Berührendes Heimweh
PoetenladenJörg Schieke | Silverman schickt mich | Poetenladen | 88 Seiten | 19,80 EUR
Silverman ist ein bis heute geläufiger Name, sein Ursprung liegt im Jiddischen. Der Autor Jörg Schieke verrät in seinem neuen Gedichtband nicht viel über den titelgebenden Protagonisten. Wir erfahren von einem „Silverman junior“ genannten Sohn, von Silvermans Kulturaffinität und dass er ein guter Chef sei, der sich um die eigenen Termine kümmere.
Der Erzähler – Silvermans Arbeitnehmer und Entsandter, an dem er sogar Prozente hält – ist der Mann fürs Grobe, der Organisator. Er, der sich als „das große Dazwischen“ bezeichnet, macht die Pressearbeit, das Booking und die Mitschnitte, kümmert sich um die Tierfütterung und übernimmt gelegentlich den Wachdienst. Wir können nur erraten, welche Arbeit das sein könnte. Deutlich zu vernehmen sind immerhin tierethische und gesellschaftskritische Zwischentöne. Angeprangert wird die Gewalt gegen Tiere und Sachen oder ein sogenanntes „Pauschalzeitalter“. Letzteres macht der Erzähler an Silvermans Kulturprogramm fest, das den Besuch von „Europas/ Tierparks, Thailands Küche, Brechts Brahms“ umfasst.
Die Suche nach weiteren Merkmalen von Silverman ist vergeblich, selbst dort, wo das namensgebende Silbermetall eine Rolle spielt – wie im Gedicht „Silber im Februar“, das eine überraschende Erklärung von Einsamkeit anbietet:
Das Wort
Einsamkeit meint das Verhältnis der Leute
zum obligatorischen, zum berühmt-berüchtigten
Schwinden der Zeit.
Jörg Schieke wurde 1965 in Rostock geboren und wuchs in Stralsund auf, er absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, während dessen er auch Redakteur der Literaturzeitschrift EDIT war, und ist seit zwanzig Jahren als Radiojournalist vor allem für den MDR tätig. „Silverman schickt mich“ ist sein vierter Gedichtband.
Das gekonnte Spiel mit der Aussparung und neugierig machenden Rätseln ist in Jörg Schiekes Gedichtband aus drei Zyklen ein probates Mittel. Der Reiz seiner Gedichte besteht darin, sie nicht bis ins Letzte auflösen zu können. Wofür steht in dem Gedicht „Flügeldings“ der Treppenhausfalter, ein ehemaliger Zahlmeister und Stahlarbeiter? Ist er ein Symbol der Erinnerung an die Zeit beim Militär und an eine spezifische Arbeitsbiografie in der DDR?
Diese Adresse ist inaktiv, destruktiv, und sie gehört
dir. Der Treppenhausfalter (Ex-Zahlmeister) kratzt
an der Tür. Er wohnt bei den Schals, in der Fundsachen-
kiste, und wenn sich da drin was bewegt, flattert er auf.Deine Adresse ist inaktiv, depressiv. Der Treppen-
hausfalter (Ex-Stahlarbeiter) kratzt an der Tür. Er
wohnt bei den Schals, in der Fundsachenkiste, und
wenn sich da drin was bewegt, flieht er zu dir.
In der Fundsachenkiste findet Jörg Schieke auch Sprache. An einer Stelle wird jemand „zum Kulpen“ nach Hause geschickt – „kulpen“, das ist eine plattdeutsche Variante für „schlafen“. Und so lässt sich das räumliche und zeitliche Setting der Gedichte durchaus rekonstruieren. Wolgast, Laage, Binz, Ostsee – wir haben es hier mit der norddeutschen Gegend zu tun. Und bestimmte Dinge lassen auf die Zeit schließen: Der vorhandene Walkman, zum Beispiel, kam 1979 auf den Markt und wurde in den 80er Jahren zum Statussymbol Jugendlicher und dem Sinnbild ihrer neuen Lebensformen. Typische Ost-Wörter wie „Plast“ und „Plaste“, die seit der Wiedervereinigung im Verschwinden begriffen sind, machen dann deutlich, dass diese Raumzeit nicht zuletzt politisch zu nehmen ist.
Gedichte des ersten Zyklus dienen als Vorspiel zum zweiten Zyklus. Dort hat man die Berufswahl noch nicht getroffen, wird aber schon umworben. In Rostock wird eine Lehrerin gesucht, in Laage ein Schlosser, in Wolgast ist es der Bund, der Stellen vergibt. „Viele Berufe verglühen in der orts-/ unabhängigen, ortsüblichen Hitze“, heißt es einmal.
Im zweiten Zyklus ist die Berufsfrage dann gelöst. Man findet sich als „einziger Abiturient/ unter lauter Antichristen“ wieder:
Stationiert
im elektro-agrarischen Thüringer Wald, hinterm
Zweimeterzaun bei den Sprