Kolonialfossil
Als mir die Frage gestellt wurde, ob ich eine Kritik über das neue Buch der Klimatologin Dr. Friederike Otto schreiben möchte, habe ich sofort zugesagt. Schließlich verfolge ich das Thema Klimawandel seit mehr als 30 Jahren.
Das Buch „Klimaungerechtigkeit“ ist am 19. Dezember 2023 im Ullstein-Verlag erschienen. Im Februar 2024, beim Schreiben dieser Rezension, stand es auf Platz 1 der deutschen Sachbuch-Bestsellerliste, die „Deutschlandfunk Kultur“, das „Zweite Deutsche Fernsehen“ und die Wochenzeitung „Die Zeit“ monatlich zusammenstellen.
Die Autorin Prof. Dr. Friederike Otto wurde 2023 für ihre Leistungen in der Klimaforschung mit dem Deutschen Umweltpreis geehrt. Sie gehört zu den wenigen Klimaforschenden, die bei Extremwetterereignissen den Anteil des Menschen am Klimawandel anhand der Extreme bestimmen bzw. einen solchen auch ausschließen können. Die berechnenden Verfahren zur Attributionsforschung, auch Zuordnungsforschung genannt, hat sie maßgeblich mitentwickelt. Mit Geert Jan van Oldenborgh – die beiden hatten 2015 gemeinsam das World Weather Attribution-Projekt gegründet – wurde sie 2021 vom „Time Magazine“ zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gezählt. Seit 2021 arbeitet Friederike Otto an der international hoch geachteten Universität Imperial College in London und führt dort ein Team in ihrer Fachdisziplin.
Friederike Otto | Klimaungerechtigkeit - Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat | Ullstein Verlag | 300 Seiten | 22,99 EUR
„Klimaungerechtigkeit“ beginnt mit einem einleitenden Kapitel, das man als Vorwort verstehen kann. Es folgen vier Teile mit je zwei Kapiteln, abgerundet durch ein Schlusskapitel unter der frei nach Lenin formulierten Überschrift „Und jetzt?“ Die Unterteilung in vier wesentliche Abschnitte – Hitze, Dürre, Feuer, Flut – gehört zu den Stärken dieses Buches. Anhand von acht konkreten Beispielen aus aller Welt erklärt die Autorin Klimaextreme und deren Folgen. Es sind diese Katastrophen, die uns in Zukunft verstärkt beschäftigen und mit steigender Tendenz treffen werden. Die wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Hitzewellen, Dürre, Feuerwetter und Fluten werden verständlich dargestellt, wobei Friederike Otto immer wieder betont, wie wichtig es ist, sich auf die Klimaveränderungen vorzubereiten und einzustellen.
Schon im ersten Kapitel bezeichnet sie extreme Wettereignisse als lehrreiche Momente. Diese zu verstehen, kann uns beim Kampf gegen den Klimawandel, vor allem aber bei der Bekämpfung der Folgen weiterbringen. Frei nach der Devise „ein gebranntes Kind scheut das Feuer“ sollten wir uns dringend viel stärker mit den realen Folgen des schon wirkenden Klimawandels auseinandersetzen. Die Klimawissenschaftlerin beklagt zurecht, dass zu viele politisch und wirtschaftlich Verantwortliche die Vorsorge gegen reale Risiken mit tödlichen Folgen vernachlässigen und adressiert vor allem die Führungsriege von Firmen, die fossile Energieträger fördern. Auf deren Kunden, also auf diejenigen, die Brennstoffe auf fossiler Basis kaufen und deren Leben manchmal sogar davon abhängt, geht sie kaum ein. In dieser Einseitigkeit offenbart sich ein großes Manko dieses Buches. Der Untertitel verrät es schon: Kapitalismus, Rassismus und Sexismus sowie eine generelle gesellschaftliche Ungerechtigkeit sind schuld an der Klimakrise. Andere Faktoren schließt sie aus. Friederike Otto erhebt ihre persönliche Sichtweise auf die menschlichen Gesellschaften zum Maß aller Dinge. Schon im Einleitungskapitel resümiert sie: „Was mich die Extremwetterereignisse also vor allem gelehrt haben, ist, dass die Klimakrise eine Krise ist, die hauptsächlich durch Ungleichheit und die nach wie vor unangefochtene Vorherrschaft patriarchalischer und kolonialer Strukturen geprägt ist, die zudem verhindern, dass ernsthaft Klimaschutz betrieben wird. […] Der Klimawandel ist ein Symptom dieser globalen Krise der Ungleichheit und Ungerechtigkeit, nicht ihre Ursache.“ In meiner Naivität dachte ich immer, es läge am menschlichen CO2-Ausstoß, der u. a. wohl grob geschätzt zu einem Drittel auf die etwa zwei Milliarden Autofahrer:innen zurückzuführen ist, die unsere Spezies hervorgebracht hat.
