Riskante Freiheiten

Liebe
So wie das ganz normale Leben ist es auch um Dag Johan Haugerud und seine Trilogie bestellt. Ganz einfach und doch ganz schön kompliziert. Denn Liebe; der als erster Film der Trilogie gerade international in den Kinos ausgewertet wird, hatte Ende 2024 eigentlich als letzter Teil in Norwegen seine Erstaufführung. Aber andrerseits ist es nicht so wie bei Haugeruds Landsmann Karl Ove Knausgård, dessen fünf Romane unter dem Übertitel Min Kamp ganz ähnliche Untertitel wir Haugeruds Filme haben, auch einen, der Liebe heißt. Doch erzählen Knausgårds autofiktionale Bücher zwar ganz ähnlich die verschlungenen Wege, die Lieben und Leben in unserer Zeit gehen können, so baut jedes Buch doch auf dem anderen auf.
NordiskOslo Stories: Liebe | 2024 | NOR | 119 Min.
Bei Haugeruds Oslo-Trilogie ist das nicht so. Jeder Film erzählt eine eigene Geschichte mit neuen Darstellern. Nur eine Person, wenn man sie als Person bezeichnen will, taucht immer wieder auf, die Stadt Oslo. Hier überschneiden sich die Wege der Protagonisten, und vor allem vor einem Gebäude landen sie irgendwann alle, dem Osloer Rathaus mit seinen eigenwilligen, fluide Beziehungen versprechenden Skulpturen.
Ganz im Zentrum steht dieses Rathaus in Liebe. Hier trifft Marianne (Andrea Bræin Hovig) ihre Freundin Heidi (Marte Engebrigtsen), die gerade eine Führung durch das Rathaus gibt und die fluiden Sexualitäten der Skulpturen erklärt und damit auch so etwas wie das norwegische Verständnis vom Menschsein. Diese theoretische Anlage wird im Laufe des Film von Marianne gewissermaßen in die Tat umgesetzt. Sie arbeitet als Ärztin auf einer onkologischen Station und berät an Prostatakrebs erkrankte Männer. So wie der Krankenpfleger Tor (Tayo Cittadella Jacobsen), der sie bei den Beratungen unterstützt, hat sie kein Interesse an statischen Beziehungen, sondern liebt wie Tor die fluiden Momente des Lebens, ihr fehlen nur die Werkzeuge, diese Momente auch in ihre Leben zu holen. Durch einen Zufall trifft sie Tor in einem ganz anderen Kontext und lernt von ihm, was ihr bislang verschlossen bliebt, gleichzeitig reflektiert sie jeden Schritt, den sie tut, in langen Gesprächen nicht mir Tor, sondern auch den Partnern auf die sie trifft.
Neben Mariannes Begegnungen, in denen sie unter anderem deutlich macht, dass die Ehe als Produktionseinheit für sie nicht in Frage kommt, fokussiert Haugerud, der bislang vor allem durch sein belletristisches Werk in Norwegen und seinen Film Barn (2019) außerhalb Norwegens bekannt wurde und auch als Bibliothekar gearbeitet hat, fokussiert Haugerud genauso intensiv auf Tors Beziehungsleben, seine Homosexualität, die nicht nur die Patienten von Marianne besser versteht, sondern der auch andere Freunde hat und sucht und letztendlich auch einer anderen Gesellschaftsschicht und einer Region in Norwegen entstammt, über dessen Dialekt sich normalerweise jeder lustig macht.
Haugerud verzwirbelt diese beiden Lebenslinien mit all ihren aufregenden Abzweigungen in großartige Dialoge, die wie auch in den anderen Filmen der Trilogie länger als zehn Minuten dauern, sich dabei aber so wirklich anfühlen, dass man nicht aufhören möchte ihnen zuzuhören, vor allem aber auch zuzusehen. Denn Haugeruds Ensemble ist bis in die kleinste Nebenrolle delikat aufgestellt, jeder spielt hier, als spiele er um sein Leben, mindestens aber um seine Liebe, wie immer die auch aussieht.
Dabei gelingt es Haugerud, Momente von großer und überraschender Zärtlichkeit zu bannen, der Moment etwa, als Marianne den Architekten Ole (Thomas Gullestad), mit dem sie durch ihre Freundin Heidi verkuppelt werden soll, beim Einsteigen durch das Fenster seines Hauses an dessen Po tätschelt, oder wie Tor Bjørn (Lars Jacob Holm) auf dem Weg vom Krankenhaus mit dem Rad überholt und versucht mit ihm zu reden.
