Moral in Flammen

Verso BooksDidier Fassin | Moral Abdication: How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza | Verso Books | 128 pages | 9.99 GBP
Als Anthropologe beschäftigt sich Didier Fassin seit langem mit dem, was oft als „ethische Wende” in der Anthropologie bezeichnet wird. In Anlehnung an Luc Boltanskis Moral- und Politiksoziologie markiert diese Wende – insbesondere seit den 2000er Jahren – eine Verlagerung hin zur Untersuchung des moralischen Lebens nicht nur anhand von Normen und Strukturen, sondern auch als gelebte ethische Erfahrung: wie Menschen moralisch argumentieren, mit Dilemmata umgehen und Werte im Alltag artikulieren. Fassin geht jedoch noch einen Schritt weiter. Seine Anthropologie verfolgt konsequent die Verflechtung von Ethik mit Macht und Institutionen. In Werken wie Humanitarian Reason (2012) und Enforcing Order (2013) zeigt er, wie moralisches Vokabular – Mitgefühl, Würde, Humanitarismus – in Bereichen wie Polizeiarbeit und Einwanderung funktionieren und wie scheinbar „gute“ Handlungen durch die Strukturen, die sie hervorbringen, kompromittiert werden. Sein Ansatz verbindet daher ethische Kritik (moralische Verantwortung) mit politischer Analyse (strukturelle Ungerechtigkeit) und deckt auf, wie moralische Ansprüche Machtverhältnisse verschleiern können, wodurch sein Ansatz sowohl ethischer als auch politischer Natur ist.
In Moral Abdication (2024) wendet Fassin denselben Blickwinkel an: Er untersucht nicht nur, was Gaza angetan wurde, sondern auch, wie der westliche Moraldiskurs dies zugelassen hat. Er fasst die globale Passivität als kollektive Abkehr von moralischer Verantwortung zusammen. Das Buch handelt nicht nur von Politik, sondern auch vom Versagen einer menschlichen Pflicht, auf der die ethische Wende der Anthropologie besteht.
Fassin stellt eine Art Archiv zusammen, in dem er die ersten sechs Monate nach dem 7. Oktober 2023 dokumentiert, insbesondere wie abweichende Stimmen – Studenten, Aktivisten, einige Intellektuelle – unterdrückt wurden. Seine Absicht ist es, Beweise für den Widerstand gegen das Verschweigen des Leidens der Palästinenser zu bewahren. Wichtig ist, dass Fassin palästinensische Wissenschaftler (Abdaljawad Omar, Tareq Baconi), Schriftsteller und Dichter (insbesondere Refaat Alareer) in den Vordergrund stellt und ihnen eine Stimme gibt, die der westliche Diskurs ausblendet.
Passive und aktive Zustimmung
Fassin unterscheidet zwischen passiver Zustimmung (keinen Widerstand leisten und damit etwas ermöglichen) und aktiver Zustimmung (supporten und legitimieren). Seine scharfe Kritik richtet sich gegen westliche Regierungen, Intellektuelle und Medien wegen ihrer passiven Zustimmung (z. B. die Lähmung des UN-Sicherheitsrats) oder aktiven Zustimmung/Komplizenschaft (Rechtfertigung der Handlungen Israels, etwa der Verkauf von Waffen an Israel). Dies, so argumentiert er, stelle einen tiefgreifenden Zusammenbruch der moralischen Verantwortung dar.
Die Überwachung der Sprache
Einer der eindrucksvollsten Abschnitte des Buches befasst sich mit Sprache. Fassin zeigt, wie Sprache systematisch manipuliert wurde und wie Forderungen, das Leiden der Zivilbevölkerung zu beenden, als „antisemitisch“ gebrandmarkt werden: „Völkermord“ und „ethnische Säuberung“ sind verbotene Begriffe, Militäroperationen werden im sogenannten „Israel-Hamas-Krieg“ als „Gegenmaßnahmen“ beschönigt, und schon die Erwähnung von „Palästina“ wird unterbunden. Zensur oder Selbstzensur sind im öffentlichen Diskurs zur Normalität geworden. Er dokumentiert, wie beispielsweise die New York Times ihre Journalisten anwies, die Begriffe „Völkermord“ und „ethnische Säuberung“, „Palästina“, „Flüchtlingslager“ oder „besetzte Gebiete“ nicht zu verwenden und übermäßig „emotionale“ Wörter wie „Gemetzel“ oder „Massaker“ zu vermeiden.
Für Fassin ist dies nicht nur Semantik. Es handelt sich um eine Überwachung des Denkens, die durch Denunziationen und die Kriminalisierung von Studenten, Professoren und Bürgern noch einmal verstärkt wird: „Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, die Forderung nach einer Debatte über Worte, die Verteidigung einer Sprache ... könnten die Welt verständlicher machen“ (S. 6). Das bedeutet auch, die Geschichte zurückzugewinnen: Ob der Angriff vom 7. Oktober als antisemitischer Pogrom oder als Widerstand angesehen wird, hängt davon ab, ob die Geschichte in die Interpretation einfließen darf. Fassin zitiert George Orwells dystopischen Roman 1984: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“ Wir werden also aufgefordert, Ereignisse und soziale Phänomene zu analysieren, ohne sie zu soziologisieren oder zu historisieren. Er erinnert auch an die Worte des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zum Thema Terrorismus: „Wenn man damit beginnt, das Unerklärliche zu erklären, bereitet man sich darauf vor, das Unentschuldbare zu entschuldigen.“ (S. 19)
Für Fassin bedeutet schon die Rede von einer „humanitären Krise“, dass man es vermeidet, die Dinge beim Namen zu nennen, indem man die Auswirkungen benennt, ohne die Ursache zu nennen, und dass man die Forderung nach humanitären Korridoren und Pausen rechtfertigt, während man gleichzeitig die fortgesetzte Bombardierung von Zivilisten unter scheinbarer Achtung des Völkerrechts zulässt. Nun fordern viele westliche Politiker von Israel lediglich, die Einfuhr von Lebensmitteln in den Gazastreifen zuzulassen. Was Fassin analysiert, ist kein neues Phänomen: Der israelische Philosoph Adi Ophir hatte zuvor die Politik der Katastrophisierung als einen Weg angeprangert, kritische Reflexionen über einen Konflikt im Namen der Dringlichkeit einer Intervention zu unterbinden und gleichzeitig mit denen zusammenzuarbeiten, die den Konflikt tatsächlich verursacht hatten (nämlich die israelischen Besatzungstruppen).
Islamophobie als strukturierender Faktor
Fassin identifiziert Islamophobie als einen zentralen Faktor für die Zustimmung des Westens. Sie ist ideologisch geprägt und hat ihre Wurzeln in der Kolonialgeschichte und den Ereignissen nach dem 11. September 2001: Muslime werden als gefährlich dargestellt, Araber als Bedrohung für die europäische Identität, während die Sympathie der israelischen Regierung gilt (Israel ist „der Feind unseres Feindes“). Zu Recht weist er auf den Ausdruck „Muslime sind die neuen Juden“ hin, der in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur kursiert und besagt, dass der historische Antisemitismus Europas heute auf die Muslime übertragen wurde.
Erweiterung der Argumentation: Symbolischer Liberalismus
Ich stimme Fassins Diagnose der moralischen Abdankung zu, schlage jedoch vor, sie um das zu erweitern, was ich als Krise der liberalen Demokratie und Aufstieg des „symbolischen Liberalismus“ bezeichne. In meinem Buch Against Symbolic Liberalism: A Plea for Dialogical Sociology (Hanafi 2025a) argumentiere ich, dass in einer Zeit zunehmender Polarisierung die Produzenten der Wissensökonomie (einschließlich Sozialwissenschaftler) oft genau die Ungerechtigkeiten reproduzieren, die sie bekämpfen wollen, indem sie festgefahrene Positionen einnehmen und gleichzeitig den Dialog ablehnen, der alternative Perspektiven hervorbringen könnte. Sie bekennen sich zu klassischen liberalen Prinzipien, handeln jedoch politisch illiberal. Ich kritisiere, wie der symbolische Liberalismus die Universalität der Rechte überhöht und gleichzeitig den Raum für Dialogbereitschaft einschränkt.
Ich schließe mich Fassin voll und ganz an, wenn er einige Faktoren hervorhebt, die zu dieser moralischen Abdankung beitragen, wie Islamophobie, die Erinnerung an den Holocaust, die zwischen Aufrichtigkeit und bestimmten Formen der Instrumentalisierung schwankt, und das euro-amerikanische koloniale Erbe. In meinem jüngsten Artikel (Hanafi 2025b) habe ich zwei weitere Faktoren hinzugefügt: erstens den Aufstieg des symbolischen liberalen Zionismus als Verzerrung des historisch liberalen Zionismus und zweitens die Vorstellung, dass Israel ein säkularer Staat ist, der nichts falsch machen kann.
Meiner Ansicht nach ist der Zionismus in erster Linie eine nationalistische Doktrin, die kolonialistisch, chauvinistisch, ausgrenzend oder emanzipatorisch sein kann – ähnlich wie jede andere Form des Nationalismus. Ich glaube jedoch, dass die größte Veränderung dieser Ideologie in zwei Kontexten stattfand: erstens, wie Liberale den Liberalismus selbst verletzten und ihn in einen symbolischen Liberalismus verwandelten, und zweitens, wie religiöse Kräfte ihn radikalisierten. Während viele sich nur auf Letzteres konzentrieren wollen (z. B. Illouz 2022), behaupte ich, dass das Problem vor allem bei den liberalen Zionisten liegt. Mohamad Fadel (in Vorbereitung) definiert dies treffend als „die Erkenntnis, dass die Palästinenser Opfer von etwas sind, dass ihre Opferrolle jedoch nur eine humane Reaktion erfordert und keine rechtliche Reaktion im Einklang mit den allgemeinen liberalen Grundsätzen der Gerechtigkeit“. Diese Form des Zionismus nimmt die Gleichberechtigung der Palästinenser nicht ernst, und dieses Versagen manifestiert sich laut Fadel in drei wesentlichen Dimensionen:
(1) Viele Transparente bei diesen Demonstrationen machten deutlich, dass es sich um einen Aufruf zu einem demokratischen und säkularen Staat für alle seine Einwohner handelt.
1. Historisch: Der symbolische liberale Zionismus ignoriert oft die Geschichte Palästinas vor der Gründung des Staates Israel. So kritisierte beispielsweise Eva Illouz (2024) in einem kürzlich geführten Interview den Slogan „Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein” und argumentierte, dass dies das erste Mal sei, dass eine Nation [die Israelis] zur Auslöschung aufgerufen werde (1). Dabei übersieht sie geflissentlich, dass Israel die palästinensische Nation bereits lange zuvor effektiv ausgelöscht hatte.
2. Rechtlich: Symbolische liberale Zionisten missachten die Rechtsnormen, die in Palästina vor und nach der Gründung des Staates Israel galten. Areej Sabbagh-Khoury (2023) nennt als Beispiel die linke zionistische Siedlungsbewegung Hashomer Hatzair, die durch die Anwendung spezifischer neuer Rechtsnormen große Teile Palästinas in souveränes jüdisches Gebiet umwandelte. Das Gesetz über das Eigentum Abwesender bot dem Staat einen rechtlichen Mechanismus, um das Eigentum palästinensischer Privatpersonen und Unternehmen zu enteignen. Dieses Gesetz behandelte Palästinenser als Untertanen ohne Rechte, und der Konflikt zwischen Zionisten und nichtjüdischen Palästinensern wird oft als ein Konflikt dargestellt, der in einem terra nullius (Niemandsland) stattfindet. Aus dieser Sicht wird die historische Tatsache der Marginalisierung der Juden als ausreichend angesehen, um das zionistische Projekt von Vorwürfen des Kolonialismus freizusprechen. Dabei wird natürlich auch die Tatsache ignoriert, dass das Westjordanland, der Gazastreifen und die Golanhöhen international als besetzte Gebiete anerkannt sind.
3. Politisch: Seit der Gründung Israels drängen liberale Zionisten auf ein System der ethnischen Vorherrschaft der Juden über Palästina und die nichtjüdischen arabischen Palästinenser. Sie präsentieren ihre politischen Ziele als rational und auf die Sicherheit des jüdischen Volkes ausgerichtet, aber „sie sind nicht vernünftig, weil ihre Vorschläge keine gemeinsame Grundlage für eine gegenseitige Zusammenarbeit mit nichtjüdischen Palästinensern auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung der Gleichberechtigung suchen“ (Fadel, in Kürze erscheinend). Letztendlich beruht der symbolische liberale Zionismus auf der Überzeugung, dass das, was für die Juden als Volk gut ist, wichtiger ist als das konventionelle liberale Ideal der gegenseitigen Freiheit. Allgemeiner gesagt bezeichnet John Rawls (1993) eine solche Regelung als „Modus vivendi”, der von Natur aus instabil ist. Für den politischen Liberalismus nach Rawls ist der Übergang vom Rationalen zum Vernünftigen entscheidend, und dieser Wandel wird durch den symbolischen liberalen Zionismus verletzt (Fadel, in Vorbereitung). Diese Strömung des liberalen Zionismus wird nicht von klassischen zivilen liberalen Eliten regiert, sondern oft durch starke Eingriffe des Militärs und der Sicherheitsbehörden, die sowohl die nationale Gerechtigkeit für die Kolonisierten missachten als auch die Art und Weise prägen, wie die israelische Gesellschaft konkurrierende Vorstellungen vom Guten aushandelt.
