Die Abenteurerin

Es ist Sommer im globalen Norden und Winter im globalen Süden. Grund genug, im August auf Literatur.Review Sommer und Winter zusammenzuführen und bislang unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt zu veröffentlichen.
Jessica Zafra, geboren 1965, ist eine der bekanntesten Autorinnen der Philippinen. Sie schreibt Kolumnen für Publikationen wie den New Yorker und Newsweek, vor allem zu kulturellen Themen, ist Film- und Literaturkritikerin, arbeitet als Fernsehjournalistin und schreibt Drehbücher. „Ein ziemlich böses Mädchen“ (The Age of Umbrage), 2021 auf den Philippinen veröffentlicht, ist ihr erster Roman und erreichte 2024 die fünfte Auflage. Auf Deutsch erschien er 2025 im Transit Verlag.
Sie war sehr schön und hatte immer ihren Willen bekommen. Während ihrer gesamten Kindheit erzählte man ihren Eltern, dass ihre Schönheit ihnen großes Glück bringen würde. Für ihre Eltern, einfache Bankangestellte, bedeutete dies, dass sie eine Schönheitskönigin oder eine berühmte Schauspielerin werden würde und sie nie wieder arbeiten müssten. Ihre Bildung – wozu auch, sie würde sie ja nicht brauchen – war bescheiden, und so war sie furchtbar ungebildet. Kaum war sie aus den Windeln heraus, klopften die Talentsucher an. Als Kind trat sie in TV-Werbespots auf. Als sie als Teenagerin an Schönheitswettbewerben teilnahm, wurden die anderen Mädchen ganz kleinlaut und brachen in Tränen aus, denn wie sollten sie mit ihr schon mithalten können? Ein Modedesigner verkündete, sie sähe aus wie Rita Hayworth – das war in Zeiten vor dem Internet, also konnte noch niemand googeln, was er damit im Sinn hatte. Sie qualifizierte sich automatisch für das Halbfinale, weil sie schlichtweg schön war. Doch sie war auch faul und bockig und machte keinen Hehl daraus, dass sie dachte, alle seien ihr unterlegen. Ihre Eltern bettelten und beschwatzten sie deswegen vergeblich. Bald war sie ständig die Zweitplatzierte, und es gab keine Wettbewerbe mehr, an denen sie hätte teilnehmen können.
Ein Talentmanager verschaffte ihr kleine Rollen in ein paar Filmen, aber sie kam immer zu spät zum Set und machte keinerlei Anstrengung, sich ihren Text zu merken. Nicht einmal die Casting-Couch, auf der sie eigentlich das Sagen hätte haben können, konnte die Produzenten von ihrem Gott abbringen: Profit. Und dann kamen die Neunziger und sie war 25.
In einer Bar in Malate wurde sie von einem Enddreißiger aus Saudi-Arabien angequatscht. Seine Armani-Hemden, Ralph-Lauren-Jeans, Gucci-Slipper und die glänzende Rolex verhießen, dass er der Mann war, auf den sie und ihre Eltern gewartet hatten. Eine Woche später wohnte sie in seiner Suite im Hotel Intercontinental, in der sich bald die Einkaufstüten aus den teuersten Geschäften Manilas stapelten. Sie brauchte nur einen Blick auf ein Kleid oder ein Schmuckstück zu werfen, und schon kaufte er ihr es. Sie hatte ihre Berufung gefunden, die darin bestand, von einem reichen Mann gehalten zu werden. Es war nicht so, dass sie über verhandelbare Fähigkeiten verfügte. Die Einwände ihrer Eltern, die Kirchgänger waren, wurden schnell durch Geschenke wie große Flakons mit französischem Parfüm, eine Clutch von Louis Vuitton und die neuesten Nike-Turnschuhe für ihre jüngeren Geschwister entkräftet. Sechs Monate später kaufte ihr der saudische Mann eine Eigentumswohnung in einem adretten Gebäude in Legazpi Village – ein Studio, aber das war ja erst der Anfang. Wenn sie erst ein Kind bekäme, würden sie in eine schicke Wohnanlage wie Corinthian Gardens ziehen, wo sie Dienstmädchen und Fahrer haben würde, die ihr Wünsche nach Lust und Laune erfüllen würden.
