Der erste Intellektuelle der Neuzeit

Der erste Intellektuelle der Neuzeit

Sandra Langereis‘ "Erasmus – Biografie eines Freigeists" ist ein faszinierendes Buch über den großen Humanisten und seine Zeit – und eine Medizin, die unsere heutige Welt genauso dringend benötigt wie die Welt um 1500
Sandra Langereis

Sandra Langereis Erasmus-Biografie – 2022 in den Niederlanden unter dem Titel "Erasmus Dwarsdenker" (Erasmus Querdenker) erschienen  –  ist nicht allein eine historische Arbeit. Ich denke, ich gehe nicht zu weit, sie auch ein erzählerisches Werk zu nennen. In den Niederlanden erhielt Langereis für das 700-Seiten starke Buch (ohne Anmerkungen) den Libris Geschiedenis Prijs. Bei dieser Autorin gilt nomen est omen (Langereis -> "Lange Reise"). Die Historikerin begibt sich auf eine lange Reise und der Leser darf sie dabei begleiten. Sie versinnbildlicht das gleich mit der Eröffnung ihres Buches. Dort fährt Erasmus als hölzerne Bugfigur eines Schiffes um die Welt, um am Ende über ein paar abenteuerliche Umwege in einem japanischen Museum zu landen. Schöner kann man die weltweit ausstrahlende Bedeutung von Erasmus von Rotterdam nicht auf den Punkt bringen.

Erasmus- Biografie eines Freigeists

Sandra Langereis | Erasmus – Biografie eines Freigeists | Propyläen Verlag | 976 Seiten | 59 EUR

Erasmus wird als unehelicher Sohn eines Priesters gegen 1468 in Rotterdam geboren. Unehelich, weil die Eltern seines Vaters ihm die Liebe seines Lebens verboten, ihm vormachten, diese sei gestorben, woraufhin er sich entschloss, Priester zu werden. Ob das wirklich wahr ist, weiß man nicht, denn lediglich Erasmus hat es so aufgeschrieben. Was bei weitem nicht heißt, dass es stimmt. Wahr allerdings ist seine uneheliche Geburt und der Priesterstand seines Vaters. Damit war Erasmus, er konnte da tun, was er wollte, nach der Lehre der Katholischen Kirche auf immer und ewig verdammt, nach seinem Tod in der Hölle zu leben.

Der Vater, der in seinen Wanderjahren in Italien als Buchkopist gearbeitet und dort die auflebende Renaissance kennen und schätzen gelernt hatte, sorgte dafür, dass Erasmus eine gute Bildung bekam. Er starb allerdings zu früh, um diese zu einem glücklichen Ende führen zu können. Die Lateinschulen befanden sich in dieser Zeit, was ihre Lehrmethoden anging, im Umbruch. Im Mittelalter wurde vor allem auswendig gelernt, auf das Verstehen kam es nicht so an, jetzt, in der beginnenden Neuzeit (die diesen Namen erst viel später bekam), gab es die ersten Lehrer, die ihre Lateinkenntnisse aus den wiederentdeckten antiken Quellen schöpften und darauf aus waren, dass die Schüler auch verstanden, was sie lernen mussten. Sie infizierten Erasmus mit diesem Virus, der ihn ein Leben lang nicht mehr losließ. Er selbst wurde zu einem der großen Latein- und Griechischlehrer seiner Zeit. Er fahndete nach alten Quellen und durchsuchte sie, um Übersetzungsfehler aus tausend und mehr Jahren in immer wieder neu abgeschriebenen Büchern auszumerzen. Er schrieb eine erneuerte lateinische Fassung des Neuen Testaments und legte damit unter anderem auch die Grundlagen für Martin Luthers deutsche Bibelübersetzung.

Sein Leben lang sprach er vor allem Latein. Als Theologie-Student an der Sorbonne in Paris lernte er kaum Französisch und während zweier langer Aufenthalte in England kein Englisch. Damit er für seine editorischen Arbeiten die lateinischen Quellen, soweit sie Übersetzungen aus dem Griechischen waren, wirklich korrekt verstehen konnte, lernte er Griechisch, für seine Bibelübertragung auch Hebräisch. Diese Dreisprachigkeit blieb sein Leben lang sein Bildungsideal. Aus seinem Wirken erklärt sich noch der starke Schwerpunkt, den die Deutschen im 19. Jahrhundert in der höheren Bildung auf das altsprachliche Gymnasium legten. Der heute leicht naiv wirkende Glaube, dass man durch Bildung eine bessere, eine gerechtere Welt schaffen könne, hat bei Erasmus und seinen humanistischen Zeitgenossen seine Wurzeln.

