Die Zeit nach der Zeit

HanserColm Tóibín | Vinegar Hill | Gedichte, aus dem Englischen von Michael Krüger und Volker Schlöndorff | Edition Lyrik Kabinett bei Hanser | 128 Seiten | 24 EUR
„Dann Rückzug hinter Hecken […]./ Bis zum letzten Konklave auf dem Vinegar Hill.“ Mit seinem „Requiem für die Croppies“, dem die Verse entnommen sind, hat der gebürtige Nordire und spätere Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney den 50. Jahrestag des Osteraufstands gegen die britische Herrschaft von 1916 begangen – der wurde trotz seiner Niederschlagung zum Wendepunkt auf dem Weg zur Unabhängigkeit Irlands 1922. Heaney zog damit eine Parallele vom Osteraufstand zur irischen Rebellion von 1798, als die Croppies, so der Spitzname der United-Irishmen-Rebellen, in der Schlacht von Vinegar Hill der englischen Krone unterlagen, nachdem sie das nahegelegene Enniscorthy erobert hatten. Und er verdichtete dabei den Unabhängigkeitskampf und den entsprechenden Konfessionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten zum religiös konnotierten Bild vom letzten Konklave. Dass er sich dazu häufig hat erklären müssen, liegt nicht nur an seiner Romantisierung der Rebellion, sondern auch an einer offenen Andeutung: Die Croppies seines „Requiems“ treten ihren Rückzug auf den Vinegar Hill mit Gerste in ihren Taschen an, die dann aus der Erde des Hügels wächst, wo sie besiegt wurden und begraben liegen. Das hätte von einem protestantischen Publikum, vor dem Heaney in den Sechzigerjahren bisweilen las, als Rückendeckung der IRA interpretiert werden können.
In die Reihe der Iren und Nordiren, deren Literatur die Freiheitsbewegung auf der grünen Insel thematisiert, gehört auch der für seine Prosa weltbekannte Colm Tóibín, der mit Vinegar Hill ein Alterswerk in Form eines Lyrikdebüts vorgelegt hat. Doch sein Anlass, den geschichtsträchtigen Hügel zu besingen, ist von profaner Natur. Tóibín wurde 1955 am Ort des Geschehens, in Enniscorthy geboren – die Stadt liegt im Südosten Irlands und gehört zum County Wexford, das an die Irische See grenzt. Als Kind hatte er die Anhöhe stets vor Augen: „Von unserem Haus aus können wir den Hügel sehen“, heißt im Kindheitsgedicht „Vinegar Hill“, in dem die Ereignisse von 1798 pflichtschuldig genannt werden, in dem es aber mehr um die Mutter als angehende Malerin geht: „weil sie es ganz natürlich fand,/ den Hügel als Motiv zu nehmen,/ versuchte sie ihn zu malen“. Das ist ein banaler Grund, sich des Hügels anzunehmen, und entledigt ihn der Geschichtslast. In seiner Zeitlosigkeit steht er erhaben über der Historie. Allein die Wahrnehmung des Hügels von außen ändert sich, unterliegt sie doch den Wechselverhältnissen von Schatten und Licht und der Ab- oder der Anwesenheit von Wolken: „Welche Farbe hat Vinegar Hill?/ Wie erhebt er sich über der Stadt?/ Er ist sowohl bucklig als auch rund./ Es gibt keinen Grund, die Geschichte// zu bemühen. Der Hügel steht darüber,/ widerständig, unergründlich, heiter.“
Widerständig, unergründlich, heiter, das sind Attribute des Bandes, die sich an unterschiedlichen Themen zeigen. Die Welt, aus der sie geschöpft werden, ist postkatastrophisch: Die irische Frage ist zumindest teilweise gelöst und ruht. Sie ist postapokalyptisch: Die Pandemie ist „die Zeit nach der Zeit,/ die Welt sieht hier so aus wie nach dem Ende der Welt“. Und selbst ein Tag wie der 23. Mai 2015, an dem sich die irische Bevölkerung für die gleichgeschlechtliche Ehe entscheidet, macht den zwei bald sechzigjährigen schwulen Freunden deutlich, dass die vitalisierende Widerstandskraft des Schwulseins Geschichte ist: „Die aufregenden Jahre waren vorbei.“ Sie, und vielleicht auch Tóibín, der offen schwul lebt, können in die Euphorie der jungen Queeren nicht einstimmen, spüren die Scham des Älterseins und verfallen der Nostalgie der „schwulen Vergangenheit“, der sie eine minutiöse Kartographierung Dublins anhand alter Szenetreffs folgen lassen, „die von der Landkarte verschwunden sind“: „Der Stadtplan,/ den allein sie lesen konnten,/ war nicht mehr gültig.“
Und so liest sich eine Reihe von Gedichten wie eine Meditation in gedrückter Stimmung über den Sinn des Lebens und das Vergehen des Einzelnen in der Zeit. Sie kann sich auf Reisen rund um den Globus entzünden, in der Konfrontation mit Film, Kunst, Literatur und Musik, an Dublins „toten Kinos“ oder an alltäglichen Begebenheiten wie bei einem Besichtigungstermin im Beisein eines Maklers, wenn sich die Zeit in ein Vorher und ein Nachher teilt: „Leben und Zeit, die wahren Makler, wollen uns eintrichtern,/ dass alles Wechsel ist, Bewegung“.
Die lyrischen Subjekte sind wie der dreifach gebeutelte Gerard Manley Hopkins, „ein Engländer in Irland,/ ein Konvertit zur Römischen Kirche, ein Dichter ohne Buch“, der auf die Frage des irischen Malers John Butler Yeats, was denn Leben sei, mit dem antwortet, was das Leben gerade nicht sei. Eine Frage, die sich dem Menschen mit Todesbewusstsein besonders akut stellt. In Tóibíns offensichtlich autobiografischen Gedichten taucht ein achtjähriges Schulkind auf, dem seine Mutter mitteilt, dass der Vater bald sterben werde: „Seitdem habe ich nicht mehr viel Vertrauen/ in irgendwas. Wenn ich mir z. B. die Namen derer,/ die ich liebe, ins Gedächtnis rufe, scheue ich mich,/ das zu flüstern, was ungesagt blieb.“ Ein Todesbewusstsein, das sich erst recht einstellt angesichts der eigenen Sterblichkeit: „Wenn die Chemo/ den Tumor killt/ und mich nicht“. Tóibín spielt auf die eigene Krebserkrankung in der Pandemie an, und zwar in einem eher heiteren Gedicht, das eine Einsicht veranschaulicht, die er in einem Interview von 2022 äußerte: „Ich gebe gerne zu, dass ich nichts dabei gelernt habe und dass etwas ganz und gar nicht stimmt, wenn du erst durch den Krebs lernen musst, das Leben zu schätzen.“
Doch es nicht so, als würde Tóibín nur Trübsal blasen. Der Spott, der sich in seinen Gedichten über den Katholizismus ergießt, ist voller Komik und Angriffslust, fast schon blasphemisch. Es betrifft Nonnen, denen endlich das Autorfahren erlaubt ist und die in ihrer Unbedarftheit „die Gottesfurcht auf andere/ Verkehrsteilnehmer“ übertragen. Ebenso wie den Bischof, der einen Tag vor dem Besuch von John F. Kennedy in Wexford gestorben sein soll, was zu wilden Spekulationen und Vergleichen animiert.
Der einzige Wermutstropfen der Übersetzung: Sie hat nicht alle Texte des Originalbandes berücksichtigt und so auch das Gedicht „Gebet an die Heilige Agnes“ ausgespart, das insofern unverzichtbar ist, als es Aufschluss über die Poetologie Tóibíns gibt: Das lyrische Subjekt bittet dort die Heilige darum, von der Metapher geheilt zu werden. Damit optiert Tóibín für einen schlichten poetischen Ausdruck, der sich in seiner Aussage ohne Weiteres erschließen soll. Er ist ganz der Erzähler, der den narrativen und auch dialogischen Charakter seiner Prosa auf die Lyrik überträgt, die aus einer schlanken Konstellation von Figuren und Ereignissen hervorgeht.
Tóibín nach der 2022 erschienenen englischen Originalausgabe nun auch auf Deutsch zu vermitteln, sei ihre Art gewesen, so die Übersetzer Michael Krüger und Volker Schlöndorff, ihm einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Es ist auch ein Dienst am leidenschaftlichen Lyrikleser, der darüber begeistert ist, wie hier Identität und Zugehörigkeit, Privates und Öffentliches, Sterblichkeit und Resilienz, Kunst und Literatur den Menschen in seiner ganzen Komplexität schillern lassen.