Auch die Sprache ist eine Waffe

Auch die Sprache ist eine Waffe

In ihrem Roman “Vierundsiebzig” nähert sich Ronya Othmann dem, dem man nicht standhalten kann. Es ist ein wichtiger Reiseroman zu Orten von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine beeindruckende Reise in die Tiefen des eigenen Ichs
Ronya Othmann - Vierundsiebzig
Ronya Othmann - Vierundsiebzig

Ronya Othmann | Vierundsiebzig | Rowohlt | 512 Seiten | 26 EUR

Was ist der Mensch? Wozu ist er fähig? Und die wohl für immer unbeantwortbare, tonnenschwere Frage: Warum? Am 3. August 2014 begann der Islamische Staat einen jahrelang andauernden Völkermord gegen die Jesiden in Syrien und Irak. Massenerschießungen. Vergewaltigungen. Sklaverei. Unsagbare Brutalität. Ronya Othmann ist betroffen, mehr als wir, die wir das Geschehen allenfalls in den Nachrichten verfolgten. Wenn überhaupt. Sie ist die Tochter eines atheistischen Jesiden (ein Widerspruch in sich) und einer deutschen Mutter. Obwohl sich der innerste Kreis ihrer Familie vor dem Ansturm der Horden retten kann, kennt sie doch einige der Opfer, sei es persönlich, sei es von Bildern oder vom Hörensagen aus Erzählungen der Familie. Ronya Othmann ist persönlich getroffen. Und sie muss sich, um mit allem am Ende doch irgendwie klarkommen zu können, dem Unsagbaren und dem Unanschaubaren stellen. Sie will es, sie muss es und, für uns andere so wichtig: Sie kann es auch.

Ronya Othmann geht dabei einen weiten Weg. Im Jahr 2020 veröffentlicht sie ihren ersten Roman, der ihre sommerlichen Besuche bei ihren Großeltern in Syrien zum Thema hat. Sie beschreibt eine harte, aber auch schöne und herzliche Welt unter dem Joch der Diktatur der Familie Assad und der Ablehnung als Ungläubige durch die muslimische Mehrheitsgesellschaft. Es ist ein dörfliches Leben, das für Kinder immer mit einer großen Freiheit einhergeht, die es in der Stadt so nicht geben kann. In ihrem Roman Die Sommer fixiert sie eine Welt, die der Islamische Staat für immer zerstört hat. Schon diesen Roman zu lesen ist nicht einfach, denn über allem schwebt das Wissen, dass es Jahre später zu einem Völkermord kommen wird. Dem 74., den die jesidische Religionsgemeinschaft in ihrer tausendjährigen Geschichte erlebt. Daher der Titel des Buches: Vierundsiebzig. Schon der Titel ist von einer Brutalität, der man als Leser nicht ins Auge sehen will, denn er impliziert eine mögliche Fortsetzung in der noch unbekannten Zukunft.

Ronya Othman | Die Sommer | Hanser | 288 Seiten | 22 EUR

Ronya Othmann schafft es, ihr Buch lesbar zu gestalten. Sie tut dies vor allem über die Schilderungen von Alltagsdingen, von scheinbaren Nebensächlichkeiten. Sie macht sich auf die Suche nach Fakten, das ist ihre erste Reise. Ihre zweite Reise führt sie an die Stätten des Grauens. Insofern ist das Buch ein doppelter Reiseroman. Doch ist dies wirklich ein Roman? Liest man den Text, ähnelt er eher einer Dokumentation. Doch dieses Verständnis ist zu kurz gegriffen. Denn das Label Roman ist hier auch ein Deckmantel. Ronya Othmann kann nicht einfach privat in Syrien und im Irak herumreisen und auf die Frage „Was willst du hier?“ antworten: Den Genozid an den Jesiden dokumentieren. Sie antwortet: Ich sammle Material für einen Roman. Nichts Politisches. Eine Vorsichtsmaßnahme, ein Überlebensreflex.

