Pompeji liegt an der Ostsee
Love’s gonna make us, gonna make us blind
We’ll be living in a place we like
What’s gonna make us, gonna make us find?
– Wallners, In My Mind
Es wird immer seltener, dass ein Schriftsteller, Künstler, Musiker oder Regisseur uns ein halbes Leben oder sogar länger begleitet. Die nachlassende Aufmerksamkeitsspanne bei der schier endlosen Möglichkeit von medialem Konsum lässt lange Vertrautes fast unmerklich einfach wegkippen – aus dem Auge, aus dem Sinn – so dass die Nachhaltigkeit von Ruhm immer fragiler geworden ist.
Aber es gibt zum Glück ein paar Ausnahmen. Eine davon ist Christian Petzold, der seit einem viertel Jahrhundert Filme abliefert, die auf subtile Art und Weise stets am Puls der Zeit operiert haben, die gesellschaftliche Lücken und Abgründe aufgezeigt haben und mit einer einzigartigen Bild- und Formsprache immer wieder überrascht haben. Sei es Die innere Sicherheit (2000), Wolfsburg (2004), Jerichow (2008), Barbara (2012) oder Phoenix (2014). Mit Phoenix schlich sich allerdings bereits eine symbolische Schwere und ein Stilisierungszwang in Petzolds Kinofilme (von denen die Polizeirufe ausgenommen waren) ein, die in der Anna Seghers-Verfilmung Transit (2018) und in Undine (2020) so stark wurden, dass Petzolds größte Stärke, nämlich über den kleinen Alltag seiner Protagonisten große emotionale und gesellschaftliche Geschichten zu erzählen, immer kleiner wurde und die Handlung und ihre Figuren förmlich unter dem Diktat einer großen Idee zu erstarren schienen.
Piffl MedienRoter Himmel | Regie: Christian Petzold | DEU 2023 | 103 Minuten
Obwohl Petzolds neuer Film Roter Himmel der zweite Teil einer Trilogie ist, hat er mit dem ersten Teil, Undine, nur die auch schon in Petzolds Gespenster-Trilogie eher vage und aufgesetzte trilogische Idee gemein – von Wasser über Feuer zu Erde oder Luft. Und eine der Hauptdarstellerinnen. Denn ist es nach dem deutsch-mythologisch aufgeladenen Wasserwesen und Wasser überhaupt und einer großartigen Paula Beer in Undine, nun zwar wieder eine subkutan, fast traumwandlerisch operierende Paula Beer, die dieses Mal allerdings nicht von Wasser, sondern von Feuersbrünsten an der Ostsee umgeben ist. Von triefender deutscher Mythologie ist sonst kaum etwas zu spüren. Wenn überhaupt, ist Roter Himmel getränkt vom poetischen Realismus eines Fontane – der auch schon in Emily Atefs fast zeitgleich in die Kinos gekommenem Irgendwann werden wir uns alles erzählen pulsierte – und den Drohgebärden der Natur (und in diesem Fall auch ein liegengebliebener Wagen), die mehr weiß als die Menschen; das Drama also von Anfang an im Raum steht.
Anders als bei Atef ist das bei Petzold jedoch fast nebensächlich, weil Petzold bei all den tatsächlich im Jahr 2022 an der deutschen Ostseeküste und während der Dreharbeiten apokalyptisch drohenden Feuern überaus leichte, verführerische und komische Liebesgeschichten erzählt. Es ist ein wenig wie in Eric Rohmers Beziehungsreigen, in Pauline am Strand oder Sommer, durch die Petzold auch inspiriert wurde, und es ist ein wenig Shakespeares Sommernachtstraum und Goethes Wahlverwandtschaften – zwei Paarkonstellationen treffen aufeinander und die Beziehungsdynamiken verwundern und verwandeln sich. Ist das bei Goethe zum Schlechten, gerät es bei Petzold zum Guten, sehen wir hier jungen Menschen, die wohl bald dreißig werden, bei ihrem späten Coming-of-Age zu, ist das natürlich auch klassischer Bildungsroman. Denn der wunderbar von Thomas Schubert als tumber Tor verkörperte Leon, der mit seinem Freund Felix (Langston Uibel) in das Sommerhaus von dessen Mutter gekommen ist, will endlich seinen zweiten Roman vollenden und Felix seine Fotomappe für die Kunsthochschule fertig machen. Doch Nadja (Paula Beer), die von Felix' Mutter überraschenderweise ebenfalls ein Zimmer in dem Haus zugewiesen bekommen hat, bringt die Konstellation nicht nur durch Devid (Enno Trebs) durcheinander, der dann und wann eine Nacht bei ihr verbringt, sondern ist so somnambul wie Leon, der in ihrer Gegenwart mehr und mehr die Kontrolle verliert.
Petzold arrangiert diesen Beziehungsreigen äußerst delikat, jeder Dialog sitzt perfekt und bei all der schweren Kunst ist das leichte Leben nie weit entfernt, wird darüber diskutiert, ob besser Dachdecken oder Supermarkt angesagt ist, gibt es wunderbar dahinparlierte, die Situationskomik verstärkende Dialoge, wird mit Leuchtschlägern bei Nacht Federball gespielt und wenn Leon sich dann doch fast schon zwangsweise an den Strand begibt, geht er nicht baden, sondern liest in Robert Schneiders völlig verrissenem Roman Schatten. Das ist natürlich eine fast schon kalauerhafte Anspielung auf Leons eigenen Roman, den Nadja irgendwann gegenlesen und Leons Verleger Helmut (Matthias Brandt) mit ihm durchsprechen wird. Auch dieser Besuch ist wundervoll eingerahmt, sind plötzlich Uwe Johnson und die Aarenshooper Künstlerkolonie mit an Bord und wird die so schnippische wie verführerische Nadja tatsächlich noch einmal zu jemand ganz Anderem, wird sie genauso hinterfragt wie die Kunst und das Leben überhaupt.
Doch diese Fragen sind bei dem dräuenden Feuer nur angerissene Fragen, sind Spiel und Spaß, ein Spiel vor allem der Körper und dann auch der Geister, zwischen Begehren und Vernunft, Symbolik und Realistik, Komik und Tragik.
Petzold gelingt es, diese Balance bis zum Ende so spielerisch aufrecht zu erhalten, dass es wirklich eine Freude ist, ein ständiges Entdecken und Überraschen ist, selbst die bei Christian Petzold fast schon ikonografische Frau auf dem Fahrrad. Das Wunderbare an dieser Frau, an Nadja, ist dann auch tatsächlich ihr Fahrrad mit allem, was dazugehört, die Fahrt zum Job, das Einkaufen, das ganz banale Entschwinden; dass sie halt nicht wie die Frauen in Transit und Undine »femme-fatalistisch« und systemimmanent aufgeladen ist, sondern völlig alltäglich und nur im Sinne von François Truffaut ein ganz klein wenig mythisch ist.
Wie so oft in Petzolds Filmen gibt es auch in Roter Himmel den kleinen Schwenk, den schnellen und finalen Flirt mit dem Melodram – auch das erinnert an den anderen Sommerfilm dieser Woche, der ja ebenfalls auf der Berlinale im Wettbewerb lief, aber keinen Silbernen Bären erhalten hat, an Emily Atefs Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Doch hier ist es nicht ein Bahngleis, sondern gleich die große Geschichte vom Untergang von Pompeji und seinen Liebenden. Aber auch das passt, fügt sich in das Narrativ so elegant und überraschend ein wie ein gutgeschriebener Roman, über dessen Kunstfertigkeit man nicht nur staunt, sondern den man gleich noch einmal lesen möchte. Mehr noch, als es Petzold am Ende gelingt, sich selbst ein wenig neu zu erfinden, indem er nicht nur ein letztes Mal das hypnotisch-laszive In My Mind der Wallners anspielt, sondern gleich noch ein Ende hinzufügt, ein herrliches Vexierspiel, das die Literatur mit dem Film vereint, weil das eine aus dem Anderen entsteht und umgekehrt. Schöner und leichter und schwerer geht es kaum.