Segen der Migration

Segen der Migration

Hein de Haas' "Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt" ist ein so kluges wie frustrierendes Buch auch über die gegenwärtige Debattenkultur und sollte in jeder Schule Pflichtlektüre sein
Hein de Haas
Bildunterschrift
Hein de Haas
Hein de Haas - Migration

Hein de Haas | Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt | S. Fischer Verlag | 512 Seiten | 28 EUR

Legt man das Buch des holländischen Soziologen und  Migrations-Experten Hein de Haas gelesen zur Seite, passiert etwas, das einem nur ganz selten nach der Lektüre eines Buchs widerfährt: man sieht die Welt mit anderen Augen.  

Diese neue Sichtweise beginnt bereits bei der morgendlichen Lektüre der aktuellen Nachrichten. Sei es die in Deutschland in einigen Bundesländern bereits eingeführte Bezahlkarte für Migranten, die verhindern soll, dass die hier lebenden Migranten ihre staatlichen Alimente in ihre Herkunftsländer überweisen oder das Entsetzen der westlichen Welt über die Putschregierung in Niger, die sich mit Russland verbündet hat und nun Migranten aus dem subsaharischen Afrika wieder durch die Sahara lässt.  Mit dem Ziel Europa.

Im Normalfall  – also ohne die vorherige Lektüre von Haas‘ Buch – würden diese Nachrichten die üblichen Triggerpunkte in unserer Gesellschaft bedienen: Migranten unterschlagen die ihnen mit staatlichem Wohlwollen zugedachten Hilfsgelder und führen sie in ihre Heimat ab.  Und schlimmer noch: mit der wieder eröffneten Niger-Route steht uns eine neue Welle der Migration bevor, die eine Bedrohung unserer wirtschaftlichen Stabilität und kulturellen Identität nach sich ziehen dürfte.

Selbst historisch bewanderten Menschen, die zumindest schon einmal von der Armut in  Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts und den damaligen Auswanderungswellen nach Südamerika gehört haben und dabei vielleicht auch noch die anschaulichen Bilder von Edgar Reitz‘ hervorragendem Film Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013)   vor Augen haben, dürften ins Grübeln geraten. Ist es heute nicht vielleicht doch viel schlimmer als früher?

Thomas Lux, Steffen Mau, Linus Westheuser | Triggerpunkte - Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft | Suhrkamp Verlag | 540 Seiten | 25 EUR

Ist es nicht. Und war es nie. Haas greift für diese These auf jahrzehntelange eigene und die Forschungen anderer zurück, bindet seine Feldforschung in Marokko genauso ein wie die Feldforschungen anderer Wissenschaftler und arbeitet sich auf 512 gut lesbaren Seiten an der herrschenden Moral ab, die  vor allem durch populistische Politik und Lobbyismus zu einem Massenvernichter von faktischen Wahrheiten geworden ist.

Diese Fakten sehen tatsächlich sehr anders aus, als das, was die Medien und Politiker aller Couleur verlautbaren und immer wieder reproduzieren. Zwar hören sich die Krisen der letzten Jahre dramatisch an, wuchs die Zahl der Geflüchteten bis Ende 2021 auf 21,3 Millionen, und waren es laut Haas 2022 infolge des Ukrainekriegs bereits 26,7 Millionen Geflüchtete. Doch trotz dieses zahlenmäßigen Anstiegs ist der Anteil der Geflüchteten an der Weltbevölkerung derselbe wie in den frühen 1990er Jahren. Und auch längerfristig in die Vergangenheit geblickt, ist der vermeintliche Anstieg der Flüchtlingszahlen in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Produkt der Statistik, denn früher, so schreibt Haas, wurden viele Länder ganz einfach nicht mitgezählt: 1951, ein Jahr nach seiner Gründung, begann das UNHCR mit der Erhebung von Flüchtlingsdaten, allerdings für nur 21 Länder. Je mehr Länder erfasst wurden –  76 im Jahr 1970, 147 im Jahr 1990, 211 im Jahr 2010 und 216 im Jahr 2018 –  desto größer wurde die Zahl der Flüchtlinge.

Haas bietet zu jedem populären, oder sollte man vielleicht sagen: populistischen Mythos sinnvolle Vertiefungen, zu dem oben bereits ausgiebig zitierten Mythos einer globalen Flüchtlingskrise liefert er nicht nur Belege dafür, dass es nicht Kriege und Unterdrückung sind, die Migranten "verursachen", denn die Welt ist friedlicher als je zuvor, mussten westliche Nationen in den Nachkriegsjahrzehnten, vor allem in Europa, die Ankunft von deutlich mehr Flüchtlingen bewältigen.

