Eine Zukunft, die aus den Taschen rinnt
PenguinAbdulrazak Gurnah | Diebstahl | Penguin | 336 Seiten | 26 EUR
Abdulrazak Gurnah, 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, gehört zu jenen Schriftstellern, deren Werk sich nie laut in den Vordergrund drängt. Seine Romane leben von einer stillen, lakonischen Wucht; sie bestehen auf Langsamkeit in einer Zeit, die immer schneller wird. Diebstahl ist nun sein erster Roman seit dem Nobelpreis – und es ist ein überraschend unprätentiöses Buch, das sich weigert, wie ein „großer postnobelpreislicher Weltroman“ aufzutreten. Stattdessen wirkt es zunächst beinahe bescheiden, zurückgenommen, beobachtend. Und genau in dieser Zurückhaltung liegt seine subversive Kraft – auch wenn Gurnah dieses Mal nicht immer an die Tiefenschärfe seiner früheren Werke heranreicht.
Der Roman spielt im heutigen Tansania. Keine kolonialen Rückblenden, keine historische Tragödie im Hintergrund, kein Blick auf die alte Weltordnung am Indischen Ozean – all das, was man mit Gurnah verbindet, bleibt hier erstaunlich aus. Stattdessen rückt er eine andere Verwandlung ins Zentrum: den Einzug von Tourismus und Kapital auf Zanzibar, jene kreative Zerstörung, die das soziale Gefüge mindestens so radikal erschüttert wie einst die Kolonialherren. In dieser Perspektive erinnert Diebstahl frappierend an das großes Meisterwerk Broken Drum des kenianischen Autors David Maillu. Beide Romane erzählen gesellschaftliche Transformation nicht über Theorie, sondern über die kleinsten Bewegungen des Alltags, über familiäre Routinen, Lücken im Gespräch, beiläufige Grausamkeiten.
Die drei jungen Protagonisten – Karim, Fauzia, Badar – stehen stellvertretend für eine Generation tansanischer Weltbürger, die schneller denkt, träumt und handelt, als die Gesellschaft sich verändert. Karim kehrt nach seinem Studium zurück nach Daressalam, voller Ideen und liberaler Versprechen. Fauzia sieht in ihm sowohl ihren Geliebten als auch den Schlüssel zu einem Leben außerhalb der Überbehütung ihrer Herkunftsfamilie. Und Badar, der mittelloseste und zugleich empfindsamste der drei, versucht, der Schwerkraft seiner eigenen Herkunft zu entkommen. Schon hier lässt Gurnah eine soziale Hierarchie sichtbar werden, die mit kolonialen Ordnungen gar nichts mehr zu tun hat – und doch deren lange Schatten trägt.
Stilistisch wirkt Gurnahs Roman dabei zunächst irritierend beiläufig: Alltagsgeplapper, kleine Szenen, lose verknotete Dialoge, Momente, die beinahe redundant erscheinen. Man fragt sich anfangs, ob diese Prosa nicht zu beiläufig ist, zu leise, zu sehr dem Fluss des unbedeutenden Lebens verhaftet. Doch wie so oft bei Gurnah ist dieses scheinbar Unwichtige hoch artifiziell komponiert. Fast erratische Zeitsprünge – ein Satz und drei Jahre sind wie ein Wimpernschlag vorbei – öffnen die Textur und zeigen, wie brüchig dieses Leben ist. Die Figuren altern schneller, als sie wachsen. Chancen tauchen auf und verschwinden wie Küstenlinien im Monsunregen.
Dabei tragen einige Nebenepisoden eine überraschende emotionale Wucht. Etwa die Geschichte einer Frau, deren „wunschloses Unglück“ zwischen ihrem Kind, einer gutgemeinten, aber überfordernden Lehrerin und der Angst vor epileptischen Anfällen oszilliert. Diese kleinen Abgründe sind es, in denen Gurnah immer wieder zur alten Form aufläuft, präzise, leise, messerscharf.
Im Kern ist Diebstahl ein Roman über soziale Mobilität, über die Möglichkeit – und die Grenzen – des Aufstiegs in einem Land, in dem sich Wohlstand und Armut zunehmend zementieren. Die Frage, wer stehlen darf, wer bestohlen wird und wem überhaupt etwas gehört, wird im Roman immer politischer, je weiter die Handlung voranschreitet. Besonders Badars Lebensweg – geprägt von einem Diebstahl, der über ihn hinausweist – zeigt, wie die gesellschaftlichen Hierarchien wiederkehren, selbst wenn die historischen Rahmenbedingungen sich geändert haben. Gurnah deutet an, dass moderne tansanische Klassenschichten keine neuen Erfindungen sind: Sie reproduzieren längst etablierte Ungleichheiten und verschieben nur deren sichtbare Oberfläche.
Der Roman gewinnt an politischer Tiefe, je näher er der Gegenwart kommt. Die aufziehende Korruption, die leise Gewalt ökonomischer Abhängigkeiten, die Mechanik eines Staates, der seine Jugend ausbluten lässt – all das beschreibt Gurnah nicht frontal, sondern durch die Ritzen seiner Erzählung. Es genügt ein Nebensatz, ein Blick auf die sich verändernden Arbeitsverhältnisse, ein Kommentar am Straßenrand. Und plötzlich versteht man, warum die Wahlen in Tanzania Ende Oktober 2025 so desaströs verliefen – und weshalb es seltsamerweise nur auf Zanzibar keine Straßenschlachten gab. Der Roman liefert dafür eine subtile, geradezu unscheinbare Begründung: Eine Gesellschaft, die gelernt hat, mit Verlusten zu leben, rebelliert nicht sofort; sie stumpft ab, wird geschmeidig, passiv, erschöpft.
Doch so stark Gurnahs Beobachtungen auch sind, Diebstahl leistet sich Momente, in denen der Roman zu leicht wirkt, zu behutsam, zu unentschlossen. Das Ende etwa plätschert fast telenovelaartig dahin, als hätte Gurnah Angst gehabt, seinem Stoff ein eindeutiges, scharfes Finale zu geben. Vielleicht ist es Absicht – die Tarnung der Leichtigkeit, wie man sie aus lateinamerikanischen Erzähltraditionen kennt. Vielleicht aber fehlt hier die Konsequenz, die Gurnah in seinen früheren Romanen stets besaß.
Dennoch: Diebstahl ist ein kluger, ruhiger, manchmal widersprüchlicher Roman, der gerade durch seine Unaufgeregtheit besticht. Er zeigt ein Tansania, das zwischen Aufbruch und Stagnation taumelt, zwischen Tourismusboom und moralischer Auszehrung, zwischen alten Träumen und neuen Ungleichheiten. Gurnah liefert kein großes Lehrstück, keine These, keine Anklage. Aber er zeigt, wie eine Gesellschaft sich verändert, ohne es zu merken – und wie junge Menschen versuchen, darin nicht unterzugehen.
Und vielleicht ist genau das die größte Qualität dieses ersten Romans nach dem Nobelpreis: die Weigerung, sich auf die Erzählpflicht des „großen Werks“ einzulassen. Gurnah bleibt Gurnah – leise, klug, wach. Ein Schriftsteller, der Umbrüche in winzigen Gesten sichtbar macht. Ein Autor, der zeigt, dass das scheinbar Beiläufige oft das Politischste ist.
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