Räume des Sehens und der Erkenntnis
Galante Lügen: die Lyrikkolumne unter der Federführung von Alexandru Bulucz - frei nach Johann Christian Günther, dem Barockdichter auf der Schwelle zur Aufklärung, der Spötter mit den Worten wiedergab, Poeten seien "nur galante Lügner". Hier wird Dichtung reflektiert und präsentiert werden: in Rezensionen, Essays, Monatsgedichten und gelegentlich auch Bestenlisten.
Urs Engeler – der Mann ist eine Legende der deutschsprachigen Literatur und besonders der Lyrikszene. Der gebürtige Zürcher, Jahrgang 1962, ist vor allem als Zeitschriftenmacher und Verleger bekannt, der von Anbeginn und mit großem Erfolg quer zum gängigen Literaturbetrieb steht und nicht nur Talente entdeckt und fördert, sondern auch zu einer Anlaufstelle etablierter Namen geworden ist. Die Literatur, der er eine Bühne bietet, ist grosso modo genauso wie die Art, wie er sie vertreibt: eigenwillig, unkonventionell, experimentell.
Seit 1992, als Urs Engeler die Literaturzeitschrift „Zwischen den Zeilen" gründete, ist ein fast schon unübersichtliches Geflecht von Publikationsplattformen um ihn herum entstanden, zu dem seit Kurzem auch die sogenannte „Armengenossenschaft“ gehört, eine Online-Zeitschrift, deren ironisch klingender Name dem prekären Dasein vieler Schreibender Rechnung zu tragen scheint. „Armengenossenschaft“ hat die Literaturzeitschrift „Mütze“ abgelöst, die Nachfolgerin von „Zwischen den Zeilen“. Damit ist auch der Schritt ins Digitale vollzogen.
Zur Gründung des ersten der Engeler Verlage kam es mit „Urs Engeler Editor“ im Jahr 1997. Dort sind bis zur Verlagsschließung 2009 mehr als 150 Bücher erschienen: Lyrik, Literaturtheorie, Philosophie, Poetik, Psychoanalyse. Es folgte die aktuell 65 Bände umfassende Reihe „roughbooks“ – „Poesie im Digitaldruck und Direktvertrieb“, wie es auf der Website heißt, das heißt, über Abos oder den Verlag zu beziehen. Das Kleinformat und das Äußere der Reihe sind zu einem unverkennbaren Markenzeichen der Engeler Verlage geworden: Das Werk beginnt schon auf dem Cover, die Nummerierung ziert den Buchrücken – eine Schlichtheit, die zur Rückkehr zum Wesentlichen einlädt: der Literatur selbst. Anfänglich hatten die „roughbooks“ nicht einmal eine ISBN. Man darf spekulieren, dass die Einführung einer ISBN erfolgen musste, weil Bewerbungen auf Literaturstipendien häufig eine bestimmte Anzahl an vorausgehenden Publikationen voraussetzen. Ohne ISBN keine Publikation. – Neben dieser Reihe gibt es dann auch das Imprint „Das Versteck“, die „Theorie-Reihe“ (18 Bände) und keine Backlist, dafür aber eine „Blacklist“ (12 Bände).
In diesem Literaturuniversum ist quasi alles zu finden, was das Literaturherz begehrt, sowohl Klassiker der Moderne wie der Gegenwart als auch zeitgenössische Literatur, sei es in der Originalsprache Deutsch oder in der Übersetzung etwa aus dem Amerikanischen, Englischen, Französischen, Polnischen, Rumänischen, Russischen oder Ungarischen: Anna Achmatowa, József Attila, Miron Białoszewski, Velimir Chlebnikov, E. E. Cummings, Emily Dickinson, Wladimir Majakowski, Gellu Naum, Ágnes Nemes Nagy, Oskar Pastior, Arthur Rimbaud oder Gertrude Stein auf der einen Seite und Urs Allemann, Arno Camenisch, Anne Carson, Franz Josef Czernin, Jean Daive, Elke Erb, Jorie Graham, Monika Rinck, Jerome Rothenberg, Rosmarie Waldrop oder Peter Waterhouse auf der anderen
Vieles, was hier vorliegt, gilt als besonders schwierig, nicht massentauglich und darum ohne Reiz für größere Publikumsverlage. Kaum vorstellbar, was experimentell Schreibende ohne diese Oase der radikalen Kunstautonomie und die wenigen anderen machen würden, ob nun Konstantin Ames, Mara Genschel, Dagmara Kraus oder Ulf Stolterfoht. Zu deren Erleichterung dürfte gesorgt haben, dass der Schriftsteller Christian Filips seit 2022 mitverantwortlich für das Gesamtprogramm der „Engeler Verlage“ zeichnet und dadurch für deren Zukunft gesorgt ist.
Das VersteckUrs Engeler | nicht nichts - (Fast) Alle meine Gedichte (Gedichte 1984–2024) | Das Versteck 279 | 84 Seiten | 20 EUR
Dies lässt nun auch hoffen, dass Urs Engeler mehr als bisher seiner eigenen Dichtung nachgehen wird, die nicht viele kennen dürften. Schon 2015 veröffentlichte der Dichterverleger in der „SchwarzHandPresse“ seine „Frohen Gedichte“ mit Randnotizen von Theo Hurter. Nun folgt Lyrik von ihm aus den letzten 40 Jahren unter dem Titel nicht nichts. Man kommt dabei nicht umhin, an die Grundfrage der Metaphysik zu denken, die in der Existenzialphilosophie Martin Heideggers etwa so gestellt wird: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“
Auch Urs Engelers Poesie entwirft sich aus einem Verhältnis zum Nichts. Was als eine Poesie des „Als ob“ beginnt, das die Realität um die Fantasie und eine „wortlose Vorstellung“ anreichert, geht bald in die Gemeinschaft derer über, die unverstanden bleiben: „und niemand/ und niemand/ der uns versteht“, heißt es noch recht am Anfang von „nicht nichts“ – später erfährt man aber auch, dass nicht einmal das lyrische Ich sich selbst versteht. Ein „vagabundierender Leberfleck“ und „weitere Punkte“ werden daraufhin – in widersprüchlicher Weise – zu Räumen des Sehens und der Erkenntnis, für die Hell-Dunkel-Kontraste unerlässlich sind. Das Thema der Einsamkeit und der Verstummung zieht konsequenterweise eine Form starker Sprachverknappung nach sich, der hin und wieder längere Prosagedichte entgegengehalten werden.
Der bemerkenswerteste Text wiederum ist ein Gedicht in 16 Teilen, das sich wie ein Rekurs auf Christoph Meckels berühmte Frankfurter Poetikvorlesungen „Von den Luftgeschäften der Poesie“ liest. Auch Urs Engeler erhebt die Luft, wie auch das Element Wasser, zu einer Hauptmetapher für die Poesie. Sie ist ihm das Allesverbindende: die Münder der Menschen, ihre Ohren, ihre Haut, ihre Hände. Und sie teile vor allem den Schall mit, also etwas, worauf Sprechen und Hören angewiesen sind. Hier alterniert dann auch Satz und Gegensatz. Man kann sich die Luft zum Atmen als eine Lebens- und Poesiebedingung versagen: „Man ist, ist nicht.“
Urs Engeler versagt sich die Luft zum Glück nicht. Seine Poesie, Gedankenlyrik mit äußerst diskreter Anwendung von Anschauung, ist ebendiese Luft: „Sie macht sich nichts aus sich.“ Eine Poesie der starken Motive, aber leisen Töne: „Der Sänger singt leis/ dass man ihn fast nicht hört“ – mit Betonung auf „fast“. Das ist nicht nichts und vor allem lesenswert.