Offenes Meer

Edition TincatincaLuna Sicat Cleto | Offenes Meer – Gedichte | Edition Tincatinca | 96 Seiten | 28 CHF
Zwischen Diktatur und Wechseljahren
Bodenständig, zeitgenössisch und auf Augenhöhe begegnen uns die Gedichte der philippinischen Autorin Luna Sicat Cleto, unprätentiös und zugänglich. Manche scheinen so nah und nachvollziehbar, dass sie auch am Nachbar-Schreibtisch unserer eigenen Redaktion oder Universität hätten entstehen können – wenn nicht der ein oder andere Waran auftauchte. Dann handeln sie an der Oberfläche von Alltäglichem: vom Essenkochen und dem schmutzigen Geschirr in der Spüle; dem Warten auf die Hausangestellte, die im Stau steht – «Wie schreibt eine Mutter Gedichte? Indem sie raubt, ist die Antwort» – ; vom Joggen und Träumen, Natur, Familie und Arbeitskollegen, von im Zug verlorenen, minderwertigen Schirmen, die nichts taugen zum Schutz gegen tropische Regengüsse – «Da stehst du blöd und tropfst»; vom Verlust, wenn ein Brand sämtliche Büros und damit auch die privaten Bücher einer ganzen Universitätsabteilung vernichtet.
Fremdes Land, unbekannte Sprache
Auf einer anderen Ebene spiegeln Sicats leicht zugängliche Gedichte auch 30 Jahre Zeitgeschichte − und die Folgen von insgesamt mehr als 400 Jahren Kolonisationsgeschichte − dieses fernen, tropischen Landes, von dem wir in Westeuropa − seien wir ehrlich − gemeinhin wenig wissen und das wir nicht einmal unbedingt spontan als einstmals kolonisiertes Land konnotieren. Der Schweizer Übersetzerin (und Schriftstellerin) Annette Hug verdanken wir nicht nur die Publikation selbst, sondern auch ein überaus informatives Nachwort und etliche Anmerkungen im Text, die kulturelle Anspielungen für Nicht-Philippiner:innen erst verständlich machen, von Kriegsrecht, Folter, Hinrichtungen und Bücherverbrennungen über Staatsarchitektur bis hin zur Hinrichtung einer philippinischen Nanny, die zur Mörderin wurde (Flor Contemplacion, Singapur 1995).
Annette Hug («Wilhelm Tell in Manila») ist hier in ungewöhnlich starkem Ausmaß als sprachliche und kulturelle Vermittlerin beteiligt und bietet den deutschsprachigen Leser:innen einen ansprechenden Einblick in eine faszinierend anders funktionierende Sprache. Letzteres kongenial unterstrichen durch die Aufmachung des Bändchens im Querformat, wodurch alle Gedichte in beiden Sprachen nebeneinander stehen können: Die sehr gelungene, kühl-moderne Gestaltung mit eleganten Schriften und chicer Schweizer Broschur mit offener Fadenheftung stammt von den Schweizer Designer:innen der Agentur Pool Practice in Berlin.
Die Kolonialisierung der Sprache überwinden
Kaum zu glauben, dass mit diesen knapp 100 Seiten (nach derzeitigem Wissensstand) zum ersten Mal eine umfassende literarische Direkt-Übersetzung aus dem Philippinischen (Tagalog) ins Deutsche erscheint, ohne Umweg über das Englische (oder in früheren Jahrhunderten das Spanische). Auch darum bildet dieses elegante Lyrikbändchen den perfekten Einstieg, sich mit dem Schwerpunktland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse auseinanderzusetzen.
Bezeichnenderweise wurden die berühmten Werke des philippinischen Nationalhelden und -dichters José Rizal auf Spanisch geschrieben, und heutzutage herrscht allein schon aus pragmatischen Gründen das Englische der zweiten ehemaligen Kolonialmacht USA vor. Endemische Sprachen gibt es zwischen 120 und fast 200 (je nachdem, welche Definition von Sprache oder Dialekt man anwendet), so dass das Englische seit der amerikanischen Besatzung (gezwungenermaßen) auch nach der Unabhängigkeit ab 1946 als Behörden-, Schul- und Bildungssprache dient. Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist es also auch ein kulturelles und politisches Statement, wenn die Autorin, die in Manila philippinische Literatur und kreatives Schreiben lehrt, Tagalog schreibt und die deutschsprachige Übersetzung zweisprachig publiziert wird.
