Hiroshima in drei Schreibweisen
BaobabShaw Kuzki | Die weiße Laterne | Baobab Verlag | 136 Seiten | 22 EUR
„Das Mädchen auf dem Foto
neben dem im Krieg gefallenen Jungen
wird eines Tages Mutter sein.“ – Shaw Kuzki
Mit diesen drei Zeilen – einem Tanka, knapp, konzentriert, von beinahe schneidender Sanftheit – öffnet sich mitten in Shaw Kuzkis Die Weiße Laterne ein Resonanzraum, der den Ton der gesamten Erzählung kristallisiert. Das Tanka, eine über 1300 Jahre alte japanische Kurzgedichtform aus 31 Silben (oder Moren), hält einen Augenblick fest: präzise, musikalisch, ohne Ausschmückung. Genau so arbeitet auch Shaw Kuzki. Sie legt Momente frei, die sonst hinter Ritualen und überlieferten Gesten verschwinden würden – und bringt sie zum Klingen.
Kuzkis Buch, 2025 – also 80 Jahre nach dem Atombombenabwurf – bei Baobab Books auf Deutsch erschienen und von Sabine Mangold sensibel übersetzt (die englische Ausgabe erschien bereits 2021, das preisgekrönte japanische Original 2013), führt in das heutige Hiroshima, eine Stadt, die in Japan auf drei Arten geschrieben wird: 廣島 für die Stadt vor der Bombe, ヒロシマ für die zerstörte, und 広島 für die wiederaufgebaute. Drei Schriftbilder, drei Zeiten – und doch ein einziger Riss, der bis in die Gegenwart der Nachgeborenen reicht.
Nozomi, zwölf Jahre alt, lebt in diesem Spannungsfeld, ohne es zunächst benennen zu können. Die jährliche Zeremonie am 6. August, die Glocke im Friedenspark um 08:15 Uhr, die Laternen auf dem Fluss: All das ist ihr vertraut, fast selbstverständlich. Erst ein Schulprojekt, das Überlebenden des Atombombenabwurfs eine Stimme gibt, lässt in ihr und ihren Freund*innen eine Unruhe entstehen. Was geschah damals wirklich? Und was bedeutet es für jene, die erst Jahrzehnte später geboren wurden?
Kuzki entfaltet diese Fragen ohne Pathos, in einer zurückhaltenden, klaren Sprache, die gerade durch ihre Feinheit erschüttert. Die Gespräche der Jugendlichen mit Großeltern, Nachbarn, Verwandten öffnen Türen zu Geschichten, die lange verschlossen waren. Und langsam begreifen sie, dass Erinnerung kein museales Objekt ist, sondern ein lebendiges, manchmal schmerzhaftes Geflecht, das ihre Gegenwart durchzieht.
Beeindruckend ist die Balance, die die Autorin findet: zwischen historischem Schrecken und einem Alltag, der von Schulhofgesprächen, Unsicherheiten und kleinen Freuden geprägt ist; zwischen der Last einer Stadt, die zur Chiffre globaler Zerstörung wurde, und dem leisen Wunsch junger Menschen, zu begreifen, wer sie in diesem Schatten sind. Die eingestreuten Tanka-Gedichte verstärken diesen Eindruck – sie wirken wie Atempausen, in denen sich die Erzählung selbst sammelt.
Gerade heute, in einer Welt, in der geopolitische Spannungen erneut aufflammen und Atomarsenale modernisiert werden, wirkt dieses Jugendbuch wie ein dringendes Gegenflimmern. Während Filme wie Kathryn Bigelows A House of Dynamite zeigen, wie nah die Gegenwart wieder am Abgrund steht, richtet Kuzki den Blick auf das Danach: auf das, was bleibt, wenn das Unfassbare einmal geschehen ist. Und auf jene, die es nicht erlebt haben und doch seine Erben sind.
Im Zentrum steht schließlich Nozomis Entdeckung der weißen Laterne ihrer Mutter – ein Symbol, das erst spät seine Schwere offenbart. Es ist einer dieser leisen, tiefen Momente, in denen das Buch seine ganze Kraft zeigt: nichts erklären wollen, sondern verstehen lassen. Und genau dadurch jungen Leser*innen zutrauen, mit den dunkelsten Kapiteln der Geschichte verantwortungsvoll umzugehen.
Die weiße Laterne ist ein stilles, eindringliches, poetisches, klug komponiertes Jugendbuch, das lange nachhallt – wie das Gleiten einer Laterne über stilles Wasser. Ein Plädoyer gegen das Vergessen und ein Beweis dafür, dass Literatur für junge Menschen weder vereinfachen noch beschönigen muss, um zutiefst zu berühren.
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