Wonach ich nicht suche, finde ich

Wonach ich nicht suche, finde ich

Mit seinen drei Zyklen in „Die Erde hebt uns auf“ hat Tom Schulz einen so schön-traurigen wie formstrengen, identitätspolitischen und angriffslustigen, herausragenden Gedichtband vorgelegt
Tom Schulz
Bildunterschrift
Tom Schulz
Die Erde hebt uns auf

Tom Schulz | Die Erde hebt uns auf | Poetenladen |  72 Seiten | 19.80 EUR

„Die Erde hebt uns auf. Wo wir liegen/ blieben, wo wir verlassen waren. Da ist die Stelle/ zu schürfen, und der Faden des Glücks hält.“ Zu dieser Einsicht kommt Tom Schulz in seinem beim „Poetenladen“ in Leipzig erschienenen Gedichtband Die Erde hebt uns auf. Wo aber das Glücksempfinden aufhört, drängt sich wieder das Bewusstsein über den kritischen Zustand unseres Habitats in den Vordergrund, und das Gedicht wird Kritik an zerstörerischem Kapitalismus, wird politisch.

Einer der Schlüsselbegriffe des Philosophen und Dekonstruktivisten Jacques Derrida lautet „destinerrance“. In diesem französischen Kofferwort aus „destin“, „destination“ und „errance“ – also „Schicksal“, „Ziel“ und „Irrfahrt“ oder „Wanderschaft“ – macht sich eine widersprüchliche raumzeitliche Figur breit, die am ehesten mit „Irrgeschick“ übersetzbar ist. Wer Literatur schreibt, begibt sich auf gegenstandslose Suche und ist auf etwas nicht näher Definiertes aus, den Zufall.

Auch für den Dichter Tom Schulz ist das Irrgeschick ein Zentralmotiv. „Wonach ich nicht suche, finde ich“, heißt es in seinem neuen Gedichtband „Die Erde hebt uns auf“: „soweit ich irre, gibt es den/ Weg, mich findet wieder Hang, Wein und Senke“.
Das erwanderte Gelände liegt im ersten Zyklus des Buches an der Adria, italienischerseits. Die Gärten mit ihren Pflanzen- und Tierwelten, durch die gestromert wird, tragen noch paradiesische Züge. Gefunden wird schließlich Sprache selbst: „Poesien, köstliche gärende Äpfel“. Denn jeder Körper ist Heimstätte von Text:

Dann klettern
wir auf die Leiter, über uns Blätter und Birnen (nicht
Sterne), geteilt mit den Wespen. In jedem Körper
ein Text, der sagt: Lass mich unvollendet, nach allen
Seiten offen —. Wir lesen im Buch der Nacht mit den
Händen: die Ameisenschrift, deutlich zu entziffern.

In dem Unvollendeten und dem nach allen Seiten Offenen Perfektion sehen, das lehrt uns Tom Schulz, ohne dabei die Gefahr zu ignorieren, in die der Mensch die Schöpfung gebracht hat. Es gibt Gott, aber er ist nahezu bedeutungslos geworden, reduziert auf die Größe einer Erbse; der Auferstandene, der gerade noch unter Saisonarbeitern hockte, ist verloren gegangen; und die Gestalt der heiligen Maria ist genauso aus Kunststoff gefertigt wie die Strandstühle an der Adria oder ein Rohr, auf das ein Specht mit seinem Schnabel pocht.

Und so verschmelzen bei Tom Schulz Naturbeschreibung als Einswerdung mit der Landschaft, Kritik an kapitalistischer Umweltzerstörung und die apokalyptische Vision von einem baldigen, „die reizbaren Narrative“ zerreißenden Knall, dem wir in Karnevalslaune entgegentaumeln.

Von der Entwicklung der Agrikultur, als die landwirtschaftliche Arbeit die Vermählung des Himmelgotts mit der Erdgöttin symbolisierte, bis zur besinnungslosen Ausbeutung der Natur durch Konzerne, die an die Stelle der Götter getreten sind – das ist die bittere Evolution, die uns Tom Schulz vor Augen führt:

Die Erde wird Eigentümer unserer Unternehmen.
Was wir aus ihr holen, was wir anbauen, opfern
wir nicht länger den Göttern. Konzerne sind keine
Sterne, Gewinnzonen verrinnen.
[…]
Wer tauscht die Anteile ein, wer pumpt
das Abgeschöpfte zurück? ... Schon ziehen
Geckos ein in den Saal mit den Meisterwerken.
Eine Schaufel Sand, um uns zu krönen.
Und die Tiere erreichen die Supermarkt-Arche.

Auch die Porträtgedichte des zweiten Zyklus, in denen Tom Schulz die Porträtierten an konkreten Orten platziert, werden von Gesellschaftskritik begleitet. Im Gedicht über Hans Arp taucht sie in dem Hinweis auf „wohlfeile Wildleder-Handtaschen“ auf.

Interessant werden die von einer ausgreifenden Lektürebiografie zeugenden Porträtgedichte aber vor allem dann, wenn sie eine identitätspolitische Verbindung zum Autor Tom Schulz ermöglichen. Die Gedichte über „Bobrowski in Friedrichshagen“, über den Volksarmisten in Tautenheim, über „Johnson bei Travemünde“ oder über „Hilbig in Edenkoben“ erinnern daran, dass auch Tom Schulz eine Ostbiografie hat. Er wurde 1970 im sächsischen Großröhrsdorf geboren und wuchs in Ostberlin auf. Es ist in diesen Texten denn auch die Rede von einem Osten als einem „Anflug in Asche, geschehen, versehen/ begangen, vergessen“; von „Altbeton-Feldern“ und „Asbestose“; von einem „Heimkind/ unter Denunzianten“ und „Grenzzäunen“; schließlich von einem „Arbeiter/ mit zwei linken Händen“.

Der dritte und letzte Zyklus des Buches besticht dann aufgrund seines humoristischen Charakters. Es ist eine Persiflage auf die Gegenwart. Der antik-römische Dichter Ovid, dessen Metamorphosen bis heute gelesen werden, wird – deutlich weniger mythisch überhöht als in Christoph Ransmayr und seiner Geistererzählung Die letzte Welt – unter die Modernen geschickt. Als Medienkritiker liest er in der Vogue, der Zeit oder der Kronen Zeitung. In Österreich ruft er „dem untoten Jörg Haider“ hinterher, er solle sich schleichen. Als Liebeslyriker übt er sich in Kritik an progressiver Genderpolitik. Er reflektiert die Daseinsweise der Poesie als Ladenhüter und im Kontext der Sozialen Medien. Seine polemischen Anfälle reißen bis zuletzt nicht ab.
Mit der Formstrenge, Schönheit und Melancholie des ersten Zyklus, der identitätspolitischen Pointe des zweiten und der Angriffslust des dritten hat Tom Schulz einen herausragenden Gedichtband veröffentlicht.

Rezensiertes Buch