Höhepunkt ihres Erzählens ist die Fahrt in das Shingal-Gebirge (es gibt auch eine gleichnamige Stadt). In dieses Gebirge konnten sich viele Jesiden vor dem Islamischen Staat retten, die Kurden verteidigten erfolgreich dieses letzte Refugium. Beim Lesen lernt man nicht nur viele Einzelschicksale kennen, sondern wird auch über den Stand der Dinge in Syrien, dem Irak und dem beinahe unabhängigen irakischen Kurdengebiet informiert. Man liest: „Wir leben nicht, wir sind nur nicht getötet worden.“ Man liest: „Ich sage mir, ich muss diesen Text zu Ende bringen. Wenn der Text fertig ist, kann ich alles vergessen. Ich notiere auch: Für diesen Text gibt es kein Ende.“ Man liest: „Worte können nicht fassen, was ich sehe.“ Man liest: „Über Nacht waren alle IS. Und über Nacht sind alle wieder Zivilisten geworden.“ Als Deutscher versteht man das besser als die Mitglieder anderer Völker. Über Nacht waren die Deutschen einst (fast) alle Nazis gewesen. Aber aus der Niederlage im Zweiten Weltkrieg sind sie als Demokraten aufgewacht und gaben vor, dies immer gewesen zu sein. Was glauben Sie denn?

Und immer wieder: Es waren unsere Nachbarn, die uns verraten haben. Unsere Nachbarn, mit denen wir jahrzehntelang friedlich zusammengelebt haben, mit denen wir Tee tranken und gelegentlich gemeinsam ein Mahl teilten. Die ausländischen Kämpfer des Islamischen Staates wussten weder, was eine Jeside war, noch wie er aussah. Es waren die Nachbarn, die uns verraten haben.

Das Buch ist keine leichte Lektüre, kein Zeitvertreib. Aus seinen Tiefen steigen plötzlich grausame Bilder auf. Eine Verhandlung im Amtsgericht München, in einem Gebäude, in dem ich selbst einmal eine Gerichtsverhandlung erlebt habe. Eine Frau wird verurteilt. Sie hat ein fünfjähriges Mädchen in der Sonne verdursten lassen. Die deutschen Medien berichteten ausführlich über die Verhandlungen und das Urteil.

Alexandru Bulucz | Galante Lügen |  In der Sache Ronya Othmann

Plötzlich, nach dem Umblättern einer Seite, gibt es eine Namensliste getöteter Männer. Dreißig, vierzig Menschen. Die Schlächter des Islamischen Staates haben immer sofort die Männer und die Jungen aussortiert und erschossen. Ich muss mich anstrengen der Versuchung zu widerstehen, über die Namen hinwegzulesen. Ich will ihr Schicksal nicht an mich heranlassen. Ich gehe zum Abschnitt zurück und überfliege die Namen. Ich tue es nicht mit der Gründlichkeit, die angebracht wäre. Ich schütze mich.

Ronya Othmann liefert dem Leser kein fertiges Bild, weil sie selbst keines hat. Sie sagt an einer Stelle, dass es keine Geschichte, keinen roten Faden gebe. Sie liefert Puzzle-Stücke. Wie sie diese für sich selbst zusammensetzt, hält die Autorin geheim. Genauso ergeht es dem Leser: Er muss die Puzzlestücke selbst zusammensetzen. Was er dabei über den Genozid an den Jesiden, über die Autorin und über sich selbst erfährt, wird auch er für sich behalten. Der Inhalt des Buches ist kein Thema, das man auf Cocktail-Partys erörtert.

Der Name Ronya bedeutet Licht, Sonnenlicht, Sonnenstrahl. Ronya Othmann wirft ein scharfes Licht, scharf wie ein Laserstrahl, auf etwas, dass man nur zu gerne vergessen möchte. Ich habe das Buch an dem Tag zu Ende gelesen, an dem vor 30 Jahren der millionenfache Mord an den Tutsi in Ruanda begann. Und ich fragte mich, ob die Medien im August wohl darüber berichten werden, dass vor zehn Jahren der Völkermord an den Jesiden begann. Das ist es, was zählt: die Erinnerung. Das ist es, was so unerträglich ist: die Erinnerung. Möge das Buch „Vierundsiebzig“ in zahlreiche Sprachen übersetzt werden!

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