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Zwei Monate später verkündete er ohne die geringste Vorwarnung, dass er nach Dschidda zurückkehren müsse, um ein anständiges muslimisches Mädchen zu heiraten. Er konnte nichts machen, seine Eltern hatten es befohlen. Sie war außer sich und drohte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, doch drei Tage später war er weg.
Also ging sie nach Malate, in die Bar, in der sie den Saudi kennengelernt hatte, und betrank sich bis zum Umfallen. Um Mitternacht hatte sie ihre Schuhe ausgezogen und tanzte auf einem Tisch, umgeben von gaffenden, lechzenden Männern, die ihr zujubelten. Um 3 Uhr morgens fiel sie in Ohnmacht. Als sie mittags aufwachte, lag sie nackt im Bett mit einem ebenfalls nackten Mann. Er schaute sie an und sagte mit einem komischen Akzent: „Willst du mich heiraten?“
Sie sah ihn an, als hätte sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. In der Tat, sie hatte ihn ja noch nie in ihrem Leben gesehen. Er war blass und dünn, mit einem Büschel Brusthaar, das heller war als das schmutzige Blond auf seinem Kopf. Sein Gesicht war lang und schmal und wurde von einer großen Hakennase in zwei Hälften geteilt. Er hatte tief liegende, feuchte Augen und den Blick eines gutmütigen Papageis. Gähnend fragte sie „Wer sind Sie?“, streckte ihre Glieder und schreckte vor dem Sonnenlicht zurück, das durch den Spalt zwischen den Vorhängen fiel.
„Charles“, sagte der Fremde, und sein Lächeln zeigte kleine, schiefe Zähne. Er hatte ein nettes Gesicht. Ein freundliches. Der Saudi-Araber war auch nett gewesen – bis er es nicht mehr war.
„Willst du mich heiraten?“, wiederholte er.
Was hatte sie schon zu verlieren? „Okay.“
Charles kam aus Paris, wovon sie schon gehört hatte, in Frankreich, was sie nicht kannte. Außerdem war er auch reich, wie seine Garderobe, sein Hab und Gut und sein allgemeines Auftreten zeigten. In einem Monat würde er nach Paris zurückkehren und wollte, dass sie mit ihm kam. Durch seine Kontakte im französischen Konsulat würde er ihr ein Visum besorgen, und sie würden heiraten, noch vor sie nach Paris abreisten. Sie hatte Paris in einem Film gesehen, es sah wunderschön aus. Sie hatte genug von Manila, von ihren habgierigen Eltern und Freundinnen, die sich in ihrer Gegenwart besonders fest an ihre Freunde klammerten – als ob sie etwas dafür konnte, dass sie sie wollten. Was sollte sie tun, sich hässlich machen? Wie sollte sie das überhaupt bewerkstelligen?
Die Trauung wurde von einem Richter durchgeführt, und am nächsten Tag flogen sie nach Paris. Sie war enttäuscht, dass sie in der Economy-Class saßen, aber nur, weil sie durch den Vorhang, der sie von der Business Class trennte, einige gut gekleidete Leute gesehen hatte.
In Paris checkten sie ein in ein Hotel mit Blick auf die Seine. Auf einer Bootsfahrt zeigte er ihr die Sehenswürdigkeiten. Sie sah die Kathedrale Notre Dame, wo der Bucklige die Glocken läutete. Die sah alt aus, warum bauten sie nicht gleich eine neue? Sie sah den Louvre, in dem einst Könige lebten, und dachte, wie anstrengend es sein musste, von einem Ende zum anderen zu laufen. Sie würde jetzt also Pariserin werden.