Und dann die Worte, die Zärtlichkeit der Sprache, die Verfertigung der Erkenntnisse durch das Reden, so wie in Heinrich von Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden aus dem Jahr 1805, das in all-täglichste Tiefen gleiten wie etwa bei dem steigenden Druck der Erwartungshaltung durch einen weit entfernten Briefkasten oder dem Gespräch bei einem frugalen Abendbrot in Oles Haus auf Nesodden. Jedes Gespräch führt zu Erkenntnissen, die so leicht wie schwer sind. Denn was zählt, ist nicht immer, worüber gesprochen wird, sondern dass überhaupt jeder mit jedem zu reden imstande ist. Erst dadurch verändert sich auch die Realität für jeden, so dass das Ende nur folgerichtig auch wieder im Osloer Rathaus spielt, wo Liebe seinen Anfang nahm. Doch natürlich ist auch das kein Ende, sondern vielmehr die Andeutung eines neuen Anfangs.
Träume
Immerhin stimmt bei Träume alles mit der Chronologie. Träume ist tatsächlich der von Dag Johan Haugerud vorgesehene zweite Teil seiner Oslo-Trilogie. Ob davor und danach nun Liebe oder halt Sex kommt, scheint die Verleiher außerhalb Norwegens nicht zu kümmern, auch wenn Haugerud noch so sehr betont hat, dass Liebe als Abschluss und Fazit seiner Trilogie gedacht war. Für mich funktioniert die Trilogie allerdings auch als gleichberechtigtes Triptychon, so wie bei Max Beckmann die einzelnen Gemälde auch ausgetauscht denkbar sind und neue gedankliche Schnittmengen möglich scheinen.
NordiskOslo Stories: Träume | 2024 | NOR | 110 Min.
Gleichzeitig passt das internationale Durcheinander gut zu Haugeruds Ansatz, in seinen drei Filmen die kaum entwirrbare Komplexität menschlicher Beziehungen, die Untiefen der Sexualität und die Verhandelbarkeit von gesellschaftlichen Normen in das Zentrum seiner „ausgesprochen“ dialogfreudigen Filme zu stellen. Waren es in Liebe erwachsene Menschen der mehr oder weniger gleichen Altersgruppe, sind es nun in Träume, der auf der diesjährigen Berlinale nicht nur den Hauptpreis, sondern auch den FIPRESCI- und Gilde-Preis erhalten hat, gleich drei Generationen, deren Denken, Fühlen und Sprechen er ergründet.
Das mag sich jetzt ein wenig theoretisch anhören, doch ist es das gerade nicht. Denn Haugeruds Dialoge sind derartig alltagsimmanent und gleichzeitig kathartisch, dass einem beim Hinsehen und Hinhören einfach nur die pure Freude überkommt. Dabei ist Träume der vielleicht schwierigste Film der Trilogie. Denn die hier erzählte Geschichte entspinnt sich unmerklich und langsam. Die 16-jährige Schülerin Johanne (Ella Øverbye) verliebt sich in ihre neue Französischlehrerin Johanna (Selome Emnetu) und schreibt, um, sich ihrer Gefühle zu versichern, ja sie überhaupt zu verstehen, einen Text, den sie ihrer Großmutter Karin (Anne Marit Jacobsen) zeigt, die ihn wiederum ihrer Tochter Kristin (Ane Dahl Torp), also Johannes Mutter vorlegt.
So monothematisch der Film beginnt – die Schwärmerei oder Verliebtheit einer Schülerin für ihre Lehrerin – so völlig unverhofft entfaltet er sich. Am besten vergleichbar ist diese Entfaltung mit lose in eine Teekanne geworfenen Teeblättern und dem Übergießen mit heißem Wasser, einem Moment, dem wir auch in Haugeruds Film beiwohnen und währenddessen sich eines der vielen Gespräche in diesem Film ereignet und mit den gesprochene Worten sich nicht nur die Situation, sondern auch die Erkenntnisse, was diese Situation war und nun ist, verändert. Diese durch Sprache getriggerten Veränderungen des Bilder werden noch einem durch den aus dem Off gelesenen Text von Johanne, der die Vergangenheit ergründet und die filmische Gegenwart, die Rückblende und absolute Gegenwart umfasst zu einem Ganzen verbindet und in eine noch unbestimmte Zukunft katapultiert.