Ein weiterer Faktor, der meiner Meinung nach diese moralische Abdankung erklärt, ist die im Westen weit verbreitete Wahrnehmung Israels als säkularer Staat, der nichts falsch machen kann. Betrachtet man jedoch nur einen Indikator – die Ausweitung illegaler Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten –, wird schnell klar, dass die israelischen Führer – sowohl Säkularisten als auch religiöse Akteure, sowohl Linke als auch Rechte – sich an diesem Landraub beteiligt haben (Hanafi 2013). Ich erinnere mich an einen öffentlichen Vortrag des verstorbenen französischen Soziologen Alain Touraine an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris im Jahr 1993, in dem er das israelische „Wunder“ beschrieb, innerhalb kurzer Zeit 100.000 russische Juden aufgenommen zu haben. Als ich dieses „Wunder” mit dem Hinweis in Frage stellte, dass die meisten dieser Russen illegal im besetzten Palästina angesiedelt worden waren, antwortete er: „Herr Hanafi, diese Migranten werden die Gleichung verändern: Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen, sie sind säkular, also werden sie den Friedensprozess unterstützen.”
Mit einer fast schon perversen Naivität erkannte er nicht, dass diese illegalen Siedler einige der kolonialistischsten rechtsextremen Parteien im israelischen Regime gründen würden – wie beispielsweise Yisrael Beiteinu („Israel, unser Zuhause“) – und sich mit der religiösen Siedlerbewegung im Westjordanland verbünden würden. Nach dieser Begegnung trafen wir noch einige Male zusammen, und von Zeit zu Zeit fragte er mich nach dem arabisch-israelischen Konflikt. Ich erinnerte ihn an seine Worte, aber jedes Mal erhielt ich nur ein Lachen oder ein breites Lächeln von ihm.
Lassen Sie mich abschließend die großartige Analyse von Fassin zur moralischen Abdankung weiterführen, indem ich argumentiere, dass es nicht einfach um Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen oder denen geht, deren Leben unwürdig ist, sondern darum, jede Debatte in der Öffentlichkeit zu unterbinden, indem palästinensische Solidarität kriminalisiert wird. Diese Kriminalisierung begann bereits vor dem Krieg gegen Gaza, indem seit der Verabschiedung der Arbeitsdefinition von Antisemitismus durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) im Jahr 2005 versucht wurde, Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen und sogar den Zionismus nicht als nationale Doktrin, sondern als Ethnizität neu zu definieren. Nach dieser Neudefinition werden Zionisten als Nationalität angesehen, ähnlich wie Araber, Mexikaner oder Franzosen, und jede Kritik an dieser „Nationalität” wird als rassistisch bezeichnet. Dies ist eine Überjustizialisierung unseres Lebens, die moralische Argumentation in der Öffentlichkeit unmöglich macht. Die IHRA-Definition von Antisemitismus ist Teil der Gesetzgebung vieler westlicher Länder, um Kritiker aus der öffentlichen Debatte in die Gerichtssäle zu verweisen und moralische Argumente in der Öffentlichkeit auszuschließen.
Fazit
Fassins (komplexe) moralische Klarheit ist sowohl dringlich als auch vorausschauend. Bereits im November 2023 warnte er vor „dem Gespenst des Völkermords in Gaza” (Fassin 2023). Dieser Völkermord wurde nicht nur von UN-Organisationen und internationalen Menschenrechtsgruppen bestätigt, sondern auch von zwei israelischen Menschenrechtsorganisationen, B'Tselem und Physicians for Human Rights Israel, die in zwei Berichten zugaben, dass Israel einen Völkermord begeht. Selbst der israelische Historiker Raz Segal beschreibt die Ereignisse in Gaza als „Lehrbuchbeispiel für Völkermord”.
Aus der Perspektive der Menschenrechte und der Gleichheit aller Leben betrachtet Fassin die Gaza-Krise im Zusammenhang mit einem allgemeinen Zusammenbruch der moralischen Autorität im Westen – ein Argument, das kürzlich auch von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen wurde. Dieses Buch ist eines der wenigen Werke, das die Welt nach Gaza anders sieht als sie zuvor war. Ich möchte allerdings noch das Buch von Andreas Malm hervorheben (2025) The Destruction of Palestine Is the Destruction of the Earth hervorheben, das den Konvergenzpunkt zwischen zwei Prozessen, dem politischen und dem ökologischen, aufzeigt, für die Gaza als Mikrokosmos steht. Dieser von Malm als „Technogenozid“ bezeichnete Völkermord, begangen von einem technologisch fortgeschrittenen Staat, ist der erste fortgeschrittene spätkapitalistische Völkermord.
