Lieder für Zeiten der Finsternis

Lieder für Zeiten der Finsternis

"Songs for Times of Darkness" – das Leben von vier libanesischen Frauen in einem Roman von Iman Humaidan
Iman Humaidan
Bildunterschrift
Iman Humaidan

Es gibt zwingende Gründe, warum man nicht umhin kann, Songs for Times of Darkness von Iman Humaidan als einen "feministischen" Roman zu lesen. Über sieben Jahrzehnte und mit epischem Anspruch spannt sich die Geschichte von vier libanesischen Frauen aus vier aufeinanderfolgenden Generationen einer Familie.

Iman Humaydan | Songs for Times of Darkness | Saqi Books | 256 Seiten | 12 USD

Asmahan, die jüngste der Frauen, blickt in einem Brief an eine Freundin, die in New York lebt, zurück ins Jahr 1908, als Shaheera, ihre Urgroßmutter, im Alter von vierzehn Jahren verheiratet wurde. Es folgen die Geschichten von Yasmin, ihrer früh verstorbenen Großmutter, Laila, ihrer Mutter, die auf mysteriöse Weise verschwand, sowie ihre eigene Geschichte, von der Flucht nach der Scheidung mit ihrer Tochter. 
Indem Asmahan das Schicksal dieser Frauen in dem sich rasch verändernden sozialen und politischen Kontext bis 1982 nachzeichnet, enthüllt sie eine lange Leidensgeschichte in einer männlich dominierten Gesellschaft mit den verschiedenen kulturellen Tabus und diversen Aspekten sozialer und politischer Gewalt. Doch sind die Männer in diesem Roman so wenig präsent, dass sie wie sonst typisierte Frauenfiguren in konventionellen Romanen wirken.

Im Gegensatz zu Nawal El-Saadawi, der bahnbrechenden ägyptischen feministischen Schriftstellerin, zielt Humaidan nicht darauf ab, diejenigen offen herauszufordern, die die Nöte der Frauen herunterspielen oder sogar diejenigen, die deren Anliegen ganz und gar ablehnen. Humaidan setzt sich auch nicht offen für die Solidarität mit Frauen ein, sondern geht zurück zum Anfang, zum Ursprung, dem weiblichen Ursprung; nicht mit dem Ziel, eine alternative Geschichte zur vorherrschenden zu produzieren, sondern die ursprüngliche zu heben, das Verborgene, das Unterdrückte und von der Gesellschaft und der kulturellen Anerkennung Ausgeschlossene zu enthüllen. Mit dem Schreiben der ungeschriebenen Geschichte der Frauen kehrt Humaidan zu der Geschichte des Weiblichen als Mutter Erde zurück, die grenzenlos gibt, ohne etwas dafür zu erwarten. So erfüllt Shaheera, was von ihr erwartet wird, denn sie ist der Ursprung und das Symbol des Gebens, der Schöpfung und der Erneuerung, die den Fortbestand des Lebens angesichts der wahrscheinlichen Gefahr des Untergangs erst möglich machen.

Lieder für Zeiten der Finsternis ist der fünfte Roman der Autorin und in ihrer bereits relativ langen Laufbahn als Schriftstellerin. Die Idee, dass das Weibliche der einzige Ursprung der Menschheit ist, ist in ihrem Werk nicht neu. Sie tauchte zum ersten Mal in "B wie Bleiben wie Beirut", ihrem brillanten, vor fünfundzwanzig Jahren erschienenen Debütroman auf und wurde in den folgenden Romanen immer stärker.

Ob in ihrem Bewusstsein, ihrem Handeln oder ihrem Ausdruck, Shaheera ist nun Modell des weiblichen Ursprungs. Sie ist die stärkste der vier weiblichen Figuren, aber wenn sie spricht und ihr Bewusstsein für ihre weibliche Identität zum Ausdruck bringt, verwendet sie weder feurige, rebellische Rhetorik noch abstrakte feministische Theorien. Sie vermeidet die Prosa sogar gänzlich und greift stattdessen auf den Gesang zurück, die Verbindung von Poesie und Musik, die ursprüngliche Sprache der Natur. Im Gesang scheint Shaheera ganz natürlich auf die Musik der sie umgebenden Welt zu reagieren, eine Musik, die nur von den wenigen Auserwählten wahrgenommen werden kann, die wissen, wie man der Stimme der Natur lauscht.

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Vor allem singt Shaheera gerne. Doch das Singen ist auch das Mittel, durch das sie sich ihrer selbst, ihrer Leidenschaft und ihrer Hoffnungen bewusst wird. Es ist das Rezept, mit dem sie ihr Gefühl der Isolation bändigt, besonders nachdem sie nach ihrer Heirat in ein neues Dorf gezogen ist. Sie singt auch, wenn sie stark sein muss und damit sie von den Anforderungen ihrer außergewöhnlichen Rolle nicht überwältigt wird. Das Singen ist eine Sprache, mit der sie die dunkle Welt, die sie umgibt, anspricht, um sie zu begreifen und zum Vorteil ihrer Familie geschickt zu beeinflussen.
Shaheera trägt von Anfang an viel Verantwortung. Nach dem Tod ihrer Schwester wird ihr die soziale Verantwortung auferlegt, sowohl die Ersatzfrau des Ehemanns ihrer Schwester als auch die Ersatzmutter von deren Kinder zu werden und damit die Rolle der Mutter zu übernehmen, noch bevor sie selbst Kinder hat. Auch bei der Arbeit ihres Mannes spielt sie eine große Rolle, während sie gleichzeitig versucht, den Kindern bessere Bildungs- und Lebenschancen zu bieten. Anders als die meisten erkennt Shaheera bald, dass sich ihre Gesellschaft ändern muss, wenn sie überleben will. Sie muss die veralteten Methoden aufgeben.