Drei Tage später checkten sie aus dem Hotel aus und nahmen ein Taxi zu Charles' Haus. Aufgeregt umklammerte sie den Arm ihres Mannes. Ihr neues Leben breitete sich vor ihr aus, in einem dieser prachtvollen Häuser, die wie eine Hochzeitstorte aussahen. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin. Dann bog das Auto in eine enge Straße ein, und der große Boulevard verwandelte sich in ein Gewirr von grauen Straßen mit Geschäften und Kiosken. Sie hätten auch in Manila sein können, mit Verkehrsstau, Müll und den zwielichtigen Gestalten an den Straßenecken, die darauf warteten, sich auf einen ahnungslosen Fußgänger zu stürzen. Wie in ihrem alten Leben, das sie zum Glück hinter sich gelassen hatte. Und dann sagte Charles dem Fahrer, er solle vor einem schäbigen chinesischen Restaurant namens Le Canard Chanceux anhalten.
„Aber ich habe noch keinen Hunger, es ist noch früh“, meinte sie.
„Du bist echt lustig“, sagte ihr Mann, aber lachte dabei nicht. Er stieg aus dem Auto und begann, ihr Gepäck auszuladen. Eilig stieg auch sie aus, damit er ihren neuen Louis Vuitton-Koffer nicht auf dem schmutzigen Beton abstellte. Was sollte das? Wechselten sie den Wagen? Dann fuhr das Taxi weg, und Charles trug ihre Koffer zu einer Tür neben dem chinesischen Restaurant. Er tippte ein paar Zahlen in ein Kästchen, und die Tür öffnete sich mit einem Klick.
„Komm schon, worauf wartest du?“ fragte Charles.
„Ich ... ich ...“ Sie stand wie angewurzelt da. Die vergangenen Wochen schienen wie ein ferner Traum. Die Welt hatte ihr ein Glas Eiswasser ins Gesicht geschüttet und sie wachgerüttelt.
„Perdita!“
Ich bin Perdita Lozada Bouyer aus der schönen Stadt Manila!
Unterwürfig schleppte sie ihren neuen Koffer über die Schwelle und die schwach beleuchtete Treppe hinauf in ihr Pariser Leben.
Charles' Eltern waren reich, Charles hingegen nicht. Die Franzosen sind nicht wie die Filipinos, deren Kinder bis weit über die Kindheit hinaus verwöhnt werden. Charles arbeitete in einer Versicherungsgesellschaft und lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ein Zimmer war sein Schlafzimmer, das andere war voll mit Kisten und Sportgeräten. Das Badezimmer war winzig, mit einer Badewanne, einer Waschmaschine und einem Trockner darin. Die Toilette befand sich in einem separaten Raum, war noch kleiner und hatte nicht mal ein Waschbecken. In den Fluren roch es nach Fett, Ingwer und einem Gewürz, das nach Füßen roch. Perdita war zum Weinen zumute. Sie wollte kehrtmachen und nach Manila zurück, diese ganze Episode wie einen trunkenen Albtraum hinter sich lassen. In diesem Moment holte Charles ihren Reisepass aus seinem Mantel und steckte ihn in eine Aktentasche: „Da ist er sicher“, sagte er, während das Zahlenschloss zuschnappte. Die Aktentasche wanderte in den hinteren Teil des Schranks. Auf absehbare Zeit saß sie in der kleinen Wohnung über einem stinkenden Restaurant in einem schmuddeligen Gebäude in einem nicht gerade schicken Viertel von Paris fest.
