Erste Liebe

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Eine deutsch-palästinensische Geschichte
Samir El-Youssef

Es ist Sommer im globalen Norden (und Winter im globalen Süden), und im August bringt Literatur.Review beide zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.

Samir El-Youssef ist ein palästinensisch-britischer Autor. Er wurde 1965 in Rashidia, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Süden des Libanon, geboren und lebt seit 1990 in London. Der Autor von 11 Büchern (Belletristik, Essays und Gedichte) schreibt auf Arabisch und Englisch und hat für The Guardian, Al-Quds Al-Arabi, Nizwa, The New Statesman und Index on Censorship geschrieben. Im Jahr 2004 veröffentlichte er zusammen mit dem Israeli Etgar Keret 'Gaza Blues', eine Sammlung von Kurzgeschichten.  Im Jahr 2005 erhielt er den PEN-Tucholsky-Preis für die Förderung des Friedens und der Redefreiheit im Nahen Osten. Im Jahr 2021 gab er zusammen mit dem palästinensischen Dichter Mohammed Tayseer 'Gaza the Land of the Poem' heraus, eine Anthologie mit Gedichten von 17 Dichtern aus Gaza.

Die erste Frau, die ich je geliebt habe, war eine Deutsche. Sie war sehr schön und sprach überraschenderweise Arabisch mit einem so perfekten palästinensischen Akzent, dass manche Leute dachten, sie sei im Flüchtlingslager Al-Rashidia geboren worden. Ihr Name war Hannelore, aber die Leute in unserer Straße sprachen sie mit ihrem palästinensischen Namen Haniah an. 
Sie war unsere direkte Nachbarin. Sie mochte mich und behandelte mich, als wäre ich ihr kleiner Bruder. Immer, wenn ich wusste, dass sie zu Hause war, stand ich am untersten Teil des Zauns, der unsere beiden Hinterhöfe trennte, und wartete darauf, dass sie mich bemerkte und rief: "Ahmad, hast du ein paar Minuten Zeit für mich?" Sie bat mich dann, ihr bei der Hausarbeit zu helfen, vor allem, wenn sie müde von ihrer Arbeit in der örtlichen Arztpraxis zurückkam, oder einfach nur, damit ich ihr Gesellschaft leistete. Stand ich an unserem Zaun und hörte sie nicht nach mir rufen, war ich enttäuscht, ja fühlte mich sogar verraten. Ich war erst zehn, und sie war die erste Frau, die ich je geliebt hatte. Leider wurde sie verrückt.

Hannelore lebte allein. Sie war in unserer Straße bekannt als die verlassene deutsche Ehefrau, aber das war nur am Anfang, als Maher, ihr Mann, nach Deutschland zurückkehrte und sie im Lager zurückließ. 
Das Paar war gekommen, um Mahers Familie zu besuchen: seine älteste Schwester und zwei Tanten. Maher wollte auch, dass seine alten Freunde und Nachbarn endlich einmal sahen, wie gut es ihm ergangen war, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er ohne seine Frau nach Deutschland zurückkehren würde. 

