Die Letzten ihrer Art
Es ist Sommer im globalen Süden (und Winter im globalen Norden), und für den Monat Januar bringt Literatur.Review sie alle zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Fritz Freithoff ist ein deutschsprachiger Autor, Übersetzer und Fotograf aus Namibia. Er wuchs auf einer Farm in der Nähe von Windhoek auf und migrierte später mit seinen Eltern zurück nach Hannover (Deutschland), von wo sein Großvater 1885 in das damalige Deutsch-Südwestafrika aufgebrochen war. Seitdem pendelt er regelmäßig zwischen Hannover und Lüderitz mit gelegentlichen Abstechern nach Kapstadt, wo er mit Julien Adler ein Antiquariat betrieben und die Authentic Africana Series herausgegeben hat.
Sah ich die Kinder meiner Schwester, dachte ich nichts Gutes über sie, denn länger noch, als es diese Kinder gibt, hatte ich schon ihren Vater in schlechter Erinnerung, über den ich stets mit Verachtung, ja sogar Wut, geredet habe.
Angefangen hat alles damit, dass Andreas meine Schwester heiraten wollte, als sie gerade ihre erste, schwere Krise hatte. Nachdem sie ihren großen Berufswunsch nicht erfüllen konnte, weil sie ein Mädchen war und Frauen als Geigenbauer keine Chance hatten, entschied sie sich für eine Floristenlehre; statt fürs Ohr wollte sie wenigstens fürs Auge arbeiten. Als sie mir damals davon erzählte, verstand ich beide Wünsche nicht. Denn meine Schwester war weder sonderlich musikalisch – bis auf die Blockflöte zu Weihnachten hatte sie nie ein Instrument gespielt – noch war sie ein Mensch, der sich in der Natur aufhielt, um deren Schönheiten zu genießen. Doch sie war tapfer und hielt die Ausbildung durch, auch wenn die Arbeit schlecht bezahlt war und die Kunden nur selten freundlich den kleinen Laden verließen, in dem sie angestellt war und ausgebildet wurde.
Mit der Liebe sah es nicht viel besser aus, waren es immer wieder nur kurze, schmerzhafte Einlassungen ohne viel Freude. Doch dann stand eines Tages Andreas in ihrem Blumenladen und lud meine Schwester zum Essen ein. Warum nicht, dachte meine Schwester. Die Ausbildung ist fast vorbei und es sieht nach einem erfolgreichen Abschluss aus, vielleicht läuft es ja auch mit den Männern besser. Beim Essen erzählte Andreas ihr, dass er gerade seinen Bundeswehrdienst abgeleistet habe und nun für die Bahn arbeiten werde, in seinem Traumberuf. Ach, Traumberufe, seufzte meine Schwester. Ja, Traumberufe, bestätigte Andreas, ohne auf ihren Seufzer einzugehen und er erzählte, wie schwer es mit seinem eigenen Traum für lange Zeit gewesen war. Er erzählte ihr die ganze Geschichte, eine lange Geschichte, die nicht so einfach sei, wie sie sich vielleicht anhöre: Es muss, erinnerte er sich mit ihr, in dem Jahr gewesen sein, als Top Gun erschienen war, sein einziger Lieblingsfilm. In diesem Jahr war es nur noch ein Jahr bis zu seinen Abiturprüfungen. Das lief auch alles sehr gut, er musste nur wenig lernen, war aber nur ein Notnagel, denn eigentlich hatte er sich ja schon nach der 10. Klasse und nach der mittleren Reife bei der Bahn beworben. Doch wegen eines Einstellungsstopps wurde er nicht genommen. Er hatte sich Wochen darüber geärgert, denn Eisenbahn war für ihn immer schon mehr als nur ein Beruf gewesen. Seit er ein kleiner Junge war, hatte er Modelleisenbahnen gesammelt. Aus allen Ländern, in allen Größen. Und im Keller seiner Eltern damit gespielt. Doch im Jahr von Top Gun, an einem Morgen, als er das Radio anstellte, um dann zu frühstücken, traute er seinen Ohren nicht, als er in einer Wirtschaftssendung hörte, dass die Bahn wieder ausbilde. In fast allen Bereichen. Am Nachmittag schrieb er seine Bewerbung, ohne mit seinen Eltern Rücksprache zu halten. Sie fielen aus allen Wolken, als er zwei Wochen später statt zur Schule zu einem Bewerbungsgespräch in die Bahnzentrale am Hauptbahnhof ging. Sie legten ihm jedoch keine Steine in den Weg. Auch nicht, als die Zusage kam und Andreas sich entschloss, die Schule nicht mehr bis zum Abitur zu besuchen, sondern stattdessen mit der Ausbildung zum Stellwerker zu beginnen, seiner Traumposition, in der er jetzt, nach der Bundeswehr, im Schichtdienst auch sein Geld verdienen würde. Meine Schwester seufzte wieder und sagte voller Sehnsucht: Schön.