Morgens ging Charles zur Arbeit und sie blieb im Bett, bis sie Hunger bekam. Dann zog sie sich einen Mantel an und ging, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Haar zu kämmen, hinaus, um irgendetwas zu essen. Charles gab ihr ein Taschengeld, und sie aßen jeden Abend auswärts, damit sie nicht kochen musste. Jeden Mittwoch putzte eine Frau aus Ghana die Wohnung und machte die Wäsche. Die Putzfrau war schwarz. Perdita hegte eine irrationale Angst und Misstrauen gegenüber schwarzen Menschen, es sei denn, sie waren Basketballspieler und damit reich. Reiche Menschen waren automatisch vertrauenswürdig. Die ersten paar Male, als die Putzfrau in die Wohnung kam, behielt Perdita sie genau im Auge, in der Erwartung, dass sie sich mit ihrer Cartier-Uhr oder ihrer Chanel-Tasche davonmachen würde. Nach ungefähr einem Monat hörte sie damit auf. Soll sie sich doch nehmen, was sie will, Hauptsache, sie kommt da raus.
Aber wohin sollte sie gehen? Immer wenn sie ziellos durch die Nachbarschaft lief, bemerkte sie die Blicke, die ihr die Männer auf der Straße zuwarfen. Es waren die Blicke, die sie erntete, seit sie neun Jahre alt war – Überraschung, gefolgt von Bewunderung, die sich rasch in Begehrlichkeit wandelte. Die Männer wollten sie besitzen wie eine Uhr oder ein Paar Turnschuhe. Als sie jünger war, vor nur zwei oder drei Jahren, hatte sie sich an der Macht über sie ergötzt und sie so lange zappeln lassen, bis sie bereit waren, sich das Herz aus dem Leib zu reißen und ihr dieses blutige, pochende Etwas zu schenken. „Ohne dich werde ich sterben“, hörte sie unzählige Male, wie den Refrain eines schlechten Popsongs. Als sie einwilligte, die ihre zu sein, war es geradezu rührend zu sehen, wie glücklich sie waren. Sie wiederum fühlte sich wie eine Göttin, die den unglückseligen Sterblichen ihren Segen spendete. Es war, als hätte sie sündhaft teuren Champagner direkt aus der Flasche in sich hineingekippt. Dann jedoch würde sich unverhofft etwas ändern. Die Männer erwachten aus ihrer tiefen Benommenheit und befreiten sich allmählich von ihrem Zauber. Sie wollten sie immer noch haben, aber ihre Macht begann zu schwinden, und schon bald war sie nur noch ein Besitz, wie eine Uhr oder ein Paar Turnschuhe.
Perdita, die in der Schule nie aufgepasst hatte, ertappte sich dabei, wie sie zum ersten Mal in ihrem Leben nachdachte. Mal abgesehen von den Umständen, in denen sie sich befand, war es erfrischend, dass sie ihren Verstand entdeckte. Es bedurfte keinen langen Überlegungen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Lösung für ihr Problem nicht in einem anderen Mann lag: Dies hieße lediglich, den Gefängniswärter austauschen. Im philippinischen Fernsehen hatte sie viele Reportagen über philippinische Migrantinnen und Migranten gesehen, die vor ihren misshandelnden Arbeitgebern oder ausländischen Ehemännern (oft handelte es sich um ein und dieselbe Person) geflohen waren und bei der philippinischen Botschaft Hilfe gesucht hatten. Das wäre doch allzu peinlich. Außerdem ahnte sie, dass eine Rückkehr nach Manila keine Lösung war. Sie würde bloß zurückkehren wie ein Hamster in sein Rad, immerzu laufen, aber nur auf der Stelle treten. Jetzt würde sie ihren Aufenthalt in Paris erst einmal als Urlaub von ihrem Leben betrachten. Charles war gar nicht so schlimm, er verlangte wenig und wollte lediglich gemocht werden.
Sie war seit einem Monat in Paris, als Charles eines Tages aufgeregt nach Hause kam. Seine Mutter hatte sie für den nächsten Tag zum Mittagessen eingeladen. Melanie, Professorin an der Universität Paris VII, sei die eleganteste und kultivierteste Frau der Welt, erklärte er. Perdita sollte ihr bestes Outfit tragen und sich von ihrer charmantesten Seite zeigen, wenn sie dieser Dame von Welt vorgestellt wurde. Sie verbrachten den ganzen Abend damit, zu üben, wie man „Bonjour“, „Merci“ und „Madame“ richtig sagt.
Keiner der Männer, mit denen sie bisher zusammen gewesen war, hatte sie jemals seiner Mutter vorgestellt. Sie ahnte, dass es sich um einen bedeutenden Anlass handelte, und war entschlossen, trotz ihres unguten Gefühls einen guten Eindruck zu machen.
Am nächsten Morgen föhnte sie sich die Haare, legte Make-up auf und zog ihr teuerstes Kleid an, ein bedrucktes Gucci-Kleid, das sie wie eine laszive, exotische Katze aussehen ließ. Charles stieß einen entsetzten Schrei aus und zerrte sie halb in ihr Zimmer zurück. Er zwang sie, ein sehr einfaches graues Kleid anzuziehen, in dem sie sich wie eine Nonne fühlte, und ließ sie das meiste Make-up abwischen. „Perfekt“, sagte er, als er sie ohne Begierde betrachten konnte. Es war ein beunruhigendes Gefühl.
Melanie lebte allein in einer Sieben-Zimmer-Wohnung in Passy, nahe dem Eiffelturm. An den Wänden waren Gemälde, Fotos und bis unter die Decke mit Büchern vollgestopfte Regale. „Hat sie all diese Bücher gelesen?“ fragte Perdita Charles, der sie verärgert anfunkelte und wegblickte. Melanie war eine kleine, pummelige Frau mit weißem Bubikopf. Sie trug einen unförmigen weißen Kittel und eine Brosche in Form einer Weintraube. An ihren winzigen Füßen trug sie Ballerinas.
„Sie sind also Perdita“, sagte sie mit charmantem englischen Akzent. Sie berührte Perditas trockene, pergamentenen Wangen und machte ein Kussgeräusch. Perditas sorgfältig einstudiertes „Bonjour“ kam als „Ben schuu“ heraus, was Charles zusammenzucken ließ.
„Ich habe so viele Fragen“, sagte Melanie, als sie sich an den reich verzierten Esstisch setzten. Ein mürrisch dreinblickendes srilankisches Dienstmädchen kam mit einer großen Schüssel Salat aus der Küche. „Aber ich bin sicher, Sie haben genauso viele Fragen, also fangen Sie an.“
„Das ist eine sehr große Wohnung“, sagte Perdita. Sie war voller alter Sachen, sie konnte nie verstehen, warum die Leute an ihren alten Dingen festhielten, wenn sie sich neue leisten konnten.
„Ich habe sie von meinen Eltern geerbt“, sagte Melanie. „Dieses Gebäude ist über hundert Jahre alt.“
„Wie viele Zimmer?“ Perdita ignorierte die Warnung auf Charles' Gesicht.
Melanie zuckte zusammen, als wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, zu fragen. „Ich weiß es nicht“, lachte sie. „Fünf?“ Sie wandte sich an das Dienstmädchen, das den Salat servierte. „Harshani?“
„Sieben“, antwortete das Hausmädchen mit der Gewissheit, dass es jedes dieser sieben Zimmer zu reinigen hatte.
„Wow!“ sagte Perdita. „Das ist ja wie eine Villa.“
Ihre Schwiegermutter zuckte mit den Schultern. „Früher hatten die Leute größere Familien. Und mein Großvater hat oft Gäste empfangen.“
„Und du wohnst hier allein?“ Charles starrte auf seinen Salat, als ob er mehrere fette, sich windende Würmer enthielt.
„Ja“, sagte Melanie.
„Das ist doch albern, so viel Platz zu verschwenden. Warum wohnt Charles nicht hier?“
„Liebling, ich ziehe es vor, allein zu leben“, räusperte er sich.
„Mein Sohn braucht seine Unabhängigkeit“, sagte Melanie lächelnd.
