Die Sklaverei ist nicht in der Welt, sie ist in uns

Die Sklaverei ist nicht in der Welt, sie ist in uns

„Welten der Sklaverei – Eine vergleichende Geschichte“ erschien bereits 2021 bei den Éditions du Seuil in Frankreich. Thema ist die Geschichte der Sklaverei vom Ende der Bronzezeit bis heute. Nun liegt endlich auch die deutsche Übersetzung vor
Paulin Ismard
Bildunterschrift
Paulin Ismard
Welten der Sklaverei

Welten der Sklaverei – Eine vergleichende Geschichte | Paulin Ismard (Hrsg.) | Jacoby & Stuart | 1200 Seiten | 78 EUR

Was ist Sklaverei und wie ist sie  entstanden? Für diese Fragen wird Welten der Sklaverei für lange Zeit zugleich Standardwerk und Ausgangspunkt in der Geschichtswissenschaft bleiben. Unter der Leitung von Paulin Ismard haben zahlreiche Historiker ihr Wissen unter drei großen Themenbögen zusammengetragen. Der erste Teil „Situationen“ beschreibt und bewertet konkrete Verhältnisse. Zu Beginn war Sklaverei fast immer mit Gefangennahmen in Kriegen verbunden. Ein Sklave konnte in der Vorstellung der Menschen nur ein Anderer sein. Im Laufe der Entwicklung wurde dieses Andere immer ausgreifender definiert, bis zuletzt einzelnen Menschen das Menschsein selbst abgesprochen wurde. Sklaven wurden zu Dingen. Es sollen Griechen von der Insel Chios gewesen sein, die als erste Menschen gegen Geld verkauft haben. Sie entwickelten einen Handel, Sklaven gegen Wein, der die Insel sehr reich werden ließ.

Von Beginn an versucht das Team um Paulin Ismard zu definieren, was Sklaverei überhaupt ist. Am Ende hunderter Seiten muss man sagen, dass dieser Zustand nicht genau definiert werden kann. Ein Handelswert bleibt am Ende das eindeutigste Kriterium, ob man ein Sklave ist oder nicht. Die Stufen hierarchischer Abhängigkeit und persönlicher Unfreiheit sind so zahlreich und ausgefeilt, dass der endgültige Übergang in Sklaverei oft nicht einfach zu bestimmen ist. Im antiken China und anderen Teilen Asiens soll es nicht einmal ein Wort für persönliche Freiheit gegeben haben. Dass ein Mensch frei sein kann, ist eine Idee der alten Griechen. Es war Solon, der im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Freiheit(en) der Bürger von Athen zum ersten Mal kodifizierte. Kein Bürger konnte demnach seine persönliche Freiheit verlieren. Wichtig war dies vor allem in der Frage, wie Schuldner behandelt werden sollten, die ihre Kredite nicht zurückzahlen konnten. Hier liegt nach der Gefangennahme der zweithäufigste Grund für sklavenähnliche Abhängigkeiten. Das Problem dabei: Die Schuldner gehörten zum eigenen Volk. Diejenigen Gesellschaften, die Sklaverei bei der Unpässlichkeit, seine Schulden zu begleichen, einführten, mussten das Andere neu definieren. Damit öffnete sich eine Tür, andere Menschen als Dinge und Handelsgüter zu behandeln. Überraschend ist, dass Sklaven, die wieder frei geworden waren, oft selbst zu Sklavenhaltern wurden.

Seit dem Ende des Neolithikums gibt es erwiesenermaßen Sklaverei. Sie dauert in verschiedenen Formen bis heute an. Wer Kapitel um Kapitel über Sklaverei durch alle Länder und Zeiten liest, bekommt dabei das Gefühl, dass diese untrennbar mit den Menschen verbunden ist. Das offizielle Verbot der Sklaverei, das durch die westliche Zivilisation weltweit durchgesetzt wurde, erscheint plötzlich als eine mögliche Ausnahme, eine Sonderentwicklung, die jederzeit wieder abbrechen kann. Eine Einsicht, die Angst macht. Dass zwischen einer digitalen Null und einer Eins kein Raum für Freiheit(en) ist, könnte die Sklaverei möglicherweise langfristig wieder erstarken lassen. Wie auch immer sie dann definiert ist. Aber das ist ein anderes Thema. Welten der Sklaverei lässt den Leser zurückblicken. Das Buch vermittelt, mit Wucht, einen Überblick, wie es ihn bisher nicht gegeben hat.

Wer sich durch 51 „Situationen“ durchgearbeitet hat, kann sich, punktuell oder in der Totalen, 26 Kapitel in „Vergleiche“, dem zweiten Teil des Buches vornehmen, die versuchen einzelne Begriffe wie Gefangene, Körper, Widerstand oder Sklavenhandel auf abstrakte wissenschaftliche Weise zu durchdringen. Das kann den einen oder anderen ermüden, ist aber innerhalb der Geschichtswissenschaft sicherlich notwendig.

Zuletzt folgen 17 Kapitel zu Übergangszeiten, „Transformationen“, dem dritten und letzten Teil des Buches. Stichworte wie Monotheismus, Antike und Hohes Mittelalter, Islam, die Kirchen und die atlantische Sklaverei, Plantagenzeitalter, Kapitalismus sowie zeitgenössische Sklaverei finden sich hier. Die schon im ersten Teil beschriebenen Situationen  und die Bedingungen ihrer Entstehung werden hier in einen größeren zeitlichen Rahmen eingeordnet.

Das Buch zu lesen ist ein Schock. Aber in großen Teilen ein befreiender Schock. Warum? Weil es dem Leser einen kristallklaren Blick auf das Thema vermittelt. Was man historisch in seinen feinsten Verästelungen analysiert hat, kann man in seiner Gegenwart besser erkennen. Sklaverei ist das letzte, was die Menschheit braucht. Dass sie gegen dieses Grundübel dauerhaft gefeit ist, hat sie noch nicht bewiesen.