Der 1440 erfundene Buchdruck schuf ein Lesepublikum weit über die Klöster hinaus, die bis dahin die Stätte der Bücher schlechthin waren. Obwohl auch noch sehr teuer, machte dieser das Lesen von Büchern aus Papier gegenüber dem traditionellen Pergament (aus sehr dünner Tierhaut gefertigt) und in Auflage, das heißt nicht als Einzelausgabe, für größere Kreise erschwinglich. Das galt um so mehr für diejenigen, die sich auf Latein verständigen konnten. Dass die Gebildeten Latein sprachen, ermöglichte ihnen über alle Landes- und Sprachgrenzen, miteinander zu kommunizieren, so wie es die Welt heute mit Englisch tut. Erasmus gelang es im Laufe seines Lebens ein Netzwerk aufzubauen, das ganz Europa umspannte. Auch wurden seine Texte in allen europäischen Ländern gelesen. Erasmus war zu seiner Zeit der meistgelesene Autor und der Autor, der die meisten Texte schrieb. Schreiben und drucken lassen, das war das Leben des Erasmus von Rotterdam. Auf welche Art dies gelang und mit welchen Mühen das verbunden war, das bringt Sandra Langereis auf eine ebenso unterhaltsame wie spannende Art auf den Punkt.

Sie tut dies vor allem dadurch, dass sie alles, was in Erasmus Leben passiert, sehr genau in seiner Zeit verortet. Es gibt in den 700 Seiten lange Passagen, in denen sich der Leser fragen könnte, ob es der Autorin noch um Erasmus geht oder doch vor allem um das Leben in den Jahrzehnten vor und nach dem Jahr 1500. Man lernt den Tagesablauf eines Klosters bis ins kleinste Detail kennen, weil Erasmus nach dem Tode seines Vaters von den Nachlassverwaltern als Jugendlicher praktisch gezwungen wurde, in ein solches einzutreten – so konnten sich diese am Erbe selbst gütlich tun, denn ein Mönch durfte ja nichts besitzen. Wie sich der Buchdruck entwickelte und wie und unter welchen Bedingungen die Druckereien arbeiteten, versteht man durch dieses Buch. Erasmus Leben als Schreiber wurde stark davon geprägt, dass die Drucker ein Autorenhonorar nur äußerst ungern und entsprechend selten auszahlten und Autorenrechte vollständig unbekannt waren. Erasmus widmet daher jedes seiner Bücher in einem Vorwort einer hochgestellten Persönlichkeit, oft ein König oder ein einflussreicher Bischof, mit der Hoffnung von dieser dann zum Dank eine Unterstützung zu erhalten. Durch diese "Bettelei" sicherte er sich seinen Lebensunterhalt bis ins fünfte Lebensjahrzehnt. Erst als er sich im Alter dauerhaft mit dem Basler Drucker Froben zusammentat, verbesserte sich seine Einkommenslage deutlich und dauerhaft. Die Druckerei Froben wiederum profitierte von der Zusammenarbeit, weil Erasmus’ Bücher in ganz Europa gelesen wurden. Zuweilen waren die Auflagen, die auf Messen angeboten wurden, in wenigen Wochen ausverkauft.

Erasmus wurde in eine Zeit großer Veränderungen hineingeboren. Das Mittelalter war vorbei, die Menschen wandten sich nicht von Gott ab, aber sie wandten sich diesem auf eine ganz neue Art zu. Auf eine vernunftbasiertere, auf eine intellektuellere Art. Auf eine Art, die den Menschen in den Mittelpunkt stellte. Humanismus war das Zauberwort und schon die Zeitgenossen bezeichneten Erasmus als ihren größten Humanisten. Selber denken, keinerlei Dogmen blindlings glauben, seinen eigenen Verstand nutzen, die Welt verstehen wollen, unvoreingenommen, statt sie einfach nur zu glauben, das waren wichtige Grundlagen und das machte den Charakter von Erasmus aus. In seinem Denken war er unbestechlich. Und damit natürlich eine Gefahr für jede Art von Orthodoxie. Bei der Rücküberführung der überlieferten Texte in die Form, in der sie wahrscheinlich geschrieben worden waren, bewegte sich Erasmus auf dünnem Eis. Er selbst verstand sich vor allem als Philologe, aber das brachte große Gefahren mit sich, denn ein Ketzer wurde man schnell, und war man einmal als ein solcher gebrandmarkt, konnte man noch schneller auf dem Scheiterhaufen landen. Erasmus zog sich vor allem deshalb ab 1521 nach Basel zurück, damit dies nicht geschehen konnte.

