Regen, mit Schneeflocken vermischt

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Regen, mit Schneeflocken vermischt

Einer der letzten großen Erzähler Europas ist gestorben. Ismail Kadaré war nicht nur Chronist einer Zukunft der Vergangenheit, sondern auch Meister einer kristallinen Sprache, die Schnitte wie ein Skalpell zufügen konnte
Ismail Kadare
Bildunterschrift
Ismail Kadare 1990

Ismail Kadare [ismaˈil kadaˈɾɛ], geboren am 28. Januar 1936 in Gjirokastra; Gestroben am 1. Juli 2024 in Tirana, war ein albanischer Schriftsteller.

Die wichtigsten Autoren treten meist unverhofft in unser Leben. So ging es mir nicht nur mit Albert Ehrenstein oder Naguib Mahfouz  (und vielen anderen), sondern auch mit Ismael Kadare, den ich in der Buchhandlung "Das Gute Buch" in Halle entdeckte. Es gab damals, Ende der 1980er Jahre noch die DDR, und jeder Besucher aus dem Westen musste einen täglichen Zwangsumtausch von 25 Westmark leisten, für den es 25 Ostmark gab. Da Bücher in der DDR viel weniger als in der BRD kosteten, war die Anlage des Zwangsumtauschs in Bücher eine geradezu ideale Wertanlage. Mehr noch, als der DDR-Buchmarkt voller Überraschungen war.

So kam ich zu Ismael Kadare und meinem ersten Buch von ihm, dem Erzählungsband Die Schleierkarawane, dessen erster Satz mich wie fast alle ersten Sätze von Kadares Erzählungen und Romanen sofort in ihren Bann zog: "Niemals zu Beginn einer Fahrt hatte man Hadschi Milet so oft glückliche Reise gewünscht wie in jenen Tagen Anfangs September, da er im Begriff war, in die Länder des Balkans aufzubrechen."

Kadare berichtet in dieser kleinen Erzählung exemplarisch von einer Vergangenheit, die weit entfernt scheint. Mit seiner kristallinen, skalpellartigen Sprache erschließt er eine dicht komponierte Vergangenheit, um damit von der Gegenwart zu erzählen. Von einer Gegenwart, die genauso wie die Vergangenheit von der Plage eines totalitären Regimes heimgesucht worden ist. In Der Schleierkarawane ist es das Osmanische Reich, das in seinen willkürlichen, völlig unberechenbaren Entscheidungen ein Leben zerstört.  Kadare seziert diese Vergangenheit  mit seiner Sprache und seiner historischen Akkuratesse derartig präzise, dass das dabei austretende Blut zugleich gefriert und die Vergangenheit Vergangenheit bleibt. Zumindest für die Zensur des totalitären, von  Enver Hoxha regierten Albaniens. Und auch für die Zensur der DDR, weshalb ich natürlich überrascht war, dieses Buch hier entdeckt zu haben. Denn für die Leser, die des Ostblocks genauso wie für die der westlichen Welt, ließen sich Kadares Geschichten immer auch als subtiler Kommentar zum Leben in einer Diktatur lesen. Und zum Überleben als Künstler.

Anders als Ivo Andrić  in seiner  Brücke über die Drina war Kadares Osmanisches Reich in der Schleierkarawane oder seinem Palast der Träume (1981)  kein Experiment, wie ein multiethnischer Staat funktionieren könnte und damit Vorlage für ein funktionierendes Jugoslawien, sondern vielmehr eine transgenerationale Traumatisierung, die sich durch den Terror des Osmanischen Reiches bis in die Gegenwart eines Albaniens trägt, das durch Hoxha inzwischen nicht nur paranoide, sondern auch selbstzerstörerische Züge aufweist. 

Warum Kadare, obwohl einige Male nominiert, nicht wie Andrić den Nobelpreis erhalten hat, ist heute schwer nachvollziehen. Vielleicht war er einfach zu "politisch" und "europäisch". Denn in seiner Kritik an totalitären Systemen ist Kadare ganz nah bei dem ebenfalls hochpolitischen und großeuropäischen Manès Sperber und dessen auch heute noch wichtigen Roman Wie eine Träne im Ozean.  Das zeigt sich auch in früheren Werken wie Der General der toten Armee (1963), in dem Kadare so wie Sperber die Totenfelder des 2. Weltkriegs aufsucht, um gegen eine unbelehrbaren Gegenwart in den Kampf zu ziehen. Und in dem ebenfalls in einem großartigen ersten Satz fast alles gesagt wird, was wir später en détail erfahren werden: "Regen, mit Schneeflocken vermischt, ging auf die fremde Erde nieder."

1990, als die Zeit  Hoxhas eigentlich vorbei war, die Demokratie unter dem albanischen  Übergangsmachthaber Ramiz Alia jedoch  weiterhin verschleppt wurde, entscheidet sich auch Kadare für die "fremde Erde" und das Exil in Frankreich. Er schreibt weiter gegen das Vergessen einer totalitären Vergangenheit an und lässt in Der Nachfolger (2006) in düsteren Bildern noch einmal das Räderwerk eines totalitären Staatswesens aufleben. Vielleicht gerät das auch deswegen hoffnungsloser, ja fatalistischer als in früheren Romanen, weil Kadare jene Kritiker zum Schweigen bringen will, die Kadare inzwischen vorwerfen, zu sehr mit dem System unter Hoxha paktiert zu haben, ja sogar ein Günstling des einstigen Machthabers Albaniens gewesen zu sein. 

Doch vielleicht hat Kadare als jahrzehntelang "Betroffener" schon damals einfach nur ernüchtert erkannt, dass die Geschichte sich ein weiteres Mal zu wiederholen droht, da Autokratien und Diktaturen wieder selbstverständlich und salonfähig werden. Auch deshalb sollte man Kadare, der am 1. Juli 2024 mit 88 Jahren in Tirana gestorben ist, unbedingt wieder und wieder lesen.