Sie heirateten schnell, nur wenige Monate nach diesem Gespräch. Ich war zu ihrer Hochzeit eingeladen und freute mich, dass ich Zeit hatte, weil ich von einer langen Feldforschung an der kenianisch-ugandischen Grenze bei Esther und ihren Kindern rechtzeitig wieder zurück sein würde. Doch meine Freude löste sich in Nichts auf, als ich sah, dass Andreas in seiner Bundeswehruniform vor den Altar trat. Ich fragte meine Eltern, die neben mir saßen, warum er das nur mache. Das sei ein gutes Geschäft, antworteten sie mir. Er erhalte dafür eine stattliche Summe, von der deine Schwester und Andreas nahezu die gesamten Kosten der Hochzeit begleichen könnten. Dieser pragmatische Grund steigerte mein Entsetzen jedoch nur noch und sollte für die kommenden Jahrzehnte meinen Blick auf das Leben meiner Schwester prägen. Ich sah nur mehr, was sie war, aber nicht mehr, was sie wurde. Oder vielleicht besser ausgedrückt: alles, was sie und Andreas taten, sah ich durch die matten Fasern einer grauen Bundeswehruniform.
Als ich das erste Mal ihre gemeinsame Wohnung betrat, zeigte mir meine Schwester stolz alle Zimmer. Jedes war in einem anderen Pastellton freundlich gestrichen worden; die Möbel hatten sie alle bei Ikea gekauft. Es war eine helle, jugendliche Wohnung geworden. Im Schlafzimmer hatte meine Schwester am Bettende die Strickkuscheltiere drapiert, die unsere Mutter ihr im Laufe ihrer Kindheit geschenkt hatte; es waren vor allem Nilpferde, weil meine Schwester Nilpferde über alles liebte. Dabei hatten wir während unserer Kindheit in Namibia nie etwas mit Nilpferden zu tun gehabt. Wir wohnten an der Küste und unsere Eltern waren an so etwas Touristischem wie dem Besuch eines Nationalparks nicht interessiert.
Im Laufe der Jahre kamen andere Tiere hinzu, gekaufte Kuscheltiere jeder Art, aber immer wieder auch Nilpferde. Jahre später, als sie bereits drei Kinder hatten, die im schnellen Lauf von fünf Jahren geboren wurden und sie in eine größere Wohnung umgezogen waren, stellte ich erschrocken fest, dass inzwischen das ganze Schlafzimmer von Mara und Andreas voller Kuscheltiere war. Auf Regalen, am Kopfende des Bettes, aber auch an der gegenüberliegenden Wand waren Regale montiert worden, auf denen ausschließlich große und kleine Kuscheltiere saßen. Erschrocken war ich nicht so sehr über den bizarren Anblick als der Vorstellung, in dieser Umgebung Andreas und meine Schwester beim Sex zu sehen. Aber sie hatten ja drei Kinder bekommen. Doch die Vorstellung verwirrte mich, und ich hielt die Besuche kurz und versuchte jedes Mal, den Blick ins Schlafzimmer zu vermeiden.
Doch nicht nur wegen der Kuscheltieransammlung im Schlafzimmer hielt ich mich fern, sondern auch, weil ich die Monologe meiner Schwester über Erziehung kaum ertrug. Denn war ich einmal da, gingen wir sofort mit den Kindern spazieren, meist auf einen nahe gelegenen Bauspielplatz. Kaum saßen wir dann auf einer der Bänke und die Kinder spielten, erzählte sie mir von den anderen Eltern, denen es nicht gelang, die Erziehung ihrer Kinder in den Griff zu kriegen, von Kindern, die unglücklich waren, weil ihnen das Herz einer Familie fehlte, oder weil die Eltern sich nicht kümmerten. So ging das die ganze Zeit. Ohne Unterlass erzählte sie von ihrem besseren Erziehungsmodell, dass allein darin bestand, sich wie hinter einer Wagenburg im wilden Westen gegen die übermächtigen Indianer zu wehren, und um fünf Uhr bereits zu Abend zu essen und niemals Alkohol vor den Kindern und auch sonst nur in Ausnahmefällen zu trinken.
Wurde mir meine Schwester mit ihrem Dogmatismus immer fremder, erlebte die Beziehung zu Andreas eine positive Neubewertung. Zwar konnte ich weiterhin nicht die Bundeswehruniform aus meinem Kopf kriegen, aber ich begann Andreas für seine berufliche Leidenschaft zu respektieren. Das mag sich ein wenig steif anhören, aber Respekt ist auch nach längerem Nachdenken tatsächlich das richtige Wort, um die beeindruckende berufliche und private Symbiose zu beschreiben, die Andreas inzwischen erreicht hatte.
Denn egal, was passierte: dass sein Sohn wegen Volltrunkenheit von der Polizei nach Hause gebracht, die kleinere Tochter wegen eines Judounfalls nicht bei der Polizei genommen wurde und die ältere Tochter einen Bodybuilder als Freund hatte – all das perlte an Andreas ab, als wäre es nicht sein Leben. Regte sich meine Schwester über diese Fehlschläge ihres pädagogischen Plans immer wieder auf, erst recht, als sich ihr Sohn bei der Bundeswehr einschrieb, aber nach einem Jahr wieder ausschied und die bis dahin abgeleistete Ausbildung als Luftfahrttechniker nicht anerkannt wurde und ihr Sohn in eine Depression versank, so sah sich Andreas diese Schlingerbewegungen des Lebens an, als säße er in seinem Stellwerk und müsste nur ein paar Signal-Befehle auslösen, um den Zug des Lebens wieder auf das richtige Gleis zu bringen.
Und irgendwie wurde dann auch immer wieder alles gut. Sein Sohn wurde bei der MTU, einem Triebwerkshersteller übernommen und er war dort so glücklich, dass auch die kleine Tochter darüber ihren Traum als Polizistin vergaß und eine Ausbildung bei der MTU begann. Und seine älteste Tochter hatte Glück mit ihrem Bodybuilder, der inzwischen einen wichtigen Posten in einem Möbelhaus bekleidete und die älteste Tochter auf einer großen, rauschenden Hochzeit ehelichte, zu der ich nicht eingeladen wurde.
Obwohl mir dieser Ausschluss weh tat, freute ich mich für Andreas. Denn die Weichen waren alle richtig gestellt worden und ich denke heute (nicht damals), dass es nicht nur meiner stets so streng erziehenden Schwester anzurechnen war, dass die Züge wieder Fahrt aufgenommen hatten, sondern das beide ihren Anteil daran hatten. Dieses Umdenken kostete mich viel Kraft. Denn es bedeutete nichts weniger, als die Bundeswehruniform aus meinem Kopf zu bugsieren und stattdessen Andreas mit seiner blinden Zuversicht und ruhiger Gelassenheit, mit der er seinen beruflichen Traum erfüllte, und damit ja auch Vorbild für seine Kinder wurde, anzuerkennen.