Bereits Sicats Vater Rogelio Sicat (ebenfalls Schriftsteller, wie auch ihre Mutter Ellen Sicat) habe dem Filipino beziehungsweise Tagalog (der Sprache Manilas, von der Filipino sich ableitet) große Bedeutung beigemessen, sagte Sicat Cleto (Jahrgang 1967) bei einer Lesung in Zürich. Umgekehrt bewirkt das Schreiben in Tagalog natürlich auch, dass Cleto weit weniger international les-, versteh- und übersetzbar ist, als sie es wäre, wenn sie Englisch schreiben würde, wie es etwa zwei Drittel ihrer Landsleute tun. Ihre Entscheidung kann man daher als wichtige Geste gegenüber ihren Landsleuten verstehen. Dass wiederum eine von den ganz wenigen kompetenten Tagalog-Übersetzinnen für eine deutsche Übersetzung gesorgt hat, wurde deshalb im Deutschlandfunk von Katharina Borchardt bereits als «großer Moment für die deutsche Übersetzungsgeschichte» gefeiert.
«Ein Gedicht zu schreiben», sagt der palästinensische Dichter Mosab Abu Toha, «ist ein Akt des Widerstands gegen das Vergessen. Nicht nur das Vergessen der Geschichte oder Erfahrung, sondern auch des Gefühls, das diese Erfahrung auslöste.» In diesem Sinne kann man diese kleine, niederschwellige Gedichtsammlung als einen Versuch betrachten, ein bereits geschehenes, aufgezwungenes kulturelles Vergessen rückgängig zu machen.
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Meine Kirche bewohnt den Wald auf offenem Meer
Eine Aussicht, die du nur im Tiefschlaf siehst und hellwach.
Einen Fuß nach dem anderen komme ich an, manchmal nackt
und ich fürchte mich nicht davor, durchsichtig zu werden.
Dort gelten die Verneigungen nichts, die Opfergaben.
Kein Weizen wird genommen. Schon lange aufgebraucht
sind die Weinberge und die Menschen des Orts.
Kein Urteil mehr, wenn du so rein bist
wie die Quelle, wie damals, als du wusstest, dass man
verdreckt sein muss. Keine Beichten mehr
von Diebstahl, Unzucht, Mord.
Er weiß alles. Dort im Wald auf offenem Meer
sind Augen verstreut, aber ihre Blicke schneiden nicht.
Sprudelnde Strudel sind sie, komm her, komm.
Ich habe dich gesehen, ja, aber ich habe dich nicht gesehen.
Ich habe dich gesehen, ja, aber ich weiß, dass ich das wahre
Du erst noch sehen werde.
Ich habe dich gesehen, ja, aber ich nehme deine Erblindung an.
Ich habe dich gesehen, ja, und du bist bereit, das Licht aufzunehmen.
Dort im Waldgebiet auf offenem Meer, weiß ich
dass wir Himmlisches sehen werden. Himmelgleiches
ein bisschen Wange des Schöpfers.
Da werden wir zusammen essen.
Da werden wir zusammen hausen.
Das ist unsere Gabe.
Und das sind wir.
– – –
Ang aking simbahan ay arboreal sa gitna ng laot
Isang tanawing makikita mo lang kapag himbing at mulat.
Dumarating akong nakayapak, kung minsa’y hubad
at hindi natatakot na maging bubog.
Doon, hindi na mahalaga ang mga yukod, alay.
Wala nang kukuning trigo. Matagal nang ubos
ang mga ubasan at tao sa bayan.
Wala nang husga kung ikaw ay singlinis
ng batis na dati mo nang alam na kailangang
maputikan. Wala nang pag-aamin sa mga kasalanang
mula sa pagnanakaw, pakikiapid, pagpatay.
Batid niya lahat. Doon sa arboreal sa laot,
nagkalat ang mga mata, pero hindi na iyon mga patalim.
Sila’y mga balong bumabalong, halika, halika.
Nakita kita, oo, pero hindi kita nakita.
Nakita kita, oo, pero alam kong ang tunay
na ikaw ay makikita.
Nakita kita, oo, pero tanggap ko ang iyong pagkabulag.
Nakita kita, oo, at handa kang matanggap ang liwanag.
Doon sa arboreal sa laot, alam kong
Natatanaw namin ang langit. Isang wangis lamang.
Piraso ng pisngi ng Lumikha.
Ito ang aming pinagsasaluhan.
Ito ang aming isinasabuhay.
Ito ang aming alay.
At ito rin kami.
(Luna Sicat Cleto, Offenes Meer – Gedichte, Edition Tincatinca, Seite 82 / 83)