„Aber du bist jetzt nicht mehr allein, wir sind verheiratet“, erklärte Perdita.
Stille bemächtigtes sich des Tischs als sei ein Klavier umgefallen. Charles leerte sein Glas Wein und gab dem Dienstmädchen ein Zeichen, es nachzufüllen. Es würde ein langes Mittagessen werden.
Nach dem Mittagessen musste Charles zurück ins Büro, aber seine Mutter bot Perdita an, mit ihr in den Louvre zu gehen. Perdita nahm die Einladung begeistert an, denn sie dachte, der Louvre sei ein gehobenes Einkaufszentrum. Was, wenn man die Geschichte kennt, gar nicht so abwegig war. Ihr gefielen die Gemächer des Kaisers mit den prächtigen Möbeln und dem glänzenden Schnickschnack. Alt, aber edel, dachte sie. Gerne hätte sie sich die Stunden damit vertrieben, den Schmuck der Kaiserin anzuschauen, aber Melanie bestand darauf, Perdita ihre Lieblingsgemälde zu zeigen: große Leinwände mit historischen Gemetzeln, nackte Frauen mit riesigen rosa Pobacken und Porträts von düster dreinblickenden Gestalten, die aus dem Rahmen äugten, als kennten sie eine schreckliche Wahrheit über sie.
„Das hier ist mein Lieblingsgemälde“, erklärte Melanie. „Ich finde, es ist das schönste Gemälde im ganzen Museum.“ Sie setzte ihre Brille auf, um es genau zu betrachten. Perdita gähnte. Es war das Bild eines Mädchens mit einer altmodischen Frisur, das etwas näht. „Sieh dir das Licht an, niemand hat Licht so gemalt wie Vermeer“, sagte Melanie. Sie forderte Perdita auf, näher an den Rahmen zu treten. „Unsere kleine Klöpplerin ist ganz in ihre Arbeit vertieft. Sehen Sie, wie sich die Gegenstände im Vordergrund in Farbtupfer auflösen. Sehen Sie, wie sich die roten Fäden wie ein Strom ergießen, wie sie die Fäden fest in ihren Fingern hält. Eine so ruhige, intime Beschwörung des gewöhnlichen Lebens, die das Alltägliche zur Poesie erhebt.“
Perdita sah nichts davon. Sie sah nur ein Mädchen, das über seine Arbeit gebeugt war, die wahrscheinlich langweilig und schlecht bezahlt war. Warum zeigte die alte Frau ihr das überhaupt, wollte sie, dass sie Näherin wurde? Sie bemerkte die Schuppen auf Melanies Kragen.
„Was halten Sie davon?“ erkundigte sich Melanie.
„Von was?“
„Von diesem Bild.“
„Es ist okay.“
„Okay?“ Melanie verschlug es fast die Stimme. „Sie haben doch sicherlich eine Meinung dazu.“
„Es ist schön.“ Ihrer Meinung nach war es nicht einmal besonders hübsch. Blau war nicht ihre Lieblingsfarbe.
„Ist das alles?“
„Also gut, ich verstehe es nicht“, sagte Perdita. „Dieses Bild, all diese Bilder. Ich verstehe sie nicht.“
„Sie gefallen Ihnen nicht?“
„Nein.“ Was für eine Frage. Wie konnte sie auch etwas mögen, das sie nicht verstand?
Da bot Melanie ihr 500.000 Francs an, damit sie ihren Sohn verlasse. Perdita konnte zwar nicht rechnen, aber sie konnte ausländische Währungen in Pesos umrechnen. Vier Millionen Pesos: nicht schlecht. Allerdings hatte sie nicht die Absicht, das Angebot anzunehmen. Ob es daran lag, dass sie mehr Geld wollte, oder daran, dass sie ihren Mann nicht verlassen und ganz von vorne anfangen wollte, wusste sie nicht.