Von dieser Zukunft sehen wir nur Fragmente, eine großartige Szene bei Johannes Therapeuten, in dem nicht nur die Notwendigkeit moderner Therapie und fragwürdigem Leidensdruck erörtert wird, sondern sich auch die Gegenwart mit der Vergangenheit anfreundet und dann auch noch das Rathaus von Oslo auftaucht, das in allen drei Filmen eine Art von Ankerrolle spielt. Jedes hier gesprochene Wort ist fein tariert. Wenn Johannes Therapeut die Banalität des Leides seiner Klientin anspricht, gelingt es Johanne, seine plausible Sichtweise genauso plausibel zu kontern, denn sie hat ja Recht, wenn sie sagt: „Wenn einen niemand will, ist man niemand.“
Doch Haugerud erzählt noch viel mehr, erzählt von der Gefahr, Träume und Geschichten weiterzugeben und damit die Kontrolle darüber zu verlieren, erzählt vom Wandel der Liebe in einer sich wandelnden Stadt und in einem völlig umwerfenden Gespräch zwischen Johannes Mutter und Großmutter wird nicht nur über Flashdance gesprochen, sondern auch über drei Generationen von Feminismus und Frausein. Auch hier ist der Wandel eine Kernessenz, gleichzeitig ist aller Wandel auch ein Wunder, weil er auch das inkorporiert, was war und was sein wird. Diese Einheit von dem, was war, was ist und sein wird und die gleichermaßen vorhandene Uneinheit von Sprechen, Handeln und Fühlen sind die Essenz, die sich am Ende entfalteten Teeblätter, die dem Wasser bzw. dem Leben Farbe und Geschmack geben.
Bei all dem Ernst gelingt es Haugerud jedoch, das Spielerische und den Witz nicht zu vergessen. Die manchmal unerträgliche Leichtigkeit des Lebens wird erträglich, nicht nur durch groteske Bonmots wie jene, das Gott ein nackter Schwede sei, sondern vor allem durch die Leichtigkeit und das Bedürfnis aller Beteiligten, sich der Schwere des Lebens mit Sprechakten zu entledigen und dadurch ein neuer Mensch zu werden. Denn das ist ja vielleicht auch das größte Versprechen unserer Moderne, das letztendlich alles möglich ist, eine für Jahrtausende unbekannte Freiheit, die endlich eingelöst werden kann. In Träume, aber auch in Liebe und Sex zeigt Dag Johan Haugerud, wie das geht. Berührend, erhellend, faszinierend. Großes Kino. Große Literatur.
Sex
Würde ich selbst Filme machen und nicht nur darüber schreiben, wären es Filme wie die drei Oslo-Filme von Dag Johan Haugerud. Es sind nicht nur »literarische« Filme, weil sie mit langen Dialogsequenzen durchzogen sind, die auch ohne die Kamera und ihre Bilder soghafte, spannende und berührende Geschichten über unsere Gegenwart und unsere alltäglichsten Gefühle erzählen: Die Möglichkeiten neuer Beziehungsmodelle in Liebe, die Varianz von Beziehungen innerhalb dreier Generationen in Träume und die fluide Bedeutung von Sexualität in Sex (der in Deutschland bizarrerweise Sehnsucht heißt). Hier zeigt sich dann auch einmal mehr, dass Haugeruds Filme zwar Filme des Wortes, der Sprache sind, die immer wieder Oberhand gegenüber filmischer Ästhetik und ihrer bildhaften Sprache gewinnt. Aber halt dann doch nicht immer.
NordiskOslo Stories: Sehnsucht | 2024 | NOR | 118 Min.
Das wird gleich in der ganz und gar umwerfenden ersten Szene von Sex deutlich, in der zwei Schornsteinfeger nach getaner Arbeit in ihrem Büro mit Blick über Oslos Dächer zusammensitzen. Der eine ist der Geschäftsführer (Thorbjørn Harr) und erzählt von einem immer wiederkehrenden Traum, in dem er David Bowie gegenübersteht, der ihn so ansieht, wie ihn noch nie ein Mann angesehen hat: ohne jegliche Erwartungshaltung bzw. mit einer erweiterten Erwartungshaltung, in der er, der verheiratete Mann mit Kind, auch eine Frau sein könnte. Sein befreundeter, von Jan Gunnar Røise verkörperter Mitarbeiter und ebenfalls hetero-normativ lebend, erzählt ihm daraufhin von einem ähnlichen Erlebnis. Nicht im Traum, sondern ganz real bei seinem letzten Kunden sei er zum ersten Mal im Leben von einem Mann so angesehen worden, wie ihn sonst nur Frauen ansehen, und dazu gleich auch noch zum Sex eingeladen worden.
