließt mit seinem Buch eine Lücke. Afrika war nie ein aus der Geschichte ausgeschlossener Kontinent, wie es die Europäer gerne behaupteten. Für das 18. Jahrhundert kann er dies eindrucksvoll belegen. Ein kleines Minus gibt es dennoch. Richard Reid schreibt sehr oft in einer Art Metasprache. Er spricht, einordnend, viel stärker abstrakt als konkret über das, was passiert ist. Mehr Fakten hätten dem Buch meiner Meinung nach gut getan. Dass der Autor über sie verfügt, daran gibt es keinen Zweifel.