Melanie erhöhte das Angebot auf 750.000, dann auf eine Million. „Wie viel brauchen Sie, damit Sie meinen Sohn verlassen?“
Womöglich war sie widerspenstig, oder das Verhalten der alten Frau beleidigte sie. Es konnte sich jedenfalls nicht große Zuneigung zu Charles handeln, der für sie schlicht Mobiliar war. Aus Gründen, die ihr selbst nicht klar waren, lehnte sie die Verlockung von Geld und Freiheit ab. Sie verspürte einfach Lust dazu.
In den folgenden Tagen dachte sie immer wieder über Melanies Angebot nach. Die Annahme der alten Frau, dass sie käuflich sei, machte sie wütend, denn sie stimmte. War das denn alles, was sie war – ein Tauschobjekt?
Paris hatte in Perditas unausgelastetem Gehirn einen Schalter umgelegt. Es stellte sich heraus, dass sie nicht dumm war. Sicherlich ungebildet, vorsätzlich sogar, faul und selbstherrlich, aber nicht dumm. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, was passieren würde, wenn sie älter wurde, wenn ihr attraktives Erscheinungsbild verblasste und ihr die interessierten Käufer ausgingen. Dabei konnte sie das Mädchen auf dem kleinen blauen Gemälde im Louvre nicht vergessen. Was hatte das alles für einen Sinn? Warum sollte jemand sie überhaupt malen wollen, geschweige denn, sie ansehen wollen? Warum hatte Melanie gesagt, es sei schön?
Ganz wie französische Intellektuelle, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, saß Perdita in Cafés und grübelte bei unzähligen Tassen Kaffee über ihre Existenz nach. Wenn ihr Kaffee kalt wurde, brachten die netten Kellner ihn weg und ersetzten ihn durch eine frische Tasse und einen Teller mit Kuchen, den sie gratis dazu bekam. Sie quittierte diese Aufmerksamkeiten mit einem knappen Nicken.
Nach einigen Wochen unaufhörlichen Nachdenkens beschloss sie, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen. Doch wie sollte sie handeln, wenn sie nicht einmal Papiere hatte, die ihre Identität bestätigten? Ihr Pass befand sich in einer Aktentasche im hinteren Teil des Schranks. Als sie Charles fragte, ob sie ihn haben könne, wies er sie darauf hin, dass sie keine Verwendung dafür habe. Er sorgte für all ihre Bedürfnisse, und wenn sie ihren Pass hätte, würde sie ihn wahrscheinlich verlieren. Einen Ersatz zu bekommen, wäre die Hölle – sie hatte ja keine Ahnung, wie die französische Bürokratie war.
An jenem Dienstagmorgen, als sie am Fenster stand und einen Lieferwagen beobachtete, der Gemüse an Le Canard Chanceux lieferte, kam ihr eine Idee. Sie zog einen Mantel über ihr Hauskleid und ging hinunter zum chinesischen Restaurant.
Ein Kellner stand an der Tür und stocherte mit eine Zahnstocher im Mund herum. „Hallo, ich wohne im ersten Stock. Darf ich mir ein großes Messer ausleihen, ein Hackbeil?“, fragte sie ihn. Der Kellner glotzte sie an wie eine Erscheinung, zuckte mit den Schultern, ließ den Zahnstocher fallen und ging wieder hinein.
Als Nächstes wandte sie sich an die Kassiererin, eine Xanthippe, die für ihre Schönheit unempfänglich war, sie verständnislos anstarrte und dann abwinkte, als wäre sie eine Bettlerin. Schließlich ging sie in die Küche, wo der Koch über einem brodelnden Kessel mit Eintopf eine Zigarette rauchte. „Darf ich mir ein Beil leihen?“, fragte sie.
„Was?“, fragte er auf Mandarin nach.
„Das größte Messer, das Sie haben“, sagte sie lauter.
Es war sinnlos, sie hatte keine gemeinsame Sprache mit den Leuten im Restaurant. Es dauerte nicht lange, da schrie der Koch sie an, sie solle die Küche verlassen, und sie schrie ihn an, er solle ihr zuhören. Der Aufruhr zog den Kellner und den Kassierer an, die sich dem Geschrei anschlossen, zum Entsetzen und zur Belustigung der zum Mittagessen kommenden Kunden.
Ein riesiges Beil lag neben dem Spülbecken neben den Überresten einer Ente. Perdita nahm es und schwang es über ihren Kopf, so dass alle erschrocken zurückwichen. „Ich bringe es sehr bald zurück“, versicherte sie ihnen. Eine Frau kreischte. Als Perdita zur Tür ging, wichen die Leute zurück und machten den Weg frei.
Sie brauchte nicht lange zum Öffnen der Aktentasche. Endlich hielt sie ihren Reisepass in Händen. Jetzt konnte sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Aber zuerst musste sie dem chinesischen Restaurant das Hackbeil zurückgeben. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich auf der Straße eine Menschenmenge versammelt hatte und das Heulen einer Polizeisirene immer näher kam.
„Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus“, tönte die französische Polizei über ein Megafon.
„Aber ich habe nichts getan!“, erklärte sie am Fenster. „Ich wollte das Hackbeil zurückgeben!“ Sie fuchtelte damit in der Luft herum, was die Schaulustigen aufschrecken ließ. Die Polizisten duckten sich hinter dem Polizeiauto und richteten ihre Pistolen auf sie. „Lassen Sie die Waffe fallen“, sagte einer über das Megafon, während die Fußgänger auf die Straße rannten, direkt in die Schusslinie.
„Ich verstehe kein Französisch!“ schrie Perdita, immer noch mit dem Hackbeil in der Hand. Ein vorbeifahrender Fahrradkurier fuhr geradewegs in einen Zeitungskiosk, so dass die Zeitschriften auseinanderstoben. Es gab eine hektische Diskussion unter den Polizisten, und dann nahm ein rothaariger Polizist das Megafon. „Nehmen Sie die Waffe runter!“, sagte er in stockendem Mandarin.
„Ich bin keine Chinesin!“ schrie sie. „Ich will mit jemandem reden, der Englisch spricht! Einer Frau!“
Es gab weitere Diskussionen unter den Polizisten. Schließlich rief jemand auf der Wache an, um Hilfe zu holen. Viele Minuten später erschien eine schwarze Polizistin unter ihrem Fenster. „Was wollen Sie?“, fragte sie Perdita.
„Kommen Sie nach oben, damit ich es Ihnen erklären kann.“
„Was ist mit der Waffe?“
Perdita ließ das Hackbeil los, das auf den Bürgersteig klapperte.
Sie erzählte der Polizistin ihre Geschichte von Anfang an, von Schönheitswettbewerben und Vorsprechen über den saudi-arabischen Mann bis hin zu Charles und seiner hochnäsigen Mutter und ihrem Pass, der in der Aktentasche weggeschlossen war. Die Polizistin fragte sie, ob sie ihre Hilfe benötige, um von ihrem Mann wegzukommen, und Perdita sagte zu ihrer eigenen Überraschung nein.
Letzten Endes verließ sie Charles doch nicht. Sie blieben zehn Jahre verheiratet. Sie lernte, Französisch zu sprechen und bekam in einem Kaufhaus einen Job in der Parfümabteilung. Schließlich verließ Charles sie wegen einer Vietnamesin, die er auf einer Geschäftsreise kennengelernt hatte.
Perdita blieb, denn Paris war ihr Zuhause geworden. Sie nahm sich eine winzige Wohnung im Marais. Die Männer lagen ihr nach wie vor zu Füßen, und manchmal ging sie mit ihnen aus. Ab und zu ging sie in den Louvre, um sich Bilder anzuschauen. Besonders angetan hatte es ihr „Die Spitzenklöpplerin“ von Vermeer.