Wir alle haben geschlafen

Wir alle haben geschlafen

Paul Lynch gelingt es, in seinem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten „Das Lied des Propheten“ unsere gefährdete politische Gegenwart in eine düstere Vision zu überführen, die wichtiger als viele politische Abhandlungen ist
Paul Lynch
Bildunterschrift
Paul Lynch
Das Lied des Propheten

Paul Lynch | Das Lied des Propheten | Klett-Cotta | 320 Seiten | 26 EUR

Dein ganzes Leben lang hast Du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das grosse Erwachen. (S. 45) 

Wir wissen nicht, ob Eilish Stark hier zu sich selbst spricht. Vielleicht sagt sie das auch in einem inneren Dialog zu ihrem Mann Larry, der vor ein paar Tagen verhaftet worden ist – in einem Irland der nahen Zukunft, das wir nicht wiedererkennen.
Voraus geht ein scheinbar normaler Vorgang. Nach einer demokratischen Wahl kommt im Inselstaat – vielleicht am Ende der 2020er Jahre, der Zeitpunkt ist nicht ganz klar – eine nationalistische Partei an die Regierung. Gegen ihr repressives Vorgehen regt sich Widerstand, es gibt Proteste gegen die Einschränkungen der Meinungsfreiheit und den Abbau des Rechtsstaates. Die neuen Machthaber reagieren mit Härte, Überwachung, mit Gesetzen zur Durchsetzung autoritärer Massnahmen.

Eilish Stark, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist Mikrobiologin in guter Position in einer internationalen Firma und Mutter von vier Kindern, eins noch ein Säugling. Ihr Mann Larry Stark ist stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft. Kurz vor einer angekündigten Demonstration der Lehrerschaft klingeln spätabends zwei Geheimdienstbeamte an der Türe der Starks und wollen mit Larry sprechen. Der ist jedoch noch nicht zuhause. Die Beamten sind freundlich, wirken aber gleichzeitig bedrohlich. Weshalb kommen sie zu dieser späten Stunde, weshalb wollen sie mit Larry sprechen? Sie lassen ihre Karte da, Larry soll baldmöglichst anrufen.

Schon in dieser ersten Szene werden wir in die Geschichte hineingezogen. Eilish spürt einen Schlag, etwas bricht in ihr Leben ein. Sie schaut den beiden Beamten in die Nacht hinein nach: 

… sie steht noch kurz da, betrachtet die Karte und merkt, dass sie den Atem angehalten hat. Das Gefühl nun, dass etwas ins Haus gekommen ist, sie will das Baby ablegen, sie will dastehen und überlegen, verstehen, wie es sich mit den beiden Männern verhielt und es unaufgefordert in die Diele kam, etwas Formloses und dennoch Wahrgenommenes. Sie spürt, wie es neben ihr her schleicht auf ihrem Gang durchs Wohnzimmer vorbei an den Kindern, … will ihren Laptop und den Terminkalender vom Tisch räumen, hält aber inne und schließt die Augen. Das Gefühl, das da ins Haus kam, ist ihr gefolgt. … Der dunkelnde Garten birgt keine Wünsche mehr, denn etwas von diesem Dunkel ist ins Haus gekommen. (S. 11)

Die Sprache von Paul Lynch gibt das Anonyme, das Undurchschaubare der Bedrohung wieder, unfassbar, aber doch konkret wie die Schwärze der Nacht. Es gibt im Roman keine Kennzeichnung von direkter Rede, keine Unterscheidung von Gedanken und Gesprächen, es entsteht ein schneller Rhythmus, der das Bedrängtsein spürbar macht, die zunehmende Ohnmacht, die Ratlosigkeit, die fiebrigen Gedanken und den Stress, den die sich zuspitzenden politischen Ereignisse immer stärker auslösen. Die Gefühle, welche in den Protagonisten aufkommen, werden nicht beschrieben, sie sind in eindringliche Bilder übersetzt und in handelnde Natur verwandelt.

Zuerst glaubt Eilish noch an den Bestand des Rechtsstaates: »… Notverordnung hin oder her, in diesem Land gibt's immer noch Verfassungsrechte …« (S. 21). Doch dann verschwindet ihr Mann, man wird nie erfahren, wo er festgehalten wird, was mit ihm passiert. Nachforschungen darüber werden gefährlich, sind schliesslich nicht mehr möglich. Eilish selbst verliert ihre Stelle und muss zunehmend Beschränkungen und Behinderungen in ihrem Leben hinnehmen – und gleichzeitig versuchen, ihre Familie zusammenhalten, den Kindern das Fehlen des Vaters zu erklären, den Säugling durchzubringen, die Schikanen auszuhalten, denen die Familie wegen des scheinbar staatsgefährdenden Vaters ausgesetzt sind. Die vorpubertierende Tochter rebelliert. Der ältere Sohn schliesst sich einer Widerstandsgruppe an, weil er zu jung zum Militär einberufen wird und sein Medizinstudium nicht beginnen kann. Was dem vorpubertierenden zweitjüngsten Sohn geschieht, ist so schrecklich, dass man es nicht erzählen will.