Dieses Gespräch verändert alles. Es vertieft nicht nur die Beziehung der beiden Freunde und Kollegen, es hat auch nachhaltige Auswirkungen auf die Partnerinnen der beiden, auf die von Siri Forberg gespielte Frau des Schornsteinfegers und die von Brigitte Larsen dargestellte Frau des Geschäftsführers. Dieses Kernensemble samt den jugendlichen Kindern und Freunden der Paare wird immer mehr in den Strudel der eingangs erzählten Träume und Realitäten gezogen. Das mag in Ansätzen an Arthur Schnitzler und seine Traumnovelle und die Kubrick-Verfilmung Eyes Wide Shut oder die deutsche Traumnovelle-Umsetzung aus dem letzten Jahr von Florian Frerichs erinnern, doch lässt sich gerade an der Verfilmung von Frerichs besonders gut sehen, dass Schnitzler kaum mehr für eine wirklich gegenwartsbezogene Adaption taugt. Wer anderer Meinung ist, sollte sich deshalb Sehnsucht ansehen, zeigt Haugerud doch hier so atemberaubend wie zärtlich, was in unserer (westlichen) Gegenwart alles möglich ist, wie sehr der Sprechakt inzwischen für beide Geschlechter eine fast schon autotherapeutische Funktion erreicht hat.
Dazu gehören nicht nur die sexuellen Beziehungen, die hier erörtert werden, sondern auch die Beziehungen zwischen Freunden und die zwischen Eltern und ihren Kindern. Zwar ist auch hier die Sprache das Ding aller Dinge, könnte man diesem Film auch ohne seine Bilder gebannt lauschen.
Doch sieht man die Bilder und die großartigen Darsteller dieser fein ziselierten, bis ins letzte Detail ausgearbeiteten Charaktere, möchte man den Blick nicht mehr von der Leinwand wenden, sondern im besten Fall in die Leinwand treten, so wie einst Tom Baxter in Woody Allens The Purple Rose of Cairo aus der Leinwand herausgetreten ist. Denn Haugeruds Realität fühlt sich nicht nur realer als jede Realität an, sondern auch so viel klüger, schöner und besser. Sei es die Szene, in der einer der beiden Schornsteinfeger wegen seiner durch den David Bowie-Traum ausgelösten Zungenblockade mit seinem Sohn eine Logopädin aufsucht oder die langen Gespräche zwischen den Paaren oder der Besuch eines Chor-Balletts. So wie in Sarah Polleys dokumentarischer Suche nach ihrem leiblichen Vater in Stories We Tell, möchte man auch in Haugeruds Spielfilm die Menschen treffen, die hier auftauchen, mit ihnen reden oder am besten gleich einen ganzen Abend oder ein ganzes Leben mit ihnen verbringen.
Haugerud zeigt, dass die Welt so ist, wie man mit ihr redet, wie man mit seinem Nächsten redet. Der Preis dafür ist allerdings hoch, ist es doch eine Freiheit, die immer mit einem Risiko, mit einem möglichen Scheitern verbunden ist. Und die auch schmerzt, weil die Gespräche, dieses Ringen mit der Sprache und unseren Beziehungen immer auch ein Ringen mit der Wahrheit ist. Mit der äußeren Wahrheit und mit unseren ganz persönlichen inneren Wahrheiten, die es stets abzugleichen gilt. Der mögliche Preis ist dann allerdings das Schönste überhaupt zu erfahren, nämlich von den Anderen um uns herum ohne Erwartungshaltung gesehen zu werden und das sein zu können, was man sein will. Auch mal wer ganz anders, und wenn auch nur für einen Nachmittag mit einem Kunden in dessen Wohnung und im Angesicht eines gereinigten Schornsteins (wobei die grundsätzliche und sehr humorvolle Symbolik des "Schornsteinfegens" nicht außer Acht gelassen werden sollte). Eben so wie Haugerud in seinen Filmen auf subtile Weise mit Erwartungshaltungen bricht. Denn wer erwartet schon von Schornsteinfegern derartig reflektierte Gespräche, wer von einer Schülerin in Träume solchen Tiefsinn und wer von einer Ärztin wie in Liebe eine solchermaßen unkonventionelle Suche nach einer Liebesbeziehung?
Am Ende und mittendrin befinden wir uns auch in Sex wieder am Rathaus in Oslo und glauben vielleicht, die anderen wunderbaren Menschen aus Liebe und Träume in der vorbeidefilierenden Menge zu sehen. Sind sie da oder sind sie nicht da? Aber auch wenn sie da nicht sind, so reicht doch schon die Möglichkeit. Ganz so, wie Haugeruds Filme auch die ganz und gar reale Möglichkeit filmgewordener Literatur sind.