Realität als Mutmaßung

Realität als Mutmaßung

Tlotlo Tsamaases afro-futuristische Dystopie „Womb City“ ist ein furioses Amalgam aus „Minority Report“ und Cyberpunk-Klassikern, emanzipiert sich dann aber so souverän wie ihre post-feministische Heldin
Tlotlo Tsamaase

Tlotlo Tsamaase ist eine Autorin aus Botswana (xe/xem/xer oder she/her). Tlotlo war Finalistin des Caine Prize. Ihre Novelle The Silence of the Wilting Skin (Das Schweigen der welkenden Haut) war Finalistin des Lambda Literary Award 2021 und war in der engeren Auswahl für den Nommo Award 2021. Tlotlos Kurzgeschichten sind in Africa Risen, The Best of World SF Volume 1, Clarkesworld, Terraform, Africanfuturism Anthology erschienen. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Architektur an der Universität von Botswana und gewann einen Preis für Designarchitektur.

Wer sich noch an die legendäre African Writers Series  erinnert oder gar einige Bände gelesen hat, zumindest den 1958 erschienenen ersten Band, Things Fall Apart von Chinua Achebe, den dürfte Tlotlo Tsamaases afro-futuristische Dystopie  Womb City kaum überraschen. Denn so wie in Things Fall Apart und vielen anderen Bänden dieser Reihe von großen Klassikern der afrikanischen Literatur, ging es immer auch um Identität. Den Verlust von Identität und der Entwicklung einer neuen Identität. Das hatte oft mit kolonialen Erfahrungen zu tun, aber sehr oft auch mit der Frage, wie Traditionen in die Moderne integriert werden könnten.

Die Moderne, von der Tlotlo Tsamaase erzählt, ist jedoch weder Teil einer bekannten Vergangenheit oder Gegenwart, sondern einer Zukunft, in der Afrika nicht mehr das graue Entlein der globalen Weltordnung ist, sondern zu einem weißen, mächtigen Schwan geworden ist, der innovative Technologien anwendet, um die eigene Gesellschaft zu strukturieren. Dazu gehört wie in Richard K. Morgans Cyberpunk-Meilenstein Altered Carbon  auch die Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit in einen neuen Körper zu überführen, sollte der alte Körper seine "Haltbarkeit" überschritten haben oder durch einen Unfall oder Gewaltanwendung nicht mehr lebensfähig sein. Doch anders als bei Morgan, dessen brachiale Zukunft kaum etwas mit unserer Gegenwart und Vergangenheit zu tun hat, integriert Tsamaase traditionelle Elemente in ihre Zukunft, die dazu dienen sollen, der Gesellschaft eine fundierte Identität zu verleihen. Dazu gehört eine technische Singularität, die die Geister der Verstorbenen inkorporiert und bei wichtigen politischen Entscheidungen zu Rate gezogen wird. Wie in Spielbergs Minority Report  weiß jedoch nicht nur diese Singularität mehr über die Menschen als sie selbst, sondern ist auch der Polizeiapparat des hier beschriebenen Botswanas dazu fähig, über regelmäßige virtuelle Testläufe herauszufinden, ob ein Bürger in nächster Zei kriminell werden könnte.

Doch Tsamaases Ich-Erzählerin und Heldin Nelah ist sich bewusst, dass dieses Botswana wie Achebes Nigeria an einer gebrochenen Identität leidet: "In our city, it is unwise to trust reality. I have been betrayed by reality, betrayed by my subconscious, shipwrecked from reality." Und wie Achebes tragischer Held Okonkwo begehrt auch Tsamaases Heldin – die immerhin schon in ihrer 13. Lebensphase „verkörpert“ ist –  gegen Vergangenheit und Gegenwart, gegen Tradition und Moderne zugleich auf. 
Doch mit völlig anderen Vorzeichen, denn natürlich ist das Botswana in Womb City ein ganz anders als das kleine Dorf bei Achebe, sind fast 70 Jahren vergangen, seit Achebe seinen Roman geschrieben hat und viele hundert Jahre in Tsamaases Handlung.

Das bedeutet auch, dass wir es hier mit einer starken Frau zu tun haben, die auch für ihr Recht als Frau kämpft, in einer Gesellschaft, die trotz proklamierter Gleichberechtigung mit der Sichtweise alter Traditionen durchtränkt ist, in der Kinderkriegen ein genauso großes Diktat ist, wie es in vielen afrikanischen Gesellschaften auch heute noch ist und  in der nicht nur alte,  schwarze Männer alle Macht haben, sondern auch die Korruption Teil eines Systems ist, dass nicht zulassen will, dass die Dinge sich ändern müssen, um die Gleichen zu bleiben.

Womb City

Tlotlo Tsamaase | Womb City |  Erewhon Books | 416 Seiten | 27,95 USD

Tsamaase packt diese schweren, düsteren Erkenntnisse eines gescheiterten Traumes in einen Thriller, der auch eine Ehekrisengeschichte und eine Liebesgeschichte ist, und der mit Elementen des Body Horrors genauso spielt wie mit klassischer Suspense. Mit der Emanzipation ihrer Heldin, für die Tsamaase immer wieder bizarre, eindrückliche Bilder,  Situationen und brillante Gedankenspiele findet, die den Leser durch ihre Intensität noch lange begleiten,  mit dieser Emanzipation emanzipiert sich im letzten Drittel dieser 416 Seiten auch Tsamaase von ihren Einflüssen, ist Cyberpunk und Spielberg irgendwann nur Nebensache. Denn Womb City spielt auf subkutane Art und Weise auch gegenwärtige politische Dilemmata gegeneinander aus und eröffnet aufregend neue, erfrischend kritische Perspektiven auf sogenannte afro-futuristische Visionen, die natürlich ganz genauso auf die ganze Welt, also auch auf den globalen Norden und nicht nur den globalen Süden anwendbar sind.

Denn die neue Welt, die  in Womb City am Ende ausgerufen wird, ist eine, in der mit Tradition die Tradition eliminiert wird und erst durch die damit entstandene Stille und Reinheit so etwas wie Zukunft überhaupt möglich geworden ist. Eine Zukunft jenseits von Singularität und sozialen Blasenwelten, die ja am Ende immer mehr Gefängnis als befreiende Sicherheit waren – und für uns Leser vorerst auch noch sind und sein werden. Und es ist eine Zukunft mit einer nicht nur ihres Körpers, sondern auch ihres Geistes selbstermächtigten Heldin an vorderster Front, die zum Glück ein anderes Schicksal erleidet, als es Achebes sich selbstermächtigender Held damals erlitten hat.
Das hat nicht nur literaturhistorische Wucht, sondern zeigt auch eine Autorin am Werk, die so radikal wie souverän den leidigen Erwartungshaltungen zuwiderläuft, die  die meisten Leser vom subsaharischen Kulturraum haben dürften. 

Rezensiertes Buch