Imaginäre Leben im sudanesischen Kriegsgebiet
Kriege spielen in den jüngst erschienenen Romanen sudanesischer Schriftsteller:innen eine große Rolle, obwohl diese Romane vor den Kämpfen geschrieben wurden, die im Frühjahr 2023 in Khartum ausbrachen. Dies liegt nicht etwa daran, dass Schriftsteller:innen einen besonderen Zugang zur Zukunft hätten, sondern daran, dass die Vergangenheit, ob sie nun einige Jahre oder Jahrzehnte zurückliegt, dazu neigt, sich zu wiederholen. Der Krieg, der am 15. April begann, überraschte die Stadt - Schulkinder, die sich auf ihre Prüfungen vorbereiteten, Paare, die mit den letzten Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt waren, Menschen auf dem Weg zum Markt. Eine der ersten Bomben traf den Flughafen und beschädigte die Landebahn. Dies geschah während der letzten Tage des heiligen Fastenmonats Ramadan. Nach muslimischer Tradition werden diese letzten zehn Nächte des Ramadan mit Gebeten begangen. Doch stattdessen wurde der Nachthimmel über Khartum von Feuern erhellt, wurden die Gebete vom Hämmern der Granaten übertönt und stieg bei Morgenröte Rauch auf. Und doch fasteten die Menschen tagsüber. Bei dieser Hitze. In solcher Angst.
Leila Aboulela ist eine sudanesische Schriftstellerin, die in Schottland lebt. Ihr jüngster Roman River Spirit wurde von der New York Times als bester historischer Roman des Jahres ausgezeichnet.
Auch bei Sonnenuntergang, beim Fastenbrechen wurde weiter geschossen. Dass dies in einem heiligen Monat von einer muslimischen Armee (Miliz, paramilitärisch oder anderweitig) gegen das eigene Volk – die völlig unvorbereitete Bürgerschaft, ohne jegliche Warnung – geschehen konnte, war obszön. Ein absoluter Vertrauensbruch. Eine Sünde höchsten Grades. Eine Verletzung der Privatsphäre des Heims. Leben zerstört. Der Beginn eines beschämenden, katastrophalen Kapitels in der sudanesischen und muslimischen Geschichte.
Khartum war über ein Jahrhundert lang eine friedliche Stadt gewesen. Zuletzt wurde die Stadt 1885 angegriffen, als die revolutionären Truppen des Mahdi die Stadt einnahmen und der britische Gouverneur Charles Gordon ermordet wurde. Darüber hatte ich in meinem Roman River Spirit geschrieben. Der Roman wurde im März 2023 veröffentlicht, nur einen Monat bevor sich die Rapid Support Forces (RSF, eine islamische, paramilitärische Gruppe) gegen die sudanesische Armee erhoben. Wie schon über hundert Jahre zuvor flohen die Bürger von Khartum nach Norden über den Landweg nach Ägypten oder nach Osten in Richtung Port Sudan am Roten Meer. River Spirit endet mit der langfristigen Folge der Mahdi-Rebellion, der britischen Eroberung von 1898. Dies war das letzte Mal, dass die Einwohnerschaft der Hauptstadt von Kanonenschüssen terrorisiert wurde, sie die Haubitzen und Maschinengewehre der britischen Armee vernahm.
Leila Aboulela | River Spirit | Grove Press | 320 Seiten | 17 USD
Seitdem war die Hauptstadt ein friedlicher, kosmopolitischer Ort. Eine bunt gemischte Stadt gemächlichen Zusammenfließens, des Blauen Nils mit dem Weißen, der Kirchen und Moscheen, der Open-Air-Veranstaltungen mit afrikanischen Jazzbands und arabischen Liedern. Der Bürgerkrieg gehörte in den Süden und den Westen. Krieg fand anderswo statt, während sich Khartum entwickelte und immer weiter ausbreitete durch die stetige Landflucht und Investitionen von im Ausland lebenden Sudanesen. Als die Dschandschawid, eine furchterregende Reitermiliz, die von der sudanesischen Regierung geduldet/unterstützt/gefördert wurde, Anfang der 2000er Jahre Darfur terrorisierte und ethnisch säuberte, rührte sich Khartum kaum und zeigte auch kaum Mitgefühl. Im April 2023 dann wurde die Stadt mit einem Schlag ins Gesicht getroffen. Nie wieder würde sie den Kopf in den Sand stecken können.