Gewappnet mit natürlichem Witz und Scharfsinn, mit historischem Bewusstsein für die Geschichte, schafft sie es, ihre Gesellschaft in die Zukunft zu lenken. Im Gegensatz zu ihrem Umfeld, das die Zeit nach unveränderlichen Zeichen und Pflichten misst, nimmt sie diese in ihrer Bewegung wahr und in aufeinanderfolgenden Perioden, die den zu erwartenden Wandel aufzeigen und die Notwendigkeit diktieren, sich auf diesen Wandel einzustellen. Aufgrund ihres äußerst praktischen Verständnisses, dass man die Herausforderungen der Zukunft vorhersehen muss, bevor es zu spät ist, könnte man Shaheera als "progressive" Figur bezeichnen. Dieser Pragmatismus verhindert aber auch, dass sie ihre Gefühle auszudrücken kann wie gemeinhin üblich, selbst wenn der Tod ihrer eigenen Tochter zu betrauern ist. Weder die gewöhnliche Sprache noch die Sprache der Lieder sind ihr Mittel genug für die Trauer. Sie verfällt sie in völliges Schweigen.

Gemäß weltlicher Weisheit dürfte sich die Stellung der Frau durch Bildung sowie intellektuellen und politischen Fortschritt erheblich verbessern. Nicht so in der Geschichte, die in Songs for the Time of Darkness aufgerollt wird. Im Vergleich zu Shaheeras Leben geht es den nachfolgenden Frauengenerationen schlechter, obwohl sie gebildet und mit weniger herrschsüchtigen Ehemännern verheiratet sind. Allein Shaheera wird weit über achtzig, ohne dass sie jemals hätte ihr Haus verlassen müssen.

Shaheera erreicht ein so hohes Alter, weil sie sich im Gegensatz zu ihren weiblichen Nachkommen weigert, hilflos von Männern abhängig zu sein. So unterwirft sie sich weder dem patriarchalischen System, noch ist sie gezwungen, vor ihm wegzulaufen. Ihr Wille, der der Wille des weiblichen Ursprungs ist, macht sie sowohl stark als auch flexibel je nach ihren Bedürfnissen und damit unabhängig genug, um nicht verzweifelt auf die Hilfe der Männer angewiesen zu sein.

Im Schatten der überragenden Figur der Shaheera erscheinen und verschwinden die anderen drei Protagonistinnen nacheinander. Ihre Tochter, die körperlich zerbrechliche Yasmin stirbt im Alter von siebzehn Jahren bei der Geburt von Laila. Und so wie Shaheera die Kinder ihrer Schwester großgezogen hat, zieht sie auch ihre Enkelin Laila mit auf. In dem überwältigenden Bewusstsein der Abwesenheit ihrer Eltern – ihrer früh verstorbenen Mutter und des im Ausland arbeitenden und lebenden Vaters – wächst Laila als romantische Figur auf, die so sehr an der Lektüre von Romanen labt, dass sie die reale Welt um sich herum völlig vergisst. Als sie schließlich gezwungen wird, sich der Realität zu stellen, wird sie aussichtslos Opfer männlicher Gewalt, verliert den Verstand und verschwindet schließlich ohne Spur.

Selbst Asmahan, die Erzählerin, die einer späteren, befreiten Generation angehört, ist gezwungen, mit ihrer Tochter vor häuslicher und politischer Gewalt zu fliehen. Während der Bürgerkrieg noch wütet, versucht ihr geschiedener Mann, ihr die Tochter wegzunehmen, so wie er ihr bereits den Sohn weggenommen hat.

Der Roman endet einige Wochen vor Ende des Jahres 1982 – bezeichnenderweise das Jahr der israelischen Invasion im Libanon. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil es den Leser mit unbeantworteten Fragen und dem Blick auf einen relativ langen Zeitraum zwischen jenem Datum und der Gegenwart zurück: Was ist aus Asmahan und ihrer Tochter geworden? Was geschah mit Laila? Wie kommt Asmahan mit ihrer Freundin in New York zurecht? Womit die Frage aufgeworfen ist, ob wir eine Fortsetzung erwarten dürfen. Hoffen wir, dass unsere Erwartung erfüllt wird. Hoffen wir auch, dass wir auf die Lektüre nicht wieder sieben Jahre warten müssen, denn so lange brauchte Humaidan, um Lieder in den Zeiten der Finsternis fertigzustellen.