Was mich meine Lebens- und Politikerfahrung sowie mein Geschichts- und Literaturstudium gelehrt haben, ist, dass Menschen und ihre Lebensformen mindestens genauso komplex sind wie unser planetarisches Klima. Deshalb finde ich die oben zitierte Einschätzung der Autorin fahrlässig vereinfachend und wissenschaftlich nicht haltbar.
Das Buch war für mich wegen der ständigen Vermischung persönlicher Ansichten und wissenschaftlicher Tatsachen nur schwer zu lesen. Hätte ich mich nicht verpflichtet eine Kritik zu schreiben, hätte ich es schon früh beiseitegelegt, was bei meinem großen Respekt vor Büchern allerdings nur äußerst selten vorkommt.
Für Friederike Otto scheint die Menschheitsgeschichte erst mit der westlichen Kolonisierung der Welt zu beginnen. Gerechtigkeit (für die wir uns immer einsetzen sollten) gab es aber schon vor der Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation nur in einem sehr geringen Maße. Die Autorin wälzt die ganze Verantwortung auf die alten Industrieländer ab, als hätten deren Eliten die Atmosphäre seit der Erfindung der Dampfmaschine geradezu absichtlich vergiftet zum Zwecke der Unterdrückung anderer. Afrikanische Eliten, um nur ein Beispiel zu nennen, spricht sie vor dem Hintergrund westlicher Kolonialisierung beinahe von jeder Schuld frei. Sie versucht den Eindruck zu erwecken, als bestehe das Kolonialverhältnis noch immer. Dass viele Eliten dort (aber natürlich nicht nur dort) ihre Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten gnadenlos ausgeplündert haben, ist ihr keine Zeile wert. Dabei ist sich die menschliche Natur, bei allen kulturellen Unterschieden, im Wesentlichen doch gleich.
Ganz unmöglich wird es an den Stellen, an denen sie zum Beispiel Väter in einem geradezu rüden Ton dazu aufruft, ihre Söhne doch nicht mit dem Auto, sondern gefälligst mit dem Fahrrad zum Fußballtraining zu bringen. Sie geht dabei selbstverständlich davon aus, dass alle nah an einem Fußballplatz wohnen. Ein paar Seiten später verwahrt sie sich allerdings heftig gegen jede Kritik an Klimaforschenden, die zu Konferenzen fliegen. Dass der weltweite Klimawandel wesentlich effektiver und der CO2-Ausstoß günstiger im Rahmen der G20 bekämpft werden könnte, wenn auch weitere bzw. nicht-westliche Bevölkerungen dazu willens wären, kommt ihr nicht in den Sinn. Immerhin sind in der G20 ungefähr zwei Drittel der Weltbevölkerung vertreten und somit alle Länder mit dem größten CO2-Ausstoß.
Durch das ganze Buch zieht sich der Begriff „kolonialfossil“. Beim Lesen fragte ich mich, ob sich Mutter Erde (siehe „Das Gaia-Prinzip“ von James Lovelock) im Laufe ihrer Milliarden Jahre währenden Geschichte genau überlegt hat, fossile Energieträger in Gebieten entstehen zu lassen, die einmal für eine doch relativ kurze Zeit zu westlichen Kolonien würden. Die Erdöl- und Kohlevorkommen der USA, die Kohlevorkommen in Deutschland und China oder das Erdöl der Nordsee scheint die Autorin übersehen zu haben. Erst kurz vor Schluss wird deutlich warum. Das von ihr erfundene Wort „kolonialfossil“ ist für sie gleichbedeutend mit neoliberal.