Von meinem Zuhause in Schottland aus habe ich die sozialen Medien durchforstet. All diese Wörter – Situation, Krise, Feindseligkeiten, Waffenstillstandsforderung – waren nun mit der Stadt verbunden, in der ich aufgewachsen bin. Freunde und Freunde von Freunden, einige schrieben nur Gebete, andere filmten leere Straßen und zerbombte Gebäude. Andere waren wortgewandt, klarsichtig und in der Lage, unter erschütterndsten Umständen zu reflektieren und zu kontextualisieren. Sie wussten, dass die RSF, uniformierte Paramilitärs, die in die sudanesische Armee eingegliedert werden sollten, nicht mehr als eine aufgemotzte Version der Dschandschawid waren, die vor zwanzig Jahren in Darfur für Verwüstungen gesorgt hatten. Die RSF waren mit den Bedingungen der Eingliederung in die Hauptarmee nicht zufrieden und schlugen nun um sich. Jetzt rächte es sich. Frankensteins Monster hat sich gegen seinen Schöpfer gewandt.
Abdelaziz Baraka Sakin | Der Messias von Darfur | Edition Orient | 22 EUR
Auf seiner Facebook-Seite verkündete der Schriftsteller Abdelaziz Baraka Sakin, der in Österreich im Exil lebt, das erschütternde Urteil: "Was jetzt geschieht, sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Die Ermordung von Zivilisten, Raub, Überfälle, Vergewaltigungen und die Zerstörung der Infrastruktur durch die Dschandschawid-Miliz in völliger Abwesenheit eines staatlichen Sicherheitsapparates." Sakin hatte ausführlich über die Dschandschawid und die Verwüstungen, die sie in Darfur angerichtet haben, geschrieben. Er ist einer der besten Schriftsteller des Sudan und wurde 2020 mit dem Preis des Institut du monde arabe (IMA) ausgezeichnet. In seinem Roman Der Messias von Darfur (2012) macht sich eine Frau auf den Weg, um den Tod ihrer Familie durch die Dschandschawid zu rächen. Sakin schildert eine in ihren Grundfesten erschütterte Gesellschaft, beherrscht von Angst und Zerstörung. Wie häufig in Zeiten großer Not wenden sich Menschen göttlicher Hilfe zu, so die Romanfiguren an einen lokalen, harmlosen "Messias", während die Behörden diesen und dessen Anhänger vernichten wollen. Trotz des ernsten Themas ist Sakins Text erfrischend zu lesen, humorvoll und schwungvoll. Seine Beschreibungen der westsudanesischen Kulturen (im Gegensatz zu den bekannteren im Norden) eröffnen neue Welten. Wie in all seinen Büchern werden die Protagonist:innen unerbittlich attackiert, doch bleiben sie stets der Humanität verpflichtet. Jetzt, ein Jahr nach Beginn der Kämpfe, hat sich die Lage im gesamten Sudan exponentiell verschlechtert. Millionen wurden vertrieben, zwanzigtausend Menschen wurden getötet, und das Land schlittert in eine Hungersnot und den totalen Zusammenbruch. Dieser brutale und blutige Krieg nimmt kein Ende. Es mangelt an allem – an Medikamenten, Lebensmitteln, Treibstoff – nur an Munition nicht. Waffen sind nicht ausgegangen.
Fatin Abbas | Ghost Season | Jacaranda Books | 300 Seiten | 24,90 EUR
Wie Romanautor:innen anderswo auf der Welt auch sind sudanesische Schriftsteller:innen den Figuren treu, die sie auf ihren Seiten weben. Individuen, die ein bestimmtes Leben in einer bestimmten Situation führen. Sie haben Namen, Gedanken, Lieben und Schwächen. Sie haben Träume.
Ein weiterer Roman, der vor April 2023 geschrieben und (in den Vereinigten Staaten) veröffentlicht wurde, ist Ghost Season (dt. Zeit der Geister) von Fatin Abbas. Er spielt in einer Stadt zwischen Nord- und Südsudan, auf dem Gelände einer NGO, wo die Figuren mit Krieg, Klimawandel und persönlichen Ambitionen in Konflikt kommen: ein Amerikaner, der Karten der Region zeichnet, ein südsudanesischer Übersetzer, der in einen arabischen Koch verliebt ist und eine sudanesisch-amerikanische Filmemacherin, die eine Verbindung zur Heimat ihrer Eltern sucht. Abbas sammelt die Scherben auf, fängt die Stille und das Chaos ein, die Ungewissheit und die sich wiederholende Gewalt. In dieser schrecklichen Zeit, in der sudanesische Schriftsteller:innen hilflos und im Exil sind, können unsere Romane Leser:innen doch den Hintergrund liefern, vor dem sich diese Spannungen ereignen und dazu beitragen, dass wir mit den Leidenden mitfühlen.