Fassin ist nicht nur von der ethischen Wende beeinflusst; er ist eine ihrer wichtigsten intellektuellen Stimmen, wenn auch immer mit einer politischen Schärfe, die ihn von eher rein tugendethisch orientierten Anthropologen unterscheidet. In seiner Auseinandersetzung mit dem Schweigen des Westens stellt Moral Abdication sowohl einen Durchbruch in der Anthropologie als auch einen dringenden Beitrag zur globalen öffentlichen Debatte dar.
Die Verleumdungskampagnen als Reaktion auf dieses Buch erinnern mich an ein Gespräch, das ich mit Ghassan Hage über seine Feldforschung im Libanon während des Bürgerkriegs 1978 geführt habe. Einer seiner Interviewpartner, ein Mitglied einer rechten Miliz, behauptete, die Palästinenser im Libanon wollten das Land übernehmen und eine alternative Heimat für sich selbst errichten. Als Hage ihn fragte, ob er dafür Beweise habe, verfiel der Mann in finsteres Schweigen, bevor er sowohl die Frage als auch den Fragenden wütend als politisch abscheulich zurückwies: „Ich hole meinen Revolver aus dem Auto.“ Heute habe ich das Gefühl, dass die Diskussion über den israelischen Krieg gegen Gaza denselben „Beweisstandard“ erreicht hat. In ähnlicher Weise begegnete ich bei einem Vortrag in Oslo über den Krieg gegen Gaza einem Zuhörer, der wiederholt behauptete, der Antisemitismus in Europa nehme zu, und dies auf Demonstranten zurückführte, die einen Waffenstillstand in Gaza und eine politische Lösung für die israelische Besatzung forderten. Ich konnte ihn nicht davon abhalten, zu fragen, ob es während der Schlacht von Algier in den 1950er Jahren oder dem deutschen Völkermord in Namibia zu Beginn des 20. Jahrhunderts als normal gegolten hätte, zu behaupten, dass Algerier anti-französisch und Namibier anti-deutsch seien – oder schlimmer noch, dass Algerier und Namibier anti-christlich seien.
Das Niveau der Diskussion unter einigen Kritikern von Fassins Werk – die über einen angeblichen Anstieg des Antisemitismus unter Palästinensern streiten – bleibt auf diesem gleichen, schlechten Debattenniveau. Kritiker, wie beispielsweise eine Rezension in Le Monde, haben Fassin vorgeworfen, Quellen falsch darzustellen. Aber solche Einwände verblassen neben der Kraft seiner Anklage: dass der Westen nicht nur politisch, sondern auch moralisch versagt hat und dass diese Abdankung die künftige Weltordnung prägen könnte.
Referenzen
Fadel, Mohammad. Forthcoming. “Beyond Liberal Zionism: International Law, Political Liberalism and the Possibility of a Just Zionism.” Transnational Law and Contemporary Problems.
Fassin, Didier. 2012. Humanitarian Reason: A Moral History of the Present. University of California Press.
Fassin, Didier. 2013. Enforcing Order: An Ethnography of Urban Policing. Polity.
Fassin, Didier. 2023. „Le Spectre d’un Génocide à Gaza.“ AOC, November 1. https://aoc.media/opinion/2023/10/31/le-spectre-dun-genocide-a-gaza/.
Fassin, Didier. 2024. Moral Abdication: How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza. Translated by Gregory Elliott. Verso.
Hanafi, Sari. 2013. „Explaining Spacio-Cide in the Palestinian Territory: Colonization, Separation, and State of Exception.“ Current Sociology 61 (2): 190–205.
Hanafi, Sari. 2025a. Against Symbolic Liberalism: A Plea for Dialogical Sociology. Liverpool University Press.
Hanafi, Sari. 2025b. „Societal Polarization, Academic Freedom, and the Promise of Dialogical Sociology.” Dialogues in Sociology 1 (2).
Illouz, Eva. 2022. Les Émotions contre la démocratie. Premier Parallèle.
Illouz, Eva. 2024. “Antisemitismus an Den Universitäten: Euer Hass Auf Juden.” Süddeutsche Zeitung, 17. Mai. https://tinyurl.com/vetf26bv.
Malm, Andreas. 2025. The Destruction of Palestine Is the Destruction of the Earth. Verso.
Rawls, John. 1993. Political Liberalism. Columbia University Press.
Sabbagh-Khoury, Areej. 2023. Colonizing Palestine: The Zionist Left and the Making of the Palestinian Nakba. 1st edition. Stanford University Press.