Mehr als Kriege und Unterdrückung und die im Vergleich wenigen Flüchtlinge auf den illegalen Routen, sind es laut Haas vielmehr die legalen Migranten, die zahlenmäßig bedeutend sind. Doch beide Gruppen, die Illegalen wie Legalen, reagieren gleichermaßen auf einen wichtigen Status Quo: das Bedürfnis westlicher Länder nach Arbeitskräften, die auf dem  Arbeitsmarkt fehlen.

Ronald Skeldon | Migration and Development: A Global Perspective | Routledge | 264 Seiten | 44,06 EUR

Mit leichter Hand skizziert Haas dieses Paradebeispiel kognitiver Dissonanz, das sich in fast allen politischen Lagern wiederfindet, bei konservativen Politikern in den USA und Europa genauso wie bei denen, die sich  dem linken Lager zuordnen: Offiziell wird eine harte Abschottungspolitik verordnet, im Stillen mehr und mehr Einwanderungsklauseln gelockert, um wirtschaftlich nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, denn wie schon einmal und auch von Haas immer wieder betont: ohne Einwanderung ging und geht nichts auf dieser Welt. Oder um es mit Skeldons wegweisendem Buch Migration and Development (1997) zu formulieren: es braucht neues Paradigma, das die Migration nicht als Gegensatz der Entwicklung begreift, sondern als ihren festen Bestandteil.

Per Leo, Maximilian Steinbeis | Mit Rechten reden: Ein Leitfaden | Kindle Edition | 183 Seiten | 9,99 EUR 

Die Komplexität, mit der Haas aufräumt, ist immer wieder erstaunlich und beglückend, bietet sich fast jedes Kapitel als fast schon perfekte Munition an, um mit Rechten zu reden  und Verängstigte zu beruhigen, macht Haas etwa sehr deutlich, dass eine Bezahlkarte für Migranten und ähnliche Alltagsblockaden, im Grunde ein schlechter Witz sind – nicht nur weil sie ohne Probleme auszutricksen ist – sondern weil Zuwanderung schlicht keine Gefahr für den Sozialstaat ist, wie Haas für Mythos 9 dezidiert festhält. Denn die fiskalischen Auswirkungen, so Haas,  ändern sich über das Leben eines Migranten hinweg und folgen in der Regel einer U-Form: erst positiv, dann negativ und schließlich wieder positiv. Neuankömmlinge sind Nettozahler,  in der Regel sind sie jung, berufstätig, gesund und kinderlos. Wenn sie sich niederlassen, heiraten, Kinder bekommen und älter werden, könnten sie der Gemeinschaft mehr Kosten verursachen, weil sie in zunehmendem Maße öffentliche Dienstleistungen wie Schulen und das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen. Aber wenn ihre Kinder die Schule verlassen und selbst in den Arbeitsmarkt eintreten, wendet sich die Bilanz wieder zum Positiven.

Ähnlich souverän weist Haas die Mär von gescheiterter Integration, die Gefahr von Parallelgesellschaften und die Zunahme von Verbrechen durch Migranten in ihre Schranken, demaskiert aber gleichfalls auch die Argumente der Gegenseite, sei es, dass Zuwanderung das Allheilmittel für die Wirtschaft und die Lösung für die alternden Gesellschaften im Westen sei. Und natürlich ist Menschenschmuggel nach Haas genauso wenig der Grund für illegale Migration wie Menschenhandel auch keine moderne Form der Sklaverei ist und Kampagnen gegen den Menschenhandel den ohnehin Benachteiligten eher schaden, denn die Kriminalisierung ihrer Arbeit, schreibt Haas, schützt sie nicht vor Missbrauch durch Arbeitgeber, sondern setzt den Teufelskreis aus Ausbeutung und Stigmatisierung nur fort.

Zwar gibt es immer wieder thematische Überschneidungen, hätten sich einige Kapitel auch mit anderen amalgieren lassen, wäre das Buch auch mit hundert Seiten weniger voll informativer Wucht gewesen, doch sind es gerade immer wieder Details, die überraschende Faktenlage, die Haas geduldig und gebetskettenartig anführt und die dann auch wertvoll genug ist, um sich an dieser überbordenden Fülle nicht zu stören. Und vor allem –  und das macht das Buch von Haas auch so wertvoll und als Schullektüre im Grunde unerlässlich – zeigt Haas mit skalpellartiger Schärfe, wie destruktiv und populistisch es um unsere Debattenkultur steht, die die klare Faktenlage mit verschwurbelter Argumentation oder schlichtweg Ignoranz, aggressivem Impetus oder larmoyanten Lügengebäuden entgegnet.

Das ist so frustrierend wie klug, am Ende dann aber auch wieder tröstlich, denn egal wie miserabel und mit neoliberaler Blindheit geschlagen unsere westlichen Gesellschaften auch agieren, am Ende hat sich der Mensch mit seiner migrantischen Grunddisposition dann doch durchgesetzt, vor hunderten von Jahren genauso wie heute und morgen.

Rezensiertes Buch