Wenn die Kindheit ein Grab ist

Editorial PulpoJhak Valcourt | When Rivers Fall Silent | Editorial Pulpo | 53 Seiten | 18 USD
Du kennst den süßen Zauber der Erinnerung;
ein Fluss stößt dich von den Ufern weg,
treibt dich in die Landschaft der Vorfahren.
Hör auf diese Stimmen: sie singen von Liebesschmerz
und Melancholie. Hör auf das Tamtam; es keucht
wie die Brust eines schwarzen Mädchens.
In den letzten Jahren hat Haiti alle möglichen düsteren und traumatischen Ereignisse durchlebt, die seine Institutionen bis auf die Grundfesten ausgehöhlt haben. Seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 hat sich die soziopolitische Krise in diesem Land ins schier Unermessliche gesteigert. Die Zahl der Entführungen, Vergewaltigungen und Todesfälle unter der Zivilbevölkerung, die nicht nur dem Joch der bewaffneten Banden, sondern auch der Gleichgültigkeit und dem Nepotismus von Politik und Wirtschaft der Halbinsel ausgeliefert sind, sind kaum mehr messbar. Dieser Strudel von Gewalt und Ungewissheit hat Tausende und Abertausende haitianischer Staatsangehöriger veranlasst, in den Nachbarländern Asyl zu suchen, um die Scherben ihres zerrütteten Lebens irgendwie kitten.
Angesichts dieser Situation haben einige haitianische Persönlichkeiten, einheimische oder in der Diaspora lebende, mit unterschiedlichem Erfolg mit diversen Formen der Kunst reagiert, um dieser so katastrophalen wie komplexen Realität etwas zu entgegnen. Einer dieser Künstler ist Jhak Valcourt, der von der Dominikanischen Republik aus nicht nur die Verwüstungen anprangert, die an den Grundfesten der ersten schwarzen Nation Amerikas nagen, sondern auch die moralische und spirituelle Verfassung der migrantischen Identität unter die Lupe nimmt.
In diesem Sinne dient das vorliegende Buch Wenn die Flüsse schweigen, das aus nur 21 Gedichten besteht, als Wegweiser des poetischen Ichs, das seine Kindheit auf der Suche nach der gestohlenen und verlorenen Heimat beschwört. Dabei bedient sich Valcourt einer Phantasie, die reich an haitianischen Landschaften und kulturellen Elementen ist. Diese Pilgerreise soll Wärme und Ruhe heraufbeschwören und damit der mythischen "Straße von Guinea" ähneln, die sich der haitianische Dichter Jacques Roumain einst vorstellte, wo der Wind mit seinem "langen Haar der ewigen Nacht" dahin gleitet und die Bäche "wie Rosenkränze aus Knochen zittern". Aber Valcourt blickt durch die Hintertür in das Zimmer der Kindheit und entdeckt, dass es nichts weiter ist als die Vorhölle:
...wenn die kindheit ein grab
ist, in dem nur schwarze rosen wachsen,
dass wir hier,
im untergrund des elends
allein sind in der großen nacht?
Der Dichter beraubt die Kindheit schnell ihrer Eigenschaft als Zufluchtsort und stellt das Feuer, das Elend und den Tod in den Vordergrund. Alle Spuren von Unschuld und Trägheit werden mit einer bußfertigen Sichel weggeschliffen, und die elegische Stimmung der Gedichtsammlung wird immer düsterer und trostloser. Valcourt bricht mit der Tradition der französischen Romantik im Stile Victor Hugos oder Arthur Rimbauds und seiner Annäherung an die verlorene Kindheit im Kontext sozialer Ungleichheiten. Es geht vor allem um die Identitätskrise des poetischen Ichs, das in der Schmiede der Immigration zersplittert und, wie der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han sagen würde, seiner "narrativen Anker" beraubt wurde:
Aber nach so viel Verlassen
Nach so viel Verlassenheit in jeder Ecke
In jedem Winkel der Reise
Wie ist es möglich, dass da noch etwas von dir übrig ist?