Maher hatte Hannelore nicht wirklich verlassen; sie war es, die sich entschlossen hatte zu bleiben, und sie wollte, dass auch ihr Mann blieb. 
"Du willst, dass ich hier bleibe?" Er dachte, sie mache einen Scherz.
Sie nickte. Sie meinte es ernst.
"Nachdem ich es geschafft habe, hier wegzukommen, willst du jetzt, dass ich für immer hier festsitze? Warum?" Er war erstaunt, dass sie überhaupt auf diese Idee gekommen war. "Und du, Hannelore, die du in Frankfurt geboren und aufgewachsen ist, willst auch hier bleiben! In al-Rahidia, einem Flüchtlingslager, das soll wohl ein Scherz sein!"
"Nein, ich scherze nicht. Ich gehe nicht zurück."
"Was willst du denn hier machen?" fragte Maher und betonte absichtlich das Pronomen "du", um klarzustellen, dass ein Verbleib im Lager für ihn selbst nicht in Frage kam. Aber Hannelore ignorierte das betonte Pronomen; sie schien zu glauben, dass sie beide von Nutzen sein könnten. "Die Leute hier könnten Hilfe gebrauchen!" Die örtliche Praxis braucht Freiwillige. Ich könnte aushelfen; ich kann Arabisch und könnte helfen." Sie hörte sich an, als hätte sie an alles gedacht.
"Ach! Wolltest du deshalb Arabisch lernen?" Er bedauerte sofort, dass er sie ermutigt hatte, die Sprache zu lernen, wobei sie allerdings Ermutigung gar nicht gebraucht hatte. Von dem Moment an, als ihr klar wurde, dass ihre Beziehung von Dauer sein würde, begann sie Arabisch zu lernen. Sie bestand darauf, dass er mit ihr auf Arabisch sprach, nicht nur während sie die Sprache lernte, sondern auch später: "Wenn wir ein Kind haben, möchte ich, dass es beide Sprachen beherrscht!" 
Dass sie aufrichtig war, hatte ihn beeindruckt, aber jetzt erkannte er, was er für einen Fehler begangen hatte, sie so dicht an seine Vergangenheit heranzulassen: indem er ihr Arabisch beibrachte und sie dann hierher brachte.
"Und auch du kannst etwas tun!" hörte er sie sagen.
"Etwas tun!", schrie Maher auf. "Und was? Ich bin Maschinenbauingenieur, und wie du siehst, gibt es hier nicht gerade viele Autofabriken!"
"Ja, aber du kannst doch unterrichten – Englisch, Mathe und Physik, alles, was du gut kannst!", flehte sie weiter.
Darauf sagte er nichts. Er schüttelte nur immer wieder ungläubig den Kopf. 
"Wir können helfen!", wiederholte sie. "Es ist so schlimm hier!"
"Früher war es noch schlimmer", sagte er, ohne jeden Sarkasmus. 
Maher war in al-Rashidia aufgewachsen. Er war erst fünf Jahre alt gewesen, als seine Familie 1948 aus Palästina floh und im Libanon Zuflucht fand.
"Zuerst mussten wir in Zelten leben", erzählte er ihr. "Jetzt haben die Leute wenigstens Häuser!"
"Häuser!", rief sie wütend. "Das nennst du Häuser?"
"Nun, Zimmer, Wände und Türen sind besser als Zelte", antwortete er hastig, überrascht von ihrer wütenden Reaktion. "Nichts ist hier von Dauer, das soll es auch nicht sein", fuhr er fort und versuchte ihr zu erklären, was sie seiner Meinung nach offensichtlich nicht verstand, aber seine herablassende Art machte sie nur noch wütender. 
"Die Menschen hier hängen in der Luft. Sie warten darauf, dass das ganze Problem endlich gelöst wird, oder dass sie zumindest einen Ausweg für sich selbst finden." Zweifellos bezog er sich auf seine eigenen Erfahrungen und zu versuchte, sie zu rechtfertigen.
Er hatte fast fünfzehn Jahre im Lager gelebt, bevor es ihm schließlich gelungen war, nach Deutschland zu gehen, wo er Maschinenbau studierte, Hannelore heiratete und eine Stelle in einer großen Autofabrik fand. Zehn Jahre lang hatte er in Deutschland gelebt, das Leben eines armen Studenten und arbeitslosen Hochschulabsolventen ertragen, aber nicht ein einziges Mal wollte er in den Libanon zurückkehren, nicht einmal für einen kurzen Besuch. "Lieber auf den Straßen Frankfurts verhungern, als zurück ins Lager", sagte er bei verschiedenen Gelegenheiten. Erst als er das Gefühl hatte, endlich etwas aus sich gemacht zu haben, dachte er an eine Rückkehr, um Familie und Freunde zu besuchen, vor allem um ihnen zu zeigen, dass er nun zu den vom Glück Begünstigten gehörte. Der Gedanke, hier zu bleiben, war daher unvorstellbar. "Die Leute würden mich auslachen!"
"Warum das denn?" Hannelore protestierte.
"Weil niemand, der von hier wegkommt, auf die Idee käme zurückzukommen, es sei denn, er wäre ein Versager oder ein Narr", erklärte Maher ungeduldig. "Sie werden mich für einen Idioten halten, weil ich alles, was ich in Deutschland hatte, aufgegeben habe und in dieses elende Leben zurückgekehrt bin! Einige werden mich verdächtigen, auf der Flucht zu sein, dass ich in Deutschland etwas Schlimmes getan habe und geflohen bin, bevor ich gefasst werden konnte. Du weißt nicht, wie die Leute hier denken!"

Hannelore wollte ihm nicht glauben. Stattdessen vermutete sie, dass es ihrem Mann an gesellschaftlicher Verantwortung mangelte und, was noch schlimmer war, dass er durch die langen Jahre im Westen moralisch verdorben war. – Für sie ein weiterer Grund, ihn zum Bleiben zu überreden. 
"Wir können es wenigstens eine Zeit lang versuchen."
Er ließ sich nicht beirren: "Pass mal auf, Hannelore, wenn du bleiben willst, kannst du das gerne tun, aber ich gehe zurück nach Frankfurt!"
Trotz allem ging er nicht sofort. Er versuchte mehrmals, ihr ihre verrückte Idee auszureden: "Das ist doch kein Leben für uns!", flehte er, aber erntete nur einen vorwurfsvollen Blick. Da sie sich an den Ort und die Menschen dort gewöhnt hatte, war ihm sofort klar, dass das, was er gesagt hatte, nicht fruchten würde. Er musste sich korrigieren: "Niemand hat was davon! Alle wollen weg, und die, denen es gelingt, wegzugehen, kommen nie wieder zurück! Bitte, lass uns nach Hause!"

Aber jedes Mal, wenn er versuchte, sie umzustimmen, versuchte sie ihrerseits, ihn umzustimmen. Aus Angst, Hannelore könnte ihn zermürben, und aus purer Verzweiflung ging er ohne sie. Sie hatte sogar versucht, seine Schwäche auszunutzen, indem sie recht pragmatisch meinte: "Wir müssen ja nicht für immer hier bleiben! Nur ein paar Jahre oder sogar weniger, und dann sehen wir, ob wir etwas erreichen können. Wenn nicht, können wir einpacken und gehen zurück nach Deutschland."
Sie verzichtete sogar darauf, ihm mangelndes gesellschaftliches Engagement vorzuwerfen und appellierte stattdessen an seine ausgeprägte Eitelkeit. "Wenn wir dem Gemeinwohl dienen können, stell dir doch nur mal den Respekt vor, den du bei den Menschen hier erwerben würdest, und mal dir mal aus, wie neidisch die führenden Köpfe hier wären und wie sie sich um deine Freundschaft reißen würden." 

