Als die Freiheit möglich schien

S. FischerLyndal Roper | Für die Freiheit: Der Bauernkrieg 1525 | S. Fischer | 676 Seiten | 36 EUR
Die Schnecken waren schuld. Als die Landgräfin von Lupfen im badischen Stühlingen mitten in der Erntezeit ihren Leibeigenen befahl, die Gehäuse der schleimigen Tiere einzusammeln, verweigerten sich die Bauern. Es gab wichtigeres zu tun als Schneckenhäuser zusammenzutragen, nur, damit die Hofdamen ihr Garn darauf aufwickeln konnten. Im Juni 1524, am Tag der Sommersonnenwende, erhoben sich die Bauern gegen ihre Herrschaft. Gleichgesinnte aus den umliegenden Gemeinden schlossen sich bald an. Im Herbst war daraus ein Haufen mit einer eigener Fahne geworden, eine lose organisierte militärische Einheit von Bauern, Handwerkern und anderen Aufständischen. Der Bauernkrieg hatte begonnen. Fast ein ganzes Jahr lang – Herbst, Winter, Frühling und Sommer – sollte damals der Traum von einer brüderlichen und gerechteren Welt das Geschehen in der Mitte Europas bestimmen.
Zum Jubiläum, 500 Jahre nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands, hat die in Oxford lehrende australische Historikerin Lyndal Roper nun ein detailreiches, ganz der angelsächsischen Wissensvermittlungs-Tradition verpflichtetes Werk „Für die Freiheit“ veröffentlicht, in dem sie mit großer Überzeugungskraft die Welt nachzeichnet, in der die Bauern gelebt und sich bewegt haben. Den überlieferten schriftlichen Quellen traut Roper bei diesem Vorhaben nur bedingt. Die bäuerliche Kultur der Zeit ist hauptsächlich von mündlicher Überlieferung geprägt, viele Bauern aber sind Analphabeten. Was schriftlich überliefert wurde, ist in aller Regel aus der Perspektive des Adels, des Klerus oder im besten Fall von städtisch gebildeten Reformationsanhängern formuliert. Um dieser „Quellenfalle“ zu entgehen hat sich Roper zur Aufgabe gemacht, vor allem von den Taten der Aufständischen zu erzählen. Kenntnis- und detailreich rekonstruiert sie die Erfahrungen, die die Aufständischen auf ihrem Weg gemacht haben. Ihre Methode geht so weit, dass sie zu Fuß und mit dem Fahrrad Routen der verschiedenen Haufen nachvollzieht, um sowohl das Tempo, die Landschaft, das Wetter, die Wirkung der Jahreszeiten zu begreifen.
Der Aufstand, der am Ende 70.000 bis 100.000 Bauern das Leben kosten sollte, lasse sich nicht allein aus den ökonomischen Bedingungen der Zeit erklären, meint Roper. Denn der Markt hatte sich in den Jahren zuvor auch für Bauern geöffnet: „Es war ein Aufstand gegen das gesamte Herrschaftssystem, das ‚gegen Christus‘ gerichtet war, gegen Frondienste, Leibeigenschaft, Zwangsabgaben.“ Für die Aufständischen war die Reformation kein Deckmantel, sie wirkte unmittelbar, sozial radikal und zielte darauf, die Gesellschaft zu verändern.
1520 erscheint Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen. Die deutsche Übersetzung des Textes breitet sich damals extrem schnell aus – vor allem wegen einer neuen, disruptiven Technologie: bewegliche Lettern in der Druckproduktion. Allein bis 1525 sind mindestens 19 weitere Auflagen und Drucke der explosiven Schrift bekannt. Die theologische Grundaussage, dass der Einzelne nur vor Gott Rechenschaft schuldig ist, manifestiert sich für die Bauern in der Forderung, auch für Laien Messwein bei der Kommunion auszuschenken. Schließlich hatte, ganz biblisch beglaubigt, Christus die Freiheit des Menschen mit seinem Blut erkauft.
Auch wenn Luther sich schnell von den Bauern und ihren Zielen distanziert, entfaltet die Idee der Gleichheit und Brüderlichkeit eine ungeheure Wirkungsmacht in der Welt der Aufständischen. Die Freiheitsidee schwappt wie ein Tsunami aus einer abstrakten theologischen Welt hinüber in die Welt der konkreten Erfahrung. Und mit ihr die befreiende Erkenntnis, dass die Macht von Adel und Klerus nicht gottgegeben ist.
Gerüstet mit diesem geistigen Aufputschmittel erheben sich bald weitere Bauernhaufen und formulieren eine große Zahl von individuellen Beschwerden und Forderungen an ihre lokalen Herrschaften. Die Memminger Zwölf Artikel vom März 1525 können als ein Substrat dessen gelesen werden, was die Bauern umtreibt. Der erste Artikel zum Beispiel fordert, „dass die gesamte Gemeinde selbst ihren Pfarrer wählen und bestimmen darf“. Für die Reformation ein wichtiger Schlüssel zu den Kanzeln des Landes. Und drittens, so steht geschrieben, „ist es bisher Brauch gewesen, dass die Obrigkeit uns als ihre Leibeigenen angesehen hat, was zum Erbarmen ist angesichts der Tatsache, dass uns Christus mit dem Vergießen all seines wertvollen Bluts erlöst und freigekauft hat, und zwar den Hirten gleichermaßen wie den Höchsten, niemand ausgenommen. Deshalb ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und frei sein wollen.“
Dieser Text formuliert in all seinen zwölf Artikeln eine für seine Zeit revolutionäre gesellschaftliche Vision, gespeist aus radikalen reformatorischen Ideen. Er wird zum Manifest einer Massenbewegung, die sich auf die Anerkennung des Inhalts einigt, ohne dass alle Beteiligten den ihn unbedingt kennen. Die Zwölf Artikel verbreiten sich auch aufgrund der neuen Drucktechnologie in kürzester Zeit. Auf sie kann verwiesen werden, in ihnen kristallisieren sich viele Haltungen und Überzeugungen der Aufständischen.
Drei Monate lang kontrollieren die Bauern im Frühjahr 1525 ein Gebiet, das große Teile des heutigen Deutschlands umfasst. Sie verlieren, weil ihnen die militärische Übung und Organisationsstruktur fehlt und sie ihren berittenen Gegnern kampf- und waffentechnisch unterlegen sind. Die Vision einer neuen Gesellschaft stirbt auf den Schlachtfeldern von Wurzach, Scherweiler, Leipheim, Böblingen, Königshofen, Pfeddersheim, Frankenhausen und an den vielen anderen Schauplätzen des Aufstands. Die Leibeigenschaft bleibt erhalten und auch den Zehnt müssen die Untertanen weiter bezahlen.
Auf ihrer Zeitreise zu den Bauern der Jahre 1524/25 zeigt Lyndal Roper, wie sich die Vision der Aufständischen aus einer Theologie der Schöpfung entwickelt hat, in der Beziehungen zwischen Menschen auf Redlichkeit beruhten, nicht auf Gier und Geiz. „Die Menschen waren wütend darüber, dass die Grundherren das Eigentum an den natürlichen Ressourcen, dem Wasser, dem Gemeindeland, den Wäldern und Forsten für sich beanspruchten, obwohl diese zu Gottes Schöpfung und damit allen Menschen gehörten“, schreibt sie. Und berührt damit Fragen, die heute genauso aktuell sind wie damals: Wem gehören die natürlichen Ressourcen? Wer kontrolliert die Energiequellen? Wie gehen wir nachhaltig mit der begrenzten Ressource Boden um?