Ohne Fraktur keine Ossifikation
SuhrkampSteffen Mau | Ungleich vereint | Suhrkamp | 168 Seiten | 18 EUR
Am Abend, als die Ergebnisse der Europawahl 2024 verkündet wurden, bin ich mit dem Zug im Bahnhof der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt gestrandet. Meine Rückreise von Ost nach West war beendet, bevor sie richtig begonnen hatte. Nichts ging mehr, zumindest, wenn man wie ich in den Süden Deutschlands reisen wollte. Im Gepäck hatte ich ein Wochenende voller Ostalgie: 40-jähriges Abiturtreffen in Dessau, Spurensuche zwischen den Mauern der alten Heimatstadt, Osten-Festival in in den Brachen der ehemaligen Industriestadt Wolfen. Und nun dank der jahrzehntelangen Eisenbahnphobie deutscher Verkehrspolitiker die spontane Möglichkeit, bei alten Freunden zu übernachten – aufgewachsen in und geprägt von der DDR, so wie ich.
Alles war angerichtet für einen sentimentalen Abend im Hinterhof des alten Pfarrhauses, Bier stand bereit, alte und neue Geschichten wollten erzählt werden. Weißt du noch? Was macht eigentlich? Wer hat denn damals? Dann wurden die regionalen Auszählungsergebnisse bekanntgegeben: mehr als 30 Prozent für die rechtspopulistische AfD in Thüringen, dazu 15 Prozent für das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht – Stimmen gegen die Idee einer offenen und toleranten Gesellschaft. Und nicht einmal drei Monate später sollte in Thüringen ein neuer Landtag gewählt werden. Die Stimmung, so erzählten meine Gastgeber, sei schon länger gekippt. Der Ton sei rau. Das Laute, Aggressive, Ausgrenzende dominiere. Unheimlich schwer sei es geworden, überhaupt noch miteinander ins Gespräch zu kommen.
Was ist nur los mit meiner alten Heimat? Pünktlich zum ostdeutschen Landtagswahljahr (Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt) hat Steffen Mau ein schmales Bändchen veröffentlicht, das eine Antwort auf diese Frage verspricht. Seit seinem 2019 erschienenen Bestseller Lütten Klein gilt er „als eine Art Haussoziologe der Ostdeutschen“ (C. Pollmer). Sein neues Buch Ungleich vereint arbeitet sich auf angenehm undogmatische Weise an der These ab, dass trotz aller durchaus erfolgreichen Angleichungsbemühungen dauerhafte Unterschiede zwischen Ost und West bleiben werden. 35 Jahre nach dem Mauerfall ziehe sich immer noch eine Phantomgrenze durch das Land. Wenn man so unterschiedliche Indikatoren wie Eigentumsquote, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, Patentanmeldungen, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, durchschnittliche Lebenserwartung von Männern, Vertrauen in Institutionen u.a. auf eine Deutschlandkarte farblich projiziert, werden zwangsläufig die historischen Umrisse von DDR und BRD sichtbar, so seine Beobachtung.
Ostdeutsche Biografien sind geprägt von Frakturen, von Brüchen im Lebenslauf. Diese bereits in seinem Lütten-Klein-Buch ausgebreitete These ergänzt Mau nun durchaus originell um den medizinischen Begriff der „Ossifikation“. Das kann Verknöcherung bedeuten, aber auch Knochenbildung, Regeneration nach einem Bruch und Narbenbildung. Als Gedankenspiel – wie Mau es versteht – eröffnet dieser Begriff ein weites und deutungsoffenes Feld. Narbengewebe juckt, mal mehr, mal weniger. Die Erfahrung, dass die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft zwar ein sehr feines Sensorium für eigene Befindlichkeiten entwickelt hat, aber beim Blick auf die „fünf neuen Länder“ die Vernarbungen der „anderen Deutschen“ völlig unsensibel ignoriert, hat auch dazu beigetragen, dass sich laut Mau ein „eigenständiger Kultur- und Deutungsraum Ostdeutschland“ herausgebildet hat – eine ostdeutsche Teilidentität.
Der vielbeschworene „Aufbau Ost“ war größtenteils ein „Nachbau West“. Die Grundannahme, dass der Osten nur lang genug aufholen müsse, um automatisch zum Westen zu werden, erinnert in seiner Erfolglosigkeit an Walter Ulbrichts 1969 formuliertes Ziel der DDR-Wirtschafts- und Sozialpolitik: Überholen ohne aufzuholen. Womöglich aber ist der Osten gar kein Nachzügler mehr, sondern längst ein Vorreiter. Mau verweist in seinem Buch auf ostdeutsche Entwicklungen, die längst den Westen erreicht haben: mangelnde Parteienbindung, Vertrauensschwund in Institutionen, rechtspopulistische Mobilisierung.
Was also tun? Im Erfurter Pfarrgarten haben wir uns das spätestens nach dem dritten Bier gefragt. Steffen Mau macht ein paar Vorschläge, die durchaus einen gesamtdeutschen Horizont öffnen. Er kann sich vorstellen, dass in Anknüpfung an die kurze Aufbruchszeit der DDR zwischen Mauerfall und deutscher Einheit Ostdeutschland zu einem „Labor der Partizipation“ werden könnte. Wo Parteien, Institutionen, bürgerschaftliche Initiativen keine Rolle mehr spielen, helfen Spielformen der direkten Demokratie möglicherweise weiter: Bürgerräte, runde Tische, Bürgerdialoge und andere Formen der Mitbestimmung jenseits von Parteien und Organisationen. Es ist eine Rückbesinnung, eine Wiederbelebung. Denn im harten Schlagschatten, den die deutsche Einheit auf sie geworfen hat, sind die meisten der zwischen 1989 und 1990 aufkeimenden basisdemokratischen Pflänzchen im Osten ganz schnell wieder eingegangen.