Für einen kurzen Moment war Maher fast überzeugt. Was wäre, wenn er bliebe und die Dinge so managte, wie sie gemanagt werden sollten? Was wäre, wenn er sich als so gut erweisen würde, dass er zum Anführer einer der politischen Fraktionen oder sogar zum Anführer der ganzen Gemeinde würde? Aber meine Güte, was denke ich da nur, ging er mit sich selbst ins Gericht. Wie konnte er überhaupt erwägen, wieder in den Albtraum zurückzukehren, dem er Jahre zuvor mit viel Glück entkommen war. Wie konnte er auch nur für ein paar Minuten in Versuchung kommen, so etwas zu denken? Er hasste Hannelore; sie war für derart idiotische Gedanken verantwortlich. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass seine Frau gefährlich intrigant geworden war. Was war in sie gefahren? Sie war ehrlich und geradeheraus, als er sie kennengelernt hatte. Er hatte sie sogar immer für ihre Ehrlichkeit und Direktheit bewundert – Eigenschaften, die ihm fehlten. Wie sie sich verändert hatte. Das lag alles daran, dass sie nun an diesem verdammten Ort hing. Aber wie um alles in der Welt konnte ein vernünftiger Mensch an einer solchen Bruchbude hängen? Er konnte es nicht verstehen. Vielleicht hatte sie den Verstand verloren; irgendetwas musste mit ihr geschehen sein, dass sie so verrückt geworden war.

Diese Gedanken führten Maher zu einem noch größeren Problem: Wenn sie tatsächlich verrückt geworden war, war es dann überhaupt richtig, sie allein im Lager zu lassen? Er geriet in Panik; aus Pflichtgefühl sollte er vielleicht erwägen, bei ihr zu bleiben. Nein, er sollte vielmehr darauf bestehen, sie mit zurück zu nehmen. Zumindest sollte er versuchen, ein letztes Mal mit ihr zu reden. Immerhin war sie immer noch seine Frau, und es lag in seiner Verantwortung, für sie zu sorgen, vor allem, wenn es ihr nicht mehr gut ging. Er musste es noch einmal versuchen, aber er befürchtete, dass es ihr gelingen könnte, ihn dazu zu bringen, bei ihr zu bleiben, wie schon einmal beinahe. Oder dass er selbst, ohne ihr Zureden, seine Meinung ändern könnte; er könnte wie sie verrückt werden und sich zum Bleiben entschließen. Der Dämon, der in sie gefahren war, könnte auch von ihm Besitz ergreifen und ihn zwingen, alles, was er erreicht hatte, aufzugeben und wieder bei null anzufangen. Er hatte wirklich Angst und wollte sofort abreisen. Am nächsten Morgen sagte er zu Hannelore: "Wenn du bleiben willst, kannst du das gerne tun. Ich gehe zurück nach Deutschland!"

Er ging und sie blieb. Mahers Schwester und zwei Tanten waren wütend auf sie. "Warum will sie hier bleiben und noch dazu allein?", protestierten sie. "Eine Frau allein im Lager? Das wird nichts als Schande über uns bringen." 
Aber sie waren noch wütender auf ihn: "Was ist das für ein Mann, der seine Frau im Lager allein lässt?" Ihrer Meinung nach hätte er sie, wenn er Manns genug gewesen wäre, an den Haaren zurück nach Deutschland geschleppt. Peinlich berührt besuchten sie Hannelore in der Hoffnung, sie überreden zu können, ihrem Mann zu folgen. 
"Es ist gefährlich hier", warnte Mahers älteste Tante Hannelore. "Nicht nur schamlose Männer werden eine Frau wie dich nie in Ruhe lassen, sondern auch die Juden."
"Die Juden?" Hannelore war völlig verblüfft.
"Sie schlagen zu. Aus der Luft und vom Meer, sie schlagen zu, es ist gefährlich!"
Mahers Schwester erklärte: "Es gibt israelische Luftangriffe." 
"Sie meint die Israelis", dachte Hannelore und zeigte keine Spur von Angst, dass das Lager regelmäßig Ziel israelischer Luftangriffe werden könnte. Mit verständnislosem Blick fragte sie ernst: "Warum sagt ihr die Juden?"
Die drei Frauen waren überrascht, dass sie sich über eine so triviale Angelegenheit Gedanken machte. "Israelis, Juden, das ist doch gleich", rief die älteste Tante ungeduldig.
"So nennen wir die Israelis eben", erklärte Mahers Schwester.
Hannelore machte immer noch ein verständnisloses Gesicht. "Meine eigene Sicherheit ist nicht wichtiger als die der Menschen hier, aber ich werde die Israelis niemals die Juden nennen."
Die beiden Tanten hörten, was sie sagte, aber sie verstanden nicht, was so falsch daran war, die Israelis Juden zu nennen. Mahers Schwester nickte: "Die Leute hier sind sehr einfältig!"
"Das Wichtigste", unterbrach die älteste Tante, "ist, dass du gehst."
"Nein", antwortete Hannelore trotzig, "ich gehe nicht weg."
Sie waren wütend und beschlossen, dass sie mit ihr nichts mehr zu tun haben wollten, und während all der Jahre, die Hannelore im Lager verbrachte, kamen sie auch nicht mehr zu Besuch.