Dieser Wunsch nach einer Korrektur meines Denkens (und Schreibens) entstand während meines letzten Besuchs bei meiner Schwester, der wie immer nicht länger als eine Stunde dauern sollte, weil mich spätestens dann eine aggressive Beklemmung ummantelte und ich mich verstellen musste, um Mara nicht durch ein grobes Wort zu verletzen. Schon nach einer halben Stunde verschloss ich mich wie immer und stellte keine Fragen mehr und erzählte auch nichts mehr. Bei meinem Besuch vor diesem Besuch hatte ich mich nämlich wieder hinreißen lassen, weil ich meine Wut dann doch artikulieren wollte. Ich hatte Mara von einer Reise in die Heimat unserer Kindheit erzählt, zu David in Windhuk, mit dem wir als Kinder oft gespielt hatten, weil er auf der benachbarten Farm mit seinen Eltern wohnte, die mit unseren Eltern befreundet waren, so dass wir hin und wieder auch gegenseitig übernachteten, damit die Eltern zu den wenigen Festivitäten fahren konnten, die es im deutschen Zirkel von Lüderitz gab. Weil mich die Enge und die Strenge im Haushalt meiner Schwester aufregte, betonte ich das Spontane, das völlig Unvorhersehbare, das Kinderlose, das Chaos in Davids Haus, das sich bis auf sein Auto ausdehnte, das einem rollenden Mülleimer glich. Weil ich wusste, dass meine Schwester sich an David erinnerte, früher ja vielleicht sogar in kindlicher Liebe zu ihm verbunden war, betonte ich auch Davids überaus spontane berufliche Neuausrichtungen, die alle drei Jahre stattfanden. Ich erzählte von Davids Mutter, an die sich meine Schwester nur vage erinnerte und die David immer sein gelassen hatte, was immer er auch tat, so dass David und seine Mutter Freunde wurden. Den schönsten Moment mit seiner Mutter erlebte David allerdings erst spät – und das erzählte ich meiner Schwester sehr ausführlich – als seine Mutter ihn vor ein paar Jahren einlud, mit ihren Freundinnen nach Mariental zu fahren. Denn öfter als in all den Jahren zuvor, die ihre Familie nun schon in Namibia lebte, gab es nun Regenfälle, die über der rotgelben Wüste niedergingen. Und war der Regen gefallen, brachen Davids Mutter und ihre Freundinnen, die inzwischen alle an die 70 Jahre alt waren, in das nicht weit gelegene Mariental auf, weil sie wussten, dass dort am Morgen nach den Regenfällen die schönsten Blumen blühen würden. Schöner als irgendwo im ganzen Land. Sie hatte ihn wahrscheinlich mitgenommen, weil er wieder eine seiner schweren Phasen hatte, aber auch, weil er diesen spontanen und kurzlebigen Frühling in der Wüste noch nie erlebt hatte. Sie übernachteten auf Decken unter freiem Himmel und als David mit seiner Mutter und ihren Freundinnen aufwachte, war er von einem Meer aus Blumen umgeben, einer Schönheit, von der er sich nie erholen würde. Von seinem Selbstmord kurz nach meinem Besuch, dem Gewehr und den Blutspritzern, die auch noch Monate später an der Decke seines Zimmers zu sehen sein würden, erzählte ich meiner Schwester nichts. Und auch von meiner Trauer schwieg ich, weil ich bis heute nicht weiß, warum die Suizidrate bei den wenigen verbliebenen deutschen Siedlern in Namibia so hoch ist und sogar Menschen, die gar nicht einmal auf den typischen Heimatbegriff dieser Minderheit angewiesen waren, die Heimatalternativen hatten, wie der Schriftsteller Giselher Hoffmann in Berlin, durch diesen so schwer zu bändigenden Strudel hinabgezogen wurden. Vielleicht schwieg ich, weil ich es selbst mit der Angst bekam, der Nächste zu sein, der sich sein Jagdgewehr an den Schädel drückt. Aber ganz sicher schwieg ich, weil ich meine Schwester verunsichern und von ihrem geradlinigen Weg abbringen wollte.
Meine Schwester kommentierte dieses so andere Leben mit keiner Silbe, umso mehr erzählte sie aber gleich darauf von ihrem Leben, in einer Art und Weise, die wie immer einer Pressemitteilung glich und die mir deutlich machte, dass Davids Geschichte durchaus ihre Wirkung gehabt hatte.