Wichtiger als solche Abwege sind andere Einsichten. Friederike Otto gibt unumwunden zu, dass sie sich die verheerenden Feuer in Lytton, Kanada, während der großen Hitzewelle 2021 auch nicht hatte vorstellen können, obwohl das Verstehen des Klimawandels ihr Beruf ist. Es geht ihr wohl so wie fast allen Menschen: Psychologisch sind wir auf das, was auf uns zukommt, noch lange nicht vorbereitet. Die Feuer von Lytton brachen bei einer globalen Durchschnittstemperatur von ca. 1,2 °C aus. Das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus der Europäischen Union stellte für den Zeitraum vom 1. Februar 2023 bis zum 31. Januar 2024 zum ersten Mal eine weltweite Durchschnittstemperatur von 1,52 °C fest. Die Herausforderungen, denen sich die Menschheit durch den Klimawandel stellen muss, sind viel größer als Friederike Otto sie einschätzt. Wir stehen nicht in erster Linie vor einer politisch-technischen Herausforderung, sondern vor einer evolutionären. Noch nie hat die Menschheit so zusammenarbeiten müssen, um ihren Zivilisationsstand zu wahren. Meistern wir den Klimawandel, lernen wir die Atmosphäre eines Planeten zu steuern. Schaffen wir das nicht, sind riesige zivilisatorische Rückschritte nicht auszuschließen. Zurzeit sieht es eher so aus, als würde unser Planet in den kommenden Jahrzehnten von Kriegen überzogen.
Friederike Otto hat recht, dass die Armen im Allgemeinen stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sind als die Reichen. So war es wohl bei Katastrophen seit Anbeginn der Menschheit. Der Ruf der Klimaforscherin nach Gerechtigkeit ist verständlich, aber leider, so fürchte ich, vergeblich. (Um Gerechtigkeit kämpfen müssen wir allerdings immer wieder.) Die Brille, die sie sich aufsetzt, um sich die Schrecken der Wirklichkeit zu erklären, filtert viel zu viel von dem heraus, was das Wesen des Menschen ausmacht. Als Physikerin ist sie wissenschaftlich, dort hängt sie noch dem Credo vergangener Zeiten an, das lautet: „Ich denke, also bin ich.“ Seit Längerem schon ist aber eine andere Devise an die Stelle von René Descartes’ Grundsatz getreten: „Ich glaube, also bin ich.“
Dass auch Friederike Otto von diesem "Virus" nicht frei ist, wird an einem Beispiel nur allzu deutlich. Auf Seite 289 schreibt sie: „Nehmen wir heute beispielsweise den Verzicht auf das Auto als unzumutbar wahr, ist das nicht unseren innersten Bedürfnissen, sondern der Autolobby geschuldet, die rücksichtslos gegen den vielstimmigen Protest von Menschen vorgegangen ist, die durchaus gern in lebenswerten Städten ohne Abgase und Lärm gewohnt hätten.“ Als Quelle gibt sie den Artikel The Hidden History of American Anti-Car Protests von Peter Norton aus dem Jahr 2019 an. Schaut man sich die Quelle an, erfährt man, dass der Kampf um ampelgeschützte Straßenkreuzungen und gefahrlosere Fahrradwege in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Niederlanden wesentlich erfolgreicher geführt wurde als in den USA. Auf dem ersten Bild in dem zitierten Artikel sieht man eine amerikanische Kreuzung, von einer Menschenkette von Müttern umsäumt, und die Bildunterschrift, dass nach diesem Protest dort Ampeln installiert worden seien. Der Umgang mit dieser Quelle ist irreführend. Darüber hinaus kann Friederike Otto mit ihrer Argumentation keineswegs ein persönliches Freiheitsgefühl erklären, das ich zuerst mit einer Vespa hatte und dann mit meinem ersten Auto in den späten 70er Jahren. Dass es Lobbyismus gibt, ist eine nicht zu leugnende Tatsache. Es gibt ihn auf allen Seiten. Auch die Arbeit von Greenpeace oder Oxfam, um nur zwei „gute“ Organisationen zu nennen, ist Lobbyismus. Und auch auf dieser Seite ist er nicht immer frei von Fehlern.
Für Leser, die dem (wieder) um sich greifenden Leitsatz „Ich glaube, also bin ich“ huldigen, wird das Buch „Klimaungerechtigkeit“ eine gewinnbringende Lektüre sein. Für alle anderen lohnt es sich nicht wegen der fortlaufenden Vermischung von Wissenschaft und persönlicher Weltanschauung.