Erasmus mochte sich als Philologe begreifen, seine Arbeit konnte und wurde theologisch angegriffen. Er fand zum Beispiel heraus, dass der Heilige Geist im Hebräischen weiblich, im Griechischen sächlich und im Lateinischen männlich war. Aus solchen Unterschieden konnten leicht erbitterte theologische Dispute erwachsen, die damals, wie auch heute noch in einigen Religionen,  blutig enden konnten. Er wies philologisch nach, dass die im Christentum so entscheidende Erbsünde eine spätere Erfindung war und keineswegs schon in der Urfassung der Bibel beschrieben wurde. Er soll sogar die Jungfräulichkeit Marias in Zweifel gezogen haben, für tiefgläubige Katholiken noch heute ein Unding, weil sie nicht verstehen wollen, dass es bei Marias Jungfräulichkeit nicht um die Realität geht, sondern dass Jungfräulichkeit ein wichtiges Attribut der vorchristlichen Großen Muttergöttin war (die griechische Göttin Athene war ebenfalls jungfräulich), die in der Person der Gottesmutter Maria auf eine gewisse Art schwere Zeiten des Patriarchats überleben konnte.

Erasmus Auffassung von Religion bedrohte auch die Fundamente des Königtums, denn sie stellte implizit das Gottesgnadentum infrage, welches die Grundlage jeglichen Herrschaftsanspruchs darstellte. In seinem Buch Das Lob der Narrheit, das 1509 zum ersten Mal erschien, kritisierte er gnadenlos alles und jeden. Es war eine Kritik an den Herrschaftsverhältnissen und verlogenen Lebensweisen von Kirche, Adel und Bürgertum. Dieses Buch ließ man Erasmus durchgehen, denn nicht er, sondern die Narrheit führte ja in diesem Buch das Wort. Und wer, so argumentierte Erasmus, mochte diese schon ernst nehmen? Nicht vergessen darf man, dass man das Lob der Narrheit in den ersten Jahren innerhalb eines kleinen gebildeten Kreises las, so dass die Betroffenen über sich selbst lachen konnten, ohne fürchten zu müssen, dass die Kritik allzu große Kreise zog. Das aber änderte sich im Laufe von Erasmus Leben. Auch weil das auf Latein geschriebene Buch nach und nach in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt wurde. Es gilt als das einzige Buch des Erasmus, das noch heute neu verlegt und gelesen wird.

Der Buchdruck, die Entdeckung Amerikas, der beginnende, unaufhaltsame Aufstieg Europas, das alles fällt in die Lebenszeit des Erasmus. Fünf Jahrhunderte sollte diese neue Zeit andauern, die Epoche, die man heute Moderne nennt, war ihr letzter Abschnitt. Ermöglicht wurde der Aufstieg Europas durch einen neuen, weit aufgefassten Rationalismus und der dadurch mit ausgelösten technischen Entwicklung. Vor allem hierin unterschieden sich die europäischen Kulturen von den anderen ihrer Zeit. In den ersten Lebensjahrzehnten wurde Erasmus gefeiert. Erst als Luther mit seiner Radikalität die Grundlagen der Katholischen Kirche in Frage stellte und die deutschen Fürsten dies machtpolitisch absichern konnten, wendete sich das Blatt. Erasmus war kein Revolutionär, sondern verstand sich als Reformer. Wurde er vor dem Wirken Luther von seinen Fans mitunter als der „Gott aus Rotterdam“ bezeichnet, so verdammten ihn bald sowohl die Protestanten als auch die Katholiken. Nach seinem Tod wurden zahlreiche Schriften des Humanisten von der Katholischen Kirche verboten oder nur stark zensiert zum Lesen und Lernen empfohlen. Dieses Verbot bestand bis 1966. Es wurde damals nicht einmal aufgehoben, sondern nur suspendiert.

Querdenker, Freidenker. Jeder, der Lust und Freude daran hat, die Welt unvoreingenommen zu betrachten und zu denken, findet in der Biografie von Sandra Langereis nicht nur eine wunderbare Lektüre, sondern auch eine Heimat, einen Zufluchtsort und einen Ansporn sich durch nichts und wieder nichts davon abhalten zu lassen, selbständig zu denken. Es ist eine Medizin, die unsere heutige Welt wieder genauso dringend benötigt wie die Welt um 1500. Wenn nicht noch mehr.