Im Kopf von Theresa Neges

Im Kopf von Theresa Neges

Barbara Zemans „Beteigeuze“ ist ein originelles Sprachkunstwerk und ein Zaubertrank für Herz, Verstand und alle Sinne
Barbara Zeman
Barbara Zeman Beteigeuze

Barbara Zeman | Beteigeuze | dtv | 304 Seiten | 24 EUR

Oft heißt es, Bücher müssen ihre Leser „abholen“. Titel, Cover und der erste Satz sollen jeden an die Hand nehmen und beim „Einsteigen“ in die Geschichte helfen. Vielleicht so wie Eltern ihre Kinder im Hort zur Begrüßung umarmen, bevor sie sie nach Hause bringen. Oder wie Altenpfleger, die Heimbewohner vorsichtig in Rollstühle bugsieren, um sie zur Sitzgymnastik zu rollen oder zum Bingo spielen.

Wer das Cover dieses Buches sieht – ein Bild ohne Titel des Schweizer Malers Lenz Geerk – wird weder umarmt noch irgendwo hin gerollt. Er steht vor einer kleinen, irritierenden Schwelle: Eine Frau in einem schwarzen Kleid liegt oder schwebt und hält ein brennendes Streichholz zwischen Zeigefinger und Daumen. Die Buchstaben des Titels stehen nicht waagerecht nebeneinander – wie gewohnt – sondern vertikal, so dass sie an die Form einer Kerze erinnern, die gleich angezündet wird.

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Wie zum Teufel wird das ausgesprochen? Was bedeutet dieses Wort? Ist es ein Eigenname? Ein französisches Schaumgebäck? Ein pikanter Auflauf? Dank Internet weiß man ein paar Klicks später: „Beteigeuze“ wird genauso gesprochen, wie‘s geschrieben wird. Das Wort stammt aus dem Arabischen „yad al-ǧauzāʾ“ auf Deutsch: „Hand der Riesin“. Es wurde bei der Transkription verballhornt und bezeichnet einen Riesenstern im Sternbild des Orion. So weit, so geheimnisvoll.

Die ersten Sätze erzählen von Theresa und Josefs Busfahrt auf dem uns vertrauten Planeten Erde im guten, alten Europa. Von Semmering (Österreich), über Tarvis (Slowenien) und Udine (Italien). Die Autorin, Barbara Zeman, braucht nur Handvoll kurzer präziser Sätze. Über die Farben von Blumen und wie der Freund der Icherzählerin Theresa Neges im Schlaf aussieht, nämlich wie ein Toter. Ein paar Seiten später und am Ziel der Tagesreise befindet sich das Paar in Venedig.

Die Leser jedoch sitzen staunend im Kopf von Theresa Neges. Sie sehen mit ihren Augen, riechen mit ihrer Nase, hören mit ihren Ohren und fühlen mit ihrer Haut. Wer den kleinen Schritt über die Schwelle gemacht hat, wird aufs Wunderbarste verführt, mitgerissen und befindet sich mitten in Theresas Leben.

Die Vierzigjährige schwankt zwischen Depressionen und Euphorie. Die Termine beim Therapeuten macht sie blau. Das verschriebene Psychopharmakon nimmt sie nicht wegen der Nebenwirkungen. Theresa testet Grenzen aus, flunkert, lügt und belügt sich selbst. Meistens läuft die Beziehung zu ihrem Freund ganz wunderbar. Es sei denn, seine Ex funkt rein und will bei ihnen einziehen, dann knirscht und kriselt es gefährlich. Entgegen den Maximen des Zeitgeists versucht Theresa nicht, sich selbst zu optimieren oder ihr Leben.

Stattdessen kostet Theresa jeden Augenblick – egal ob schrecklich oder schön –leidenschaftlich aus. Luft anhaltend auf dem Boden eines Hallenbads, als Kellnerin von Malheur zu Malheur stolpernd oder beim Beobachten des Sternenhimmels. Von wo der titelgebende Riesenstern „Beteigeuze“ sie magisch anzieht. Theresas grenzenlose Neugier saugt die Gegenwart auf, streift durch die Vergangenheit und staunt über Bärtierchen, winzige Lebewesen, die nicht größer werden als ein Millimeter.

Zu den Reizen guter Literatur gehörte es immer schon, dass die Leser in fremde Köpfe gucken können. Das ist auch einer der Gründe für die Erfolgswelle von (Auto-) Biografien, Memoirs und Selbsterfahrungsbüchern. In vielen Fällen ähnelt sich, was in den Köpfen und Büchern der AutorInnen vorgeht: Coming-of-Age-Geschichten, in denen mehr oder weniger gejammert wird und viel psychologisiert. Schuld sind Eltern, PartnerInnen, Krankheiten oder der Turbo-Kapitalismus. Das alles mit Wörtern und Sätzen geschrieben, die fast austauschbar sind.  

Von so einer Massenware ist Beteigeuze weit entfernt. Theresa Neges ist ein einzigartiger, hoch sensibler Charakter, an deren Leben uns Barbara Zeman dank einer suggestiven, poetischen Sprache quasi körperlich teilhaben lässt.

Apropos „sensibel“ und „körperlich“. Zu den Kuriositäten unseres Zeitgeists gehört, dass „Gesundheits-Apps“ unseren Körper und seine Aktivitäten rund um die Uhr vermessen, dokumentieren und analysieren. Gewicht, Entspannungs- und Schlafphasen. Blutdruck, Puls, Kalorienverbrauch. Sauerstoffsättigung, den weiblichen Zyklus, sowie natürlich jede sportliche Betätigung. Ironischerweise sorgt so ein Zahlen- und Statistiksalat kaum dafür, dass wir uns besser kennen lernen oder uns in unseren Körpern wohler fühlen. Stattdessen heizen diese Apps mit „Idealwerten“ und „persönlichen“ Zielen den grassierenden Wettbewerbs- und Leistungsdruck zusätzlich an. Und damit die Entfremdung von unseren Körpern und von uns selbst.

Im Gegensatz zu so einem Datensammelfetisch ist Beteigeuze ein Triumph der Individualität, der Sinne und der Sinnlichkeit. Barbara Zemans elegant-präzise Beschreibungen von Eindrücken, Gefühlen, Selbstzweifeln, Wünschen und Träumen erzeugen einen Lese- und Sinnesrausch. Ihre einzigartige Sensibilität und rhythmische Sprache stecken dazu an, auch das eigene Leben mit so einer überbordenden Neugier und Genauigkeit zu beobachten und in vollen Zügen auszuschöpfen wie Theresa Neges. 

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