Dieses Überbleibsel,
immer bereit, wieder zu gehen
weil du nicht einmal dir selbst gehörst.
Zusammenfassend stellt Valcourt die existenzialistische Frage nach dem Migranten und seiner Verortung in einer Gesellschaft, die grundsätzlich zur Ausgrenzung neigt. Ein entpersönlichter Migrant, dem die Fahne von der Brust gerissen wurde und der nicht so recht in die Welt passt. Der Dichter wendet sich den verblassten und traumatischen Vignetten seiner Kindheit zu, um nach Antworten zu suchen und zu versuchen, die Wärme seiner Wurzeln zu spüren. Vor allem aber konzentriert sich Valcourt auf den Schmerz, auf die Schläge, ein "aus der Zeit gefallener Mann" in einem fremden und feindlichen Land zu sein; das permanente Scheitern einer Heimat, die schlichtweg zerbröselt (die Metapher stammt übrigens von Jacques Viau Renaud) "wie ein vereinzelter Grashalm in der Einöde".
Es sei anzumerken, dass Jhak Valcourt zu einer sich gerade etablierenden Gruppierung gehört, die vor allem in Spanien im Trend ist. Es geht darum, den unterdrückten und unsichtbaren Migranten ins Rampenlicht zu rücken. Der junge Nicaraguaner William González Guevara zum Beispiel nähert sich in Werken wie Los nadies (2022) oder Inmigrantes de segunda (2023) dem Thema aus der Perspektive eines poetischen Ichs, das für die Ausbeutung einer Mutterfigur sensibilisiert ist, die als Ausländerin und verarmte Frau tagelang anstrengende Arbeit leisten muss, um die Grundbedürfnisse des Haushalts zu decken. Die spanische Dichterin Paloma Chen hingegen setzt sich in Invocación a las mayorías silenciosas (2022) mit den kulturellen Konflikten, der Ablehnung und den Beleidigungen auseinander, die ihre chinesischen Eltern erfahren und verschwiegen haben, und hinterfragt Begriffe wie Unterwerfung und Würde.
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Aber Valcourt beschränkt sich nicht nur darauf, um lakonische oder umständliche Bilder dieser Realität zu ringen, sondern versucht auch, ihr subtiles Narrativ durch die Architektur seines Stils einzufangen, wie die Abneigung gegen Großbuchstaben, die fragmentierten Verse, die klaustrophobische Umgebung, die das poetische Ich umgibt, und seine Spuren der Angst. Der Autor sammelt auch Geschichten von unterwegs, über die versucht wird , Zeugnisse zu retten, die durch Eile, Angst und Schande begraben wurden. Jenseits der dunklen Schmiede und ihrer Grenzziehungen versucht Valcourt, die Existenz seiner Protagonisten mit lyrischeren und edleren Lösungen zu rechtfertigen:
sie haben luis an der grenze zurückgelassen
wo er ein baum werden wird
um zukünftigen Migranten Schatten zu spenden.
Letztendlich zielt Wenn die Flüsse schweigen darauf ab, die Psyche der hilflosen und vergessenen migrantischen Lebenslinien zu ergründen. Ein Migrant, der neben Kreuzen und müden Träumen auch eine Geschichte mit sich trägt. Es scheint, als läge unter dem Rauschen dieser Flüsse aus glücklichen oder tragischen Erinnerungen, dieses verlorenen Kindes, ein Mann, den der Autor einlädt, zu entdecken und kennenzulernen. Ein Mann, den das Schicksal von Haiti zutiefst schmerzt. Und schließlich stößt Jhak Valcourt mit diesem Gedichtband in ein Genre vor, das einige bereits als dokumentarische oder neue soziale Poesie bezeichnet haben; ein Genre, das unter anderem versucht, ein Sprachrohr für diejenigen zu sein, die bislang unter den Leichentüchern aus Hunger und Verwüstung, Krieg und Vergessenheit verhüllt geblieben sind.