Ohne dass je eine Anspielung gemacht wird, drängen sich Bilder aus Geschichte und Gegenwart ins Bewusstsein der Leser, Assoziationen, die sich ungefragt ihren Weg bahnen: Die Niederschlagung der Proteste in Belarus oder im Iran. Die unmenschlichen Beschränkungen der jüdischen Bevölkerung unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die Kühlhäuser mit Toten in Chile nach dem Militärputsch, wie sie im Film »Missing« gezeigt werden. Oder die Sprache rechtsextremer Parteien und autoritärer Bewegungen im Europa der Gegenwart.

Der Roman soll hier nicht nacherzählt werden. Nur so viel: Am Ende gelingt der Mutter mit ihrer Tochter und dem Säugling die Flucht aus dem zerstörten Land. Als sie mit einer grösseren Gruppe, von Schleusern in einer Zwischenstation untergebracht, auf das Schiff für die Überfahrt in das rettende Land wartet, bringt es eine andere Mutter auf den Punkt, was viele nicht fassen konnten: 

… wie hätte überhaupt jemand wissen können, was noch passiert, andere haben es anscheinend ja gewusst, aber ich habe nie verstanden, wie die so sicher sein konnten, also, das hätte man sich niemals vorstellen können, im Leben nicht, was da alles noch passiert, und ich habe die, die fort sind, nie verstanden, wie die einfach so gehen konnten, alles zurücklassen, ihr ganzes Leben, wie sie gelebt haben, für uns war das damals vollkommen ausgeschlossen, … und als es dann schlimmer wurde, hatten wir einfach keinen Spielraum mehr … (S. 303/4).

Der Roman von Paul Lynch passt in die Zeit. In den letzten Jahren sind immer mehr Bücher erschienen, die sich mit der Gefährdung der Demokratie und ihrer Verteidigung befassen. Roger de Weck, der ehemalige Chefredakteur der Zeit plädiert in Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre für wirkliche demokratische Eliten, die verantwortungsvoll handeln, die Interessen des Gemeinwesens über die eigenen stellen und die Demokratie bewahren. Der Harvard-Politologe Daniel Ziblatt diagnostiziert in seinem Buch Wie Demokratien sterben weltweit einen Kampf zwischen Demokratien und Autokratien. Die demokratische Welt sieht er unter Druck, religiös-totalitäre und autoritäre Regime im Vormarsch und wirkliche Gefahr entsteht für ihn, wenn in demokratischen Ländern «Mainstream-Politiker» sich mit autoritären Parteien verbünden. Anne Applebaum schliesslich, die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2024, fordert in Die Achse der Autokraten, dass wir Korruption, Kontrolle und Propaganda der autoritären Regime durschauen und den Verlockungen des Autoritären den Willen entgegensetzen, die Demokratie zu verteidigen. Und auch sie meint: »Wir wachen sehr spät auf.« 

Die Liste liesse sich fortsetzen. Das Lied des Propheten aber ist anders. Es analysiert nicht, es appelliert nicht. Es spricht das Gefühl an. Macht das Buch Hoffnung? Bleibt etwas Positives aus der düsteren Vision einer nicht unmöglichen Zukunft zurück? Ja, trotz allem! Man kommt gut aus dem Buch heraus, gerade weil es das Gefühl anspricht, weil es Widerstandswillen und Stärke entstehen lassen kann, eine innere Sicherheit, dass man hellwach wahrnehmen will, was da passiert. Dass man die Demokratie nicht preisgeben wird, die uns Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit garantieren kann, die freie Wahlen, Bildung für alle, soziale Sicherheit möglich macht – und eine nächtliche Seelenruhe, weil wir keine Angst haben müssen, von Schergen abgeholt zu werden, weil wir nicht tagtäglich befürchten müssen, staatlicher Willkür ausgesetzt zu sein. So lohnt sich die Lektüre des Prophet Song – so der Titel des englischen Originals – vielleicht sogar noch mehr als jede noch so notwendige politische Abhandlung. 

Rezensiertes Buch