Ein Jahr nach diesem Besuch hörte sie sich jedoch genauso an, als sie mir erklärte, dass ihre Arbeit in dem Taekwondo-Studio immer mehr Aufmerksamkeit erhalte, ja sogar in den regionalen Tageszeitungen erwähnt würde. Zwar gebe es immer noch die gemischten Gruppen mit einem hohen Jungenanteil, die von den Gründern des Studios trainiert würden, deren Eltern vor 50 Jahren aus der Türkei nach Deutschland migriert waren, aber ihre Mädchenklassen seien jene mit dem größten Wachstumspotenzial. Denn in Deutschland, sagte meine Schwester jetzt mit roten Wangen und sehr erregt, sei es ja nun viel gefährlicher für Mädchen geworden, weil mit jeder neuen migrantischen Welle Menschen aus einem Kulturraum nach Deutschland kämen, die das öffentliche Auftreten junger Mädchen falsch interpretierten und deshalb eine Grundausbildung in körperlicher Verteidigung für unsere Mädchen eigentlich verpflichtend sein müsse. Aber es gibt auch noch eine andere Gruppe, sagte meine Schwester, die fast noch wichtiger sei. Die traumatisierten Mädchen. Mädchen, die im Laufe ihres Lebens missbraucht worden seien und über ihr Training wieder Anschluss an ein gesundes, ganzheitliches Leben finden würden. Ich musste lachen. Das könnte ja nicht besser in diese Zeiten passen! Wie meinst du das? Meine Schwester schaute irritiert und ich überlegte, ob ich es ihr, die kaum Zeitungen las, erklären sollte. Ich erzählte ihr von Harvey Weinstein und was das alles ausgelöst hatte und von Me-Too und diesem ganzen Quatsch vermeintlicher migrantischer Wellen. Meine Schwester nickte, um dann zu einem neuen Monolog auszuholen, der herausstrich, dass die Weinstein-Frauen sicherlich nichts mit ihren missbrauchten Mädchen zu tun hätten, dass die ja gewissermaßen Missbrauch light erlitten hätten. Letztendlich sei es ja wohl auch immer ihren Karrieren zuträglich gewesen. Ich spürte die alte Beklemmung und eine leise Wut in mir aufsteigen und brach das Gespräch ab, indem ich ihr sagte, dass ich Andreas gern noch sprechen würde, der drüben im ehemaligen Kinderzimmer an seinen Eisenbahnen werkelte.
Ich staunte über die vielen transparenten Plastikkisten, die sauber gestapelt einen Großteil des Zimmers bedeckten; im hinteren Teil befand sich die große Platte, auf der die Modelleisenbahn aufgebaut war und an der Andreas stand und etwas anschraubte. Ich strich mit meiner Hand über die Kisten wie über die Ähren eines Weizenfeldes. Das sind alles Modelle, die es einmal gab? Alles Eisenbahnen? Andreas hob seinen Kopf von der Platte und lächelte mich an. Oh ja, Modelle aus über vierzig Jahren. Ich habe meine erste Eisenbahn schon mit 13 Jahren gekauft. Ab dann gab es für mich eigentlich nichts anderes mehr, auch beruflich nicht, wie du ja weißt. So wie Joseph Conrads Held in seinem Roman Lord Jim, der seinem Traum bis zum Ende gefolgt ist, dachte ich, nur ist Andreas kein Schiff untergegangen, verfolgt er einen viel reineren Traum, einen ohne Schuldgefühle und ohne ein tragisches Ende, sollte alles so weitergehen wie bisher. Er blickte wieder auf die Schienen, die er an einer Stelle neu legte und versank wieder in sein Spiel, das während seiner Schichten dann Ernst wurde, ein Schichtdienst, den er schon lange hätte nicht mehr leisten müssen, hätte er sich auf eins der vielen Beförderungsangebote eingelassen und in die Verwaltung gegangen.
Als er fertig war, ließ er einen der Züge fahren und das Lächeln, das sich im Moment des Fahrtantritts auf sein Gesicht legte, korrespondierte mit dem Lächeln meiner Schwester, die zu uns gekommen war und im Türrahmen stand. Ich verstand plötzlich, was die beiden aneinander hatten. Ich musste an Tom Cruise und seine nach über dreißig Jahren in die Kinos gekommene Top Gun-Fortsetzung Maverick denken. Auch Cruise gab seiner Rolle dieses Lächeln, auch Pete Mitchell hatte sich nie befördern lassen, sondern seine Flugzeuge so gepflegt und geflogen, wie Andreas seine Eisenbahnen dirigiert hat, zu Hause genauso wie im beruflichen Leben.
Für meine Schwester ist Andreas ein Kampfpilot der alten Schule und für ihn ist meine Schwester, die ihre Kinder immer gegen all die Unbill des Lebens verteidigt hat und es nun mit jungen Mädchen ebenso tut, ebenfalls eine Kämpferin der alten Schule. Aber warum dachte ich in diesem Moment an alte Schule und schreibe es nun auch so nieder? Weil sie einer aussterbenden Spezies angehören, sie sind wie die alten Kumpel in den Gruben des deutschen Ruhrgebiets und im Norden Englands, für die der Beruf, so grausam er auch war, nie nur Beruf, sondern immer das ganze Leben gewesen ist.