30 Jahre später
Patrick Nzabonimpa (Tom) ist Schriftsteller, Dichter und Journalist und lebt in Kigali, Ruanda.
Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994 ist eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte, denn er forderte in nur 100 Tagen über eine Million unschuldiger Menschenleben.
Drei Jahrzehnte später hallt diese Tragödie in der ruandischen Literatur immer noch nach. Sowohl die jüngere als auch die ältere Generation, ob im Lande selbst oder in der Diaspora, ringen nach wie vor mit den anhaltenden Folgen. In Memoiren und Autobiografien, historischen Berichten und Kindergeschichten findet sich bei ruandischen Autor:innen nach wie vor eine ausgesprochene Stimmen- und Perspektivenvielfalt hinsichtlich der komplexen Erinnerungen, Traumata und Widerstandskraft. So werden die Stimmen der Opfer und Überlebenden des Völkermords niemals vergessen.
Immaculee Ilibagiza | Left to Tell | 2015 Seiten | 9,99 USD
Die ruandische Amerikanerin Immaculée Ilibagiza ist eine der Autorinnen, die mit ihren 2006 erschienenen Memoiren Left to Tell (dt. etwa "Noch zu erzählen"), einem New York Times-Bestseller, maßgeblich dazu beigetragen hat, die Geschichte des Völkermordes an den Tutsi im Jahr 1994 ins weltweite Rampenlicht zu rücken.
Sie schildert die 91 Tage, die sie während des Völkermords mit sieben anderen Frauen in der Toilette einer Kirche verbrachte, wie sie überlebte und wie das Leben aus der Sicht einer Überlebenden aussah.
Yolande Mukagasana | Not My Time to Die | 210 Seiten | 9,99 USD
Ähnlich wie Ilibagizas Buch bietet auch Yolande Mukagasanas Not My Time to Die (dt. etwa "Nicht meine Zeit zum Sterben") erschütternde Berichte aus erster Hand über Überleben und Verlust während des Völkermordes – Zeugnis der Brutalität der Gräueltaten und zugleich der Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes.
Dieses Buch, das 1997 ursprünglich auf Französisch unter dem Titel La mort ne veut pas de moi (dt. etwa "Der Tod will mich nicht") veröffentlicht wurde, gilt als das erste publizierte Zeugnis einer Überlebenden des Völkermords an den Tutsi im Jahr 1994.
Die Biografie handelt von Mukagasana, einer Krankenschwester, die mit ihrer Familie bis zum Ausbruch des Völkermords ein normales Leben in Kigali führt. Als erfolgreiche Frau und Tutsi wird sie zur Zielscheibe und ist gezwungen zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Die Autorin schildert ihre Erfahrungen mit Verrat, unerwarteter Hilfe und ihre Hoffnung, ihre Kinder inmitten des Chaos zu finden.
Omar Ndizeye | Life and Death in Nyamata | 94 Seiten | 14,95 USD
Erinnerungen werden auch in weiteren Bücher geteilt, darunter in Life and Death in Nyamata von Omar Ndizeye, der während des Völkermordes 10 Jahre alt war. Das Buch schildert, wie er Zeuge der brutalen Ermordung geliebter Menschen wurde und zu einer Zeit, in der es geradezu unvorstellbar war, den nächsten Tag zu überleben. Zuflucht suchte er in einer Kirche im Bezirk Bugesera im Süden Ruandas. In dieser Biografie wird der Völkermord aus Ndizeyes Perspektive erzählt und trotz der grausamen, traumatischen Erfahrungen, die er durchlebte, mit einer gewissen Dankbarkeit.
Denise Uwimana | From Red Earth | 200 Seiten | 11,69 USD
Themen wie Verzweiflung, Akzeptanz und Abschluss werden in Denise Uwimanas From Red Earth erforscht. Es ist die Geschichte der Autorin, die während des Völkermords mehrere geliebte Menschen, darunter ihren Ehemann, verlor, als sie gerade ihren dritten Sohn zur Welt brachte. Zu ihrer Überraschung wurden Uwimanas Leben und das ihrer Kinder von einem Hutu (einem Angehörigen der ethnischen Gruppe, die nicht Zielscheibe war) verschont.
Frida Umuhoza | Frida: Chosen to Die: Destined to Live | 176 Seiten | 30 USD
Frida Umuhoza, die Autorin von Frida: Chosen to Die: Destined to Live erzählt ebenfalls ihre Erlebnisse während des Völkermords: Sie musste die brutale Ermordung ihrer gesamten Familie bezeugen, erhielt einen Schlag auf den Kopf und wurde zusammen mit 15 Familienmitgliedern begraben, kam aber wieder zu Bewusstsein und fand bei jemandem unerwartet Zuflucht. Diese Erinnerungen befassen sich mit Themen wie Trauma, Heilung und Wiederaufbau des eigenen Lebens nach einer Tragödie.
Die Schilderung von Kindheit, die von einer Tragödie überschattet wird, findet sich in vielen Aufzeichnungen über den Völkermord und erinnert an die Qualen, die Überlebende erleiden mussten, die jung mit solchen Schrecken konfrontiert waren.
Josiane Umulinga | Survived to Forgive | 180 Seiten | 30 USD
Im Buch Survived to Forgive erzählt Josiane Umulinga von ihrer Kindheit in Ruanda vor dem Völkermord, die von einer fröhlichen Atmosphäre im Kreise ihrer Familie und Freunde geprägt war. Doch die Gräueltaten, denen ihre Mutter und ihre fünf Geschwister zum Opfer fielen, lassen ihre Welt jäh zusammenbrechen. Die Autorin schildert tragische Überlebenserfahrungen, wie sie mit den verbliebenen Familienmitgliedern von Ort zu Ort zieht. Trotz des unermesslichen Verlusts und der Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sah, beschließt Umulinga, den Tätern zu vergeben. Sie findet Trost im Gebet und in der Einsicht, dass Vergebung eher die Geschädigten als die Täter befreit.
Albert Nsengimana, der während des Völkermordes sieben Jahre alt war, zeichnete ebenfalls schockierende Zeugnisse auf: wie der Völkermord vorbereitet und mit äußerster Grausamkeit ausgeführt wurde und eine Mutter ihr Kind erbarmungslos tötet.
Albert Nsengimana | Ma mère m'a tué |179 Seiten | 10,99 USD
In seiner Biographie Ma mère m'a tué, übersetzt "Meine Mutter tötete mich", erzählt er von seinen grausamen Erlebnissen: wie seine Mutter am Tod seiner Geschwister beteiligt war und versuchte, auch ihn zu töten. Er schildert eindringlich, wie die Mutter seine Kinder und auch seinen Onkel zu Interahamwe-Milizionären brachte, die sie töteten.
Moi, le dernier Tutsi, übersetzt "Ich, der letzte Tutsi", geschrieben von Charles Habonimana in Zusammenarbeit mit dem Franzosen Daniel Le Scornet, spiegelt ebenfalls die bittere Geschichte wider, die Habonimana während des Völkermords durchlebte, als er seine Eltern, Verwandte und Geschwister verlor.
Charles Habonimana | Moi, le dernier Tutsi | 189 Seiten | 3,99 USD
Habonimana, der damals 12 Jahre alt war, sah mit eigenen Augen, wie Interahamwe-Milizen Verwandte töteten, lebte aber mit ihnen zusammen und begleitete sie bei verschiedenen Angriffen, bei denen sie Tutsis töteten. Diese persönlichen Erinnerungen zeigen unter anderem, wie sich der Völkermord im elterlichen Dorf von Habonimana im ehemaligen Mayunzwe-Sektor der Gemeinde Tambwe in der Präfektur Gitarama im heutigen Ruhango-Distrikt der Südprovinz abspielte.
Dimitri Sissi Mukanyiligira | Do Not Accept To Die | 184 Seiten | 30 USD
Ein weiteres bemerkenswertes Genozid-Erinnerungsbuch ist Do Not Accept to Die von Dimitri Sissi Mukanyiligira, 2022 veröffentlicht. Das Buch erzählt von den Nahtod-Erfahrungen der Autorin während des Völkermords und stellt ihr Leben vor der Tragödie dem Leben danach gegenüber. Themen wie Resilienz und Hoffnung, aber auch Verzweiflung und Angst werden erforscht, während der Weg der Heilung beginnt.
Bei der Vermittlung der Geschichte des Völkermordes an den Tutsi im Jahr 1994 unerlässlich sind inzwischen Bilderbücher für ein junges Publikum.
Claver Irakoze | That Child is Me | 15 FRW
Bücher wie That Child is Me von Claver Irakoze sind behutsam geschrieben, fangen dabei aber die Schmerzen und den Liebeskummer ein, die der Autor während des Genozids erfuhr. Ins Auge springen die den Text begleitenden Illustrationen von Mika Hirwa, die Irakoses Geschichte einem junges Publikum erlebbar machen. Das Buch enthält Anregungen zur Diskussion – ein Beitrag zum Dialog zwischen Eltern und Kindern zu diesem wichtigen Thema.
Rupert Bazambanza | Smile Through The Tears | 72 Seiten | 16,65 USD
Smile Through the Tears: The Story of the Rwandan Genocide von Rupert Bazambanza ist ein weiteres illustriertes Buch über den Völkermord. Der im Stil einer Graphic Novel geschriebene Band gibt detailliert Bericht über den Völkermord. Durch die anschauliche Darstellung der Ereignisse von 1994 ist es für ältere Kinder geeignet.
Beiträge von Autoren, die nach dem Völkermord geboren wurden
Dominique Alonga | Tracing the Cracks | 99 Seiten
In jüngster Zeit ist in der Literaturszene Ruandas ein deutlicher Wandel zu beobachten: Immer mehr junge Autor:innen unter 30 Jahren wagen sich an wichtige Themen wie den Völkermord an den Tutsi.
Da die Kultur des Schreibens und Lesens an Fahrt gewinnt und junge Schriftsteller:innen sich von ihren Vorbildern inspirieren lassen, verändert sich die Literaturlandschaft merklich.
Zu den namhaften Autor:innen gehört Dominique Alonga, deren Novelle Tracing Cracks: A Rwandan Story ein lebendiges Bild des heutigen Lebens in Kigali zeichnet. Mit den Augen einer jungen Frau aus der Post-Genozid-Generation nimmt Alonga die Leser:innen mit auf eine Reise durch individuelle und kollektive Trauer und Widerstandsfähigkeit.
Laurette Annely Akaliza | Wet Under The Rainbow
Ein weiterer Beitrag kommt von Laurette Annely Akaliza mit ihrem Buch Wet Under The Rainbow, das sich mit den Nachwirkungen des Völkermords an den Tutsi im Jahr 1994 auf die junge Generation beschäftigt. Inspiriert von der Stärke der ruandischen Jugend, erforscht Akariza ihre täglichen Kämpfe und zeigt, wie das Trauma weitergegeben wird und vor welchen Herausforderungen die Jugendlichen stehen, wenn sie die Heilung ihrer Eltern unterstützen und gleichzeitig mit den Komplexitäten des modernen Lebens zurechtkommen müssen.
Honoré Busoro | Ikosa Ryemejwe
Ikosa Ryemejwe des 28-jährigen Autors Honoré Busoro bietet eine weitere aufschlussreiche Perspektive. Angeregt durch weit verbreitete Missverständnisse unter jungen Menschen über den Völkermord an den Tutsi im Jahr 1994, begab sich Busoro auf eine siebenjährige Recherchereise, auf der er Interviews führte. Mit der ersten Ausgabe, die 2019 erschien, wollte er mit Mythen aufräumen und Fragen beantworten. Wegen anhaltenden Interesses und der Leseranfragen veröffentlichte er eine zweite Auflage, die nun auf Kinyarwanda, Englisch und Französisch erhältlich ist. Diese aktualisierte Version enthält neue Kapitel, in denen Themen wie die Verbreitung falscher Narrative, die Bedeutung der Beteiligung von Jugendlichen an Gedenkveranstaltungen und das generationenübergreifende Trauma des Völkermords behandelt werden. Busoros Ziel ist es, Verständnis zu fördern und zum Heilungsprozess in Ruanda beizutragen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die ältere als auch die nach dem Völkermord geborene Generation ruandischer Autor:innen nach wie vor und immer wieder neu die Geschichte des Völkermord an den Tutsi von 1994 erzählerisch aufgreifen. In ihren Werken finden sich nicht nur die erschütternden wahren Begebnisse jener dunklen Tage und Zeugnisse ungebrochenen menschlichen Widerstandsgeistes, sondern auch Zeichen der Hoffnung für eine von Frieden, Gerechtigkeit, Einheit und Versöhnung geprägte Zukunft.