Im Allgemeinen hielten die Leute Maher für klug, sie hingegen für dumm. Aber nein, dumm war sie nicht wirklich, schließlich war sie Deutsche und konnte gehen, wann immer sie wollte. Trotzdem waren sie ihr gegenüber misstrauisch und nachtragend. "Warum sollte eine anständige Frau an einem solchen Ort bleiben wollen?", und wahrscheinlich führte dieses Gefühl der Abneigung dazu, dass man sie die deutsche Frau oder die sitzen gelassene deutsche Frau nannte. Natürlich versuchten dies einige Männer auszunutzen. Hannelore war jedoch viel zu ernst, um auch nur im Geringsten den Eindruck zu erwecken, dass sie leicht zu haben war, und es war im Lager eine unausgesprochene Regel, dass eine Frau, die nicht flirtete, so respektvoll wie eine Schwester zu behandeln war. Bald mochte sie jeder und sah zu ihr auf, nicht nur in unserer Nachbarschaft, sondern in ganz Rashidia.

Sie arbeitete ehrenamtlich in der Ambulanz der DFLP. Die DFLP vermietete ihr das Haus neben uns. Anfangs gefiel uns das überhaupt nicht. Denn Mutter hatte Angst, dass die DFLP das Haus als Militärbasis nutzen würde, was bedeutete, dass es unweigerlich zum Ziel israelischer Luftangriffe werden würde. 
"Genossin Om Ahmad, ich versichere dir, dass es nur von Genossin Haniah bewohnt wird", sagte Abu Khaled, der Kommandant der DFLP im Lager, zu meiner Mutter, als er einmal vorbeikam und sie ihn aufhielt.
"Bei meiner Ehre, Genossin Om Ahmad!"
"Komm mir nicht mit Genossin! Wenn ich nur einen Fedajin in diesem Haus sehe, werde ich die ganze Nachbarschaft in Aufruhr versetzen!"
"Glaube mir, Om Ahmad, wir haben nicht die Absicht, dich in irgendeiner Weise in Gefahr zu bringen!" Abu Khaled war offensichtlich besorgt, dass meine Mutter verbreiten könnte, dass die DFLP plante, das Haus als Militärbasis zu nutzen. Damals war die DFLP, anders als die Fatah und andere Gruppierungen, noch ein anständiger Haufen, dem es nicht egal war, was die Leute von ihm hielten.
"Vertrauen Sie mir", bettelte der Mann geradezu.
Aber Mutter glaubte ihm nicht und bestand darauf, dass Vater, dem das ansonsten ganz gleichgültig war, den Besitzer aufsuchte. "Ich schlafe keine Nacht mehr neben einem Fedajin-Stützpunkt", warnte sie meinen Vater. "Du musst mit Abu Ali sprechen."
"Was für ein Fedajin-Stützpunkt? Wir haben keinen einzigen Fedajin gesehen."
"Ich werde nicht warten, bis sie hier sind. Du gehst und sagst es ihm!"
"Ihm was sagen?" Vater war ganz vor den Kopf gestoßen. "Es ist doch sein Haus."
"Sag ihm, dass ein guter Nachbar so etwas nicht tut."
"Aber er tut doch gar nichts."
"Sag ihm das!", rief sie laut. 
Abu Ali kam uns besuchen; Vater muss ihn angefleht haben, Mutter zu versichern, dass das Haus nur als Unterkunft für Haniah diente. 
"Um dich mache ich mir keine Sorgen", scherzte Abu Ali, "ich will nur nicht, dass mein Haus dem Erdboden gleichgemacht wird!" 
Mutter lachte nicht. Sie blieb besorgt, bis Hannelore einzog und sie über den Zaun hinweg zu plaudern begannen. Ich verliebte mich sofort in sie und war stets bereit, ihr zu helfen.

Die DFLP-Ambulanz bestand lediglich aus zwei kleinen blechgedeckten Räumen und einer Küche, in der ein Arzt und eine Krankenschwester, die auch an der Rezeption arbeitete, bescheidene Dienste für die Menschen in unserem Viertel anboten. Hannelore schlug einige Änderungen vor, die sowohl der Arzt als auch die Krankenschwester begrüßten, Abu Khaled jedoch nicht. "Wir sind nicht dazu da, die Arbeit des Roten Halbmonds oder der UNRWA zu machen!"
"Ja, aber wir könnten den Ort freundlicher gestalten", sagte Hannelore. "Der Arzt und die Krankenschwester würden sich wohler fühlen und die Patienten auch."
Abu Khaled verstand nicht, was sie meinte. Warum sollte eine Praxis freundlich aussehen, wollte er eigentlich fragen. Aber er war immer noch ziemlich beeindruckt davon, dass sie es vorgezogen hatte zu bleiben und zu helfen, statt mit ihrem Mann nach Deutschland zurückzukehren, und so wollte er erst mal nicht mit ihr diskutieren. 
"Tu, was du für sinnvoll hältst!", stimmte er widerwillig zu. 
Innerhalb weniger Wochen sah die Praxis völlig anders aus. Wie durch ein Wunder wurden die beiden tristen Räume mit dem umliegenden verwahrlosten Garten zu einem attraktiven Anziehungspunkt in unserer schäbigen Nachbarschaft; die Räume waren frisch gestrichen und neu möbliert, der Garten war von Unkraut befreit, umgegraben und mit vielen Rosensträuchern bepflanzt. Man musste einfach kommen und sich das ansehen. Bald wurde die Praxis über unser Viertels hinaus berühmt, nicht nur wegen ihres Erscheinungsbilds, sondern auch wegen der erheblich verbesserten Dienstleistungen. 
Doktor Nader, der für gewöhnlich zu spät kam, erschien plötzlich pünktlich. Er war ein junger Arzt, der die derzeitige Stelle nur als Sprungbrett für eine Tätigkeit in einem der Golfstaaten oder bei der UNRWA betrachtete, wo das Gehalt stimmte und Arbeitsplätze sicher waren. Seit jedoch Hannelore auf der Bildfläche erschienen war, schien auch er seine Arbeit ernster zu nehmen; er redete, als glaube er tatsächlich an seine edle Mission als Arzt, der beschlossen hatte, sein Leben in den Dienst seines armen Volkes zu stellen. Hannelore war darauf sehr stolz; die veränderte Einstellung des Arztes war ein klarer Beweis dafür, dass ihr Bleiben richtig war. Die Menschen im Lager brauchten den Arzt, der Arzt aber brauchte jemanden wie sie, die ihm half, besser zu funktionieren, sein Bestes zu geben und vor allem an seine Arbeit zu glauben. Sie hatte Recht; Maher hatte Unrecht.

Hannelore hat Maher nie vergessen. Er war ihr Mann, und immer noch liebte sie ihn. Sie wünschte nur, er wäre geblieben, damit er hätte erkennen können, dass das, was sie zu bewirken imstande waren, nicht sinnlos war, wie er behauptet hatte. Der Arzt, der zu einem besseren Arzt und besseren Menschen geworden war, war ihr Beweis. 
"Doktor Nader war genau wie Maher", sagte Hannelore zu Abu Khaled, "ein ehrgeiziger junger Mann, dem es trotz aller Widrigkeiten gelang, Arzt zu werden, und der deshalb glaubte, seine Qualifikation sei ein Sprungbrett aus dem elenden Leben im Flüchtlingslager." 
"Jeder hier denkt leider so. Von unseren gebildeten Leuten sind die meisten egoistisch", antwortete Abu Khaled. Er hasste die Gebildeten, oder jene, die er gelegentlich als nutzlose, feige Intellektuelle bezeichnete. 
"Nein, da bin ich anderer Meinung, Abu Khaled." Hannelore wollte klarstellen, dass sie den Arzt nicht kritisierte, sondern ihm die Bedeutung ihres Tuns und dessen, was sie noch zu bewirken hoffte, erklären: Sie wollte, dass er sie weiter unterstützte. "Wenn er nicht daran gedacht hatte, seine Qualifikationen zum Wohle des eigenen Volk einzusetzen, dann nicht, weil er besonders egoistisch war, sondern weil ihm die Motivation und der Sinn fürs Gemeinwohl fehlten."
"Da liegen Sie richtig", unterbrach Abu Khaled, "aber daran ist nicht unsere Organisation schuld. Wir haben die kleinbürgerliche Mentalität immer abgelehnt. Wir haben hart dagegen angekämpft, aber was können wir schon tun bei Leuten wie der Fatah, die gute Leute mit Geld und Privilegien korrumpieren?"

Hannelore kannte sich inzwischen mit den Rivalitäten und Kämpfen zwischen den verschiedenen Gruppen im Lager gut aus. Sie wusste, wie und warum jeder Fraktionsvorsitzende den anderen wegen irgendwelcher Vergehen beschuldigte, aber einmischen wollte sie sich nicht. Das wäre auch reine Zeitverschwendung gewesen, denn schließlich wollte sie sich auf praktische Dinge konzentrieren. "Männer wie Nader und Maher brauchen nur jemand, der alles so organisieren kann, dass sie genügend Motivation finden, ihre Qualifikationen und Anstrengungen in den Dienst ihres Volkes zu stellen", fuhr Hannelore mit unverhohlener Genugtuung fort.
Sie hatte Recht, zumindest anfangs. Zum Missfallen der anderen Fraktionen, deren Ambulanzen ebenso schäbig waren wie sonst die der DFLP, strömten Patienten aus allen Teilen des Lagers in unsere Ambulanz. Sie waren sogar so neidisch auf unsere Praxis, dass eine rivalisierende Gruppe versuchte, sie in die Luft zu sprengen; andere versuchten gar, Hannelore abzuwerben. Ein Fatah-Kommandeur bot ihr ein gutes Gehalt, ein Auto und alle nötigen Mittel an. Hannelore geriet in Versuchung, aber sie war zu stolz auf ihre Leistung, als dass sie das Angebot angenommen hätte. Außerdem wollte sie die medizinischen Stützpunkte der DFLP weiter ausbauen. Das eigentliche Problem war Abu Khaled, der nicht wollte, dass die Praxis größer wurde oder mehr Patienten anzog. Außerdem hatten der Arzt und die Krankenschwester allmählich genug von Hannelores Ambitionen: Die Verbesserungen hatten sie so bekannt gemacht, dass sie sich damit nicht mehr so wohlfühlten. 
"Wir können immer mehr Patienten ohne die Hilfe von mindestens einem weiteren Arzt und einer weiteren Krankenschwester nicht mehr betreuen", beklagte sich der Arzt. 
"Es gibt Tage, an denen wir kaum weniger als vierzig Patienten haben", fügte die Krankenschwester hinzu.

In der Tat war die Praxis manchmal so gut besucht, dass die Patienten im Garten warten mussten. Mit der Hoffnung, den Druck zu verringern, führte Hannelore ein Terminsystem ein, allerdings ohne Erfolg. Unsere Leute waren nicht an Disziplin gewöhnt, ganz egal wie oft Hannelore es ihnen erklärte und die Krankenschwester um Einhaltung der Termine bat, sie kamen stets ein oder zwei Stunden zu früh.
"Wir respektieren und unterstützen, was Sie da versuchen, aber wir können es ohne zusätzliche Ressourcen nicht bewältigen!" betonte der Arzt. 
"Wir brauchen mehr Personal", wiederholte die Krankenschwester und drängte sie, mit Abu Khaled zu sprechen. 
So versuchte es Hannelore, aber Abu Khaled ließ sich nicht beirren. 
"Genossin Haniah, wir sind eine Organisation, deren Ziel es ist, zu kämpfen und unser Land zu befreien", erklärte er. "Wir sind keine Wohltätigkeitsorganisation für Kranke und Arme."
Hannelore protestierte: "Du darfst die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, etwas zu entwickeln, das so wichtig ist, etwas, das deine Hingabe für dein Volk nicht weniger beweist als der Kampf gegen den Feind." 
Aber es hatte keinen Sinn, Abu Khaled war unnachgiebig; er war auch nicht in der Lage, die Bedeutung des Aufbaus von Institutionen zu verstehen.

So begann damals Hannelores Reise in die Verzweiflung. Eines Tages kam meine Mutter von einem Besuch bei ihr zurück. 
"Haniah wird uns vielleicht bald verlassen!", erklärte sie, und mein Herz sank. 
"Wieso das?" sagte ich.
"Weshalb?", fragte mein Vater, mehr um Mutter zu zeigen, dass er sich für das, was sie sagte, interessierte, als dass er es wirklich wissen wollte.
"Der Bastard will nicht, dass sie für die Menschen Gutes tut", fuhr Mutter fort, mit dem Tonfall einer, die dies vorausgesehen hatte. "Sie bitte ihn immer wieder darum, die Praxis besser auszustatten, aber er will nicht. Genug ist genug, sagt er. Wir haben das Geld nicht. Er hat Geld, gibt es für sich und seine Familie aus, aber nicht, um Menschen zu behandeln. Jetzt reicht es ihr, und sie denkt darüber nach, zu gehen!"
"Wer ist der Bastard?"
"Wer wohl? Abu Khaled, Abu shit!"
Mein Vater schaute sie an, wusste aber nicht genau, was er sagen sollte, damit sie sich nicht noch mehr aufregte. 
"Warum schließt sie sich nicht der Fatah an?", fragte er nach einer Pause, "Sie werden ihr das Geld geben, das sie braucht."
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
"Was?"
"Ihr Männer versteht doch gar nichts."
"Was?"
"Diese Praxis ist jetzt ihr Zuhause und ihre Familie."
Mein Vater verstand das nicht, also fuhr sie ungeduldig fort: "Im Gegensatz zu euch Männern können Frauen nicht einfach aufstehen und gehen; wir können nicht einfach ein Haus gegen ein anderes tauschen."
"Wohin würde sie gehen?", fragte er, und wieder nicht wegen einer Antwort, sondern um Mutter zu beruhigen. 
"Zurück in ihr Land, nach Deutschland, wohin sonst?"

Ich war entsetzt. Ich konnte nicht glauben, dass Hannelore weggehen würde, dass ich sie nie wieder sehen würde. Kaum war Mutter in der Küche, rannte ich hinaus, nicht um am Zaun zu stehen und auf ihr Rufen zu warten, sondern direkt in ihr Haus. Ich klopfte an das Metalltor und trat ein, bevor sie mich hereinrief. Atemlos sah ich sie an und wollte sie gerade fragen, ob es stimmte, dass sie wegging, als ich bemerkte, wie müde und traurig sie war. 
"Brauchst du etwas?" fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. 
Ich stand da und sah sie an. "Abu Khaled ist ein böser Mann, das weiß jeder."
Sie schenkte mir ein schwaches Lächeln. "Er ist nicht der einzige schlechte Mensch. Es gibt so viele schlechte Menschen auf der Welt."
"Willst du zurück nach Deutschland?"
"Ich will nicht, lieber Ahmad, aber vielleicht sollte ich."
"Warum? Vermisst du Deutschland?"
"Ja. Aber das ist nicht der Grund." Ich wollte sie fragen, warum sie nicht einer anderen Organisation beitrat, einer, die sie schätzen würde, aber stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich sagte: "Wenn ich groß bin, möchte ich nach Deutschland gehen. Ich möchte dort studieren, wie dein Mann."
"Wie mein Mann!", erwiderte sie mit Verzweiflung in der Stimme.
"Deutschland ist ein großes Land."
"Das findet mein Mann auch."
"Findest du nicht, dass Deutschland großartig ist?"
"Nein!"
Ich war überrascht. "Warum?"
"Warum? Was soll ich dir sagen?" Sie war nicht in der Stimmung zu erklären. "Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen."
Aber ich wollte unbedingt über Deutschland reden. Seit ich sie kennengelernt hatte, wollte ich, dass sie mir von ihrem Land erzählte.
"Es hat anderen Menschen Schlimmes angetan."
"Wirklich? Du meinst Hitler und den Krieg?"
Sie nickte.
"Aber Hitler war großartig!"
"Großartig?", fragte sie und starrte mich ungläubig an. "Warum sagst du das?"
"Weil er aus den Juden Seife gemacht hat!"
"Was?" Entsetzt starrte sie mich an, als sei ich ein Monster. Ich war selbst erschrocken und verstand nicht, was genau ich gesagt hatte, um sie so zu erschrecken. 
"Das glauben alle meine Freunde!"
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus. Ich wollte am liebsten im Boden versinken. Da sie wegsah, kam mir der Gedanke, mich davonzuschleichen, aber ich konnte es nicht. Wegen mir weinte sie, und ich sollte bleiben und mir anhören, was sie zu sagen hatte, sobald sie sich beruhigt hatte. 
"Ist es das, was sie euch in der Schule beibringen, dass Hitler ein großer Führer war?" Die Tränen ließen ihre Augen heller aussehen als sonst. 
"Nein. Nicht in der Schule. Aber die Leute hier hassen Juden."
Sie schüttelte den Kopf.
"Du darfst Menschen nicht hassen", sagte sie, ohne mich anzusehen und klang, als würde sie sich an ein unsichtbares Publikum wenden. "Du darfst keine Monster lieben."
Ich nickte.
"Einige der Menschen, die Hitler ermordete, waren so jung wie du, es waren Kinder", sagte sie und brach wieder in Tränen aus. "Wusstest du das?"
Ich schüttelte den Kopf, aber sie sah mich nicht an. 
"Geh jetzt! Geh!", sagte sie schluchzend.

Am nächsten Morgen war ich auf dem Schulhof, als sie in die Schule kam. Ich vermutete, dass sie sich über mich beschweren wollte. Bis sie gegangen war, versteckte ich mich, und den Rest des Tages saß ich im Klassenzimmer mit der Erwartung, dass der Schulleiter mich jeden Moment zu sich rufen würde. Zu meiner Erleichterung geschah das nicht. Sie hatte mich auch nicht erwähnt, wie ich später erfuhr, als der Schulleiter uns den Zweck ihres Besuchs erklärte. Sie hatte sich über die Art der Erziehung, die Schüler in unserem Alter erhielten, beklagt und gesagt, wie entsetzt sie darüber sei, dass einige der Schüler Hitler bewunderten. 
Der Schulleiter räumte ein, dass die Bildung, die wir erhielten, alles andere als ideal sei, wies aber darauf hin, dass er sich nur an den Lehrplan halte, der von der UNRWA in Übereinstimmung mit dem libanesischen Bildungsministerium festgelegt worden sei. "Ich versichere Ihnen, dass unseren Schüler nicht beigebracht wird, Hitler oder ähnliche Personen zu bewundern."
Der Schulleiter kannte und schätzte Hannelore. Er freute sich über ihr Interesse an der Schule und hoffte, dass sie ihm helfen würde. Er nutzte die Gelegenheit, um sich über den Mangel an geeigneten materiellen Ressourcen zu beklagen. "Niemand kümmert sich darum! Das Bildungsministerium will nichts davon wissen, die UNRWA kürzt ständig das Budget, und unsere Brüder in der PLO sind nicht gerade begeistert, wenn sie die Schule nicht für ihre eigenen politischen Ziele nutzen können." 
Der Schuldirektor merkte nicht einmal, dass Hannelore nicht gekommen war, um sich seine Beschwerden anzuhören. Sie war allein daran interessiert, die Schüler über Hitlers Verbrechen zu unterrichten. Ein paar Tage danach kam sie wieder und bot an, kostenlos Geschichtsunterricht über Nazis und Hitler zu geben. Der Schuldirektor schaute zunächst amüsiert drein. Er bemühte sich, ihr zu erklären, dass er nicht befugt sei, einen neuen Kurs einzuführen, und dass im Stundenplan ohnehin keine Lücke mehr sei. 
Hannelore bot an, nach der Schule zu unterrichten. 
"Hören Sie, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Die Geschichte Deutschlands ist für uns uninteressant. Wir bringen unseren Schülern nicht einmal die Geschichte Palästinas bei."
Hannelore war schockiert. "Wie kann man Kindern die Geschichte ihres eigenen Volkes nicht beibringen?"
"Der Lehrplan wird von der libanesischen Behörde festgelegt, also lernen unsere Schüler die Geschichte des Libanon." 
"Aber das ist falsch! Sie sollten etwas dagegen tun."
Der Schulleiter hob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit, aber sie wollte nicht aufgeben. Am nächsten Tag ging sie wieder in die Schule, diesmal, um die Einführung eines freiwilligen Geschichtskurses vorzuschlagen, der sich mit den Ereignissen in Deutschland und Palästina befasste.
"Die Verbindung zwischen den beiden Geschichten ist so wichtig", erklärte sie mit einem Enthusiasmus, der nur noch von ihrem anfänglichen Enthusiasmus in der Praxis übertroffen wurde. Der Schulleiter hatte keine Zeit für ihre Vorschläge und bat sie, zu gehen und ihn nie wieder zu belästigen.

Hannelore stutzte, denn sie dachte, sie hätte eine brillante Idee gehabt. Sie fing an, sich über den Schulleiter zu beschweren. Einige Leute hatten Verständnis dafür und unterstützten sie, andere rieten ihr, es sein zu lassen: "Es hat keinen Zweck, Haniah! Aber sie beschwerte sich weiter, nicht nur über ihn, sondern auch über Abu Khaled und alle anderen Fraktionsführer. Sie beschwerte sich bei allen, die ein offenes Ohr hatten. Einmal hörte ich sie im Hinterhof auf Deutsch und Arabisch murmeln: "Es muss viel mehr getan werden! Die Kinder brauchen ordentlichen Unterricht."
Ich schlich am Zaun entlang und spähte hinüber, um zu sehen, bei wem sie sich diesmal beschwerte. Zu meiner Überraschung redete sie mit sich selbst. Bald wurde es zur Routine, sie im Hinterhof oder sogar auf der Straße mit sich selbst reden zu hören. Die Leute meinten, sie würde verrückt werden und fingen an, sie zu meiden. Unaufhörlich suchte sie die verschiedenen Anführer der politischen Fraktionen, Lehrer und alle auf, die ihrer Meinung nach kontaktiert werden sollten, um die Dinge zu ändern, doch niemand hörte ihr zu. Sie vernachlässigte sich, und bald sah die einst so schöne deutsche Frau aus wie die alten Frauen im Lager.

Danach verließ sie nur noch selten das Haus. Die Menschen beklagten den Verlust ihrer Schönheit und ihres Charismas. Ich weinte jedes Mal, wenn ich sie in diesem Zustand sah. 
"Das ist es, was wir guten Menschen antun", klagte Mutter. "Wir Palästinenser sind ein unerträgliches Volk. Wir vertreiben gute Menschen; wir machen sie verrückt!"

Natürlich glaubten alle, dass Hannelore verrückt geworden war, auch Mutter, die sie trotzdem besuchte. Mutter wollte, dass sie in ihre Heimat zurückging. Sie bettelte sie geradezu, und sagte, sie sei bereit, mit ihrem Mann in Kontakt zu treten. Hannelore gab keine Antwort, also ging meine Mutter zu Mahers Schwester und Tanten, die ihr aber sofort klar machten, dass sie mit dieser Frau nichts mehr zu tun haben wollten. Daraufhin wandte sich meine Mutter an Abu Khaled – den sie hasste und für das, was Hannelore widerfahren war, verantwortlich machte – und verlangte, dass er Hannelores Ehemann benachrichtigte; er müsse aufgefordert werden, seine Frau in ihr Land zurückzubringen.

Nichts geschah, und schon bald wurde das Lager immer wieder Ziel von Bombenangriffen der israelischen Marine und Luftwaffe. Die Menschen begannen, das Lager zu verlassen. Mein Vater fand Arbeit in einem libanesischen Dorf, und auch wir zogen weg.

Ich habe nie erfahren, was mit Hannelore geschehen ist. Ich versuchte, sie zu vergessen; den Schmerz zu vergessen, den ich dieser armen Frau zugefügt hatte, aber es gelang mir nicht. Wann immer ich jemanden aus unserer alten Nachbarschaft traf, fragte ich nach ihr. Sie war verschwunden, und niemand wusste genau, wann und wie. Einmal erzählte man mir, sie sei während des Bürgerkriegs 1975 verschwunden – also zwei Jahre, nachdem wir das Lager verlassen hatten. Ein anderes Mal sagte man mir, sie sei bis zur israelischen Invasion des Libanon 1982 geblieben und habe den Libanon mit den PLO-Kämpfern verlassen. Sie sei zurück nach Deutschland gegangen, zu ihrem Mann, und sie hätten jetzt Kinder. Aber vielleicht war sie gar nicht weg. Und vielleicht würde ich ja, wenn ich zu unserem alten Haus zurückkehrte und am Zaun stünde, so wie damals ihre Stimme hören: "Ahmad! Ahmad, ich bin noch da."


Glossar

DFLP - Die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas ist eine säkulare palästinensische marxistisch-leninistische und maoistische Organisation. Die Gruppe wurde 1968 von Nayef Hawatmeh gegründet und spaltete sich von der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) ab. Sie unterhält einen paramilitärischen Flügel, die Nationalen Widerstandsbrigaden. Erklärtes Ziel der DFLP ist es, "ein demokratisches Palästina des Volkes zu schaffen, in dem Araber und Juden ohne Diskriminierung leben, einen Staat ohne Klassen und nationale Unterdrückung, einen Staat, der es Arabern und Juden ermöglicht, ihre nationale Kultur zu entwickeln."
UNRWA - Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten ist eine UN-Agentur, die die Hilfe und die menschliche Entwicklung der palästinensischen Flüchtlinge unterstützt. Das Mandat des UNRWA umfasst Palästinenser, die während der Nakba, dem Palästinakrieg von 1948, und den nachfolgenden Konflikten geflohen sind oder vertrieben wurden, sowie deren Nachkommen, einschließlich rechtmäßig adoptierter Kinder.
PLO - Die Palästinensische Befreiungsorganisation ist eine palästinensische nationalistische Koalition, die international als offizielle Vertretung des palästinensischen Volkes anerkannt ist. Sie wurde 1964 gegründet und strebte zunächst die Errichtung eines arabischen Staates auf dem gesamten Gebiet des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina an, wobei sie die Beseitigung des Staates Israel befürwortete. Im Jahr 1993 erkannte die PLO jedoch mit dem Oslo-I-Abkommen die israelische Souveränität an und strebt nun nur noch die arabische Staatlichkeit in den palästinensischen Gebieten (Westjordanland und Gazastreifen) an, die seit dem arabisch-israelischen Krieg von 1967 von Israel militärisch besetzt sind. Am 29. Oktober 2018 setzte der PLO-Zentralrat die palästinensische Anerkennung Israels aus und stoppte alle Formen der sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den israelischen Behörden, bis Israel einen palästinensischen Staat in den Grenzen von vor 1967 anerkennt.
Fatah - Die Palästinensische Nationale Befreiungsbewegung ist eine palästinensische nationalistische und sozialdemokratische politische Partei. Sie ist die größte Fraktion des Mehrparteienbündnisses Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und die zweitgrößte Partei im Palästinensischen Legislativrat (PLC). Bei den Wahlen zum PLC im Jahr 2006 verlor die Partei ihre Mehrheit im PLC an die Hamas. Der Wahlsieg der Hamas führte zu einem Konflikt zwischen Fatah und Hamas, wobei die Fatah über ihren Präsidenten die Kontrolle über die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland behielt. Die Fatah ist auch an der Kontrolle der palästinensischen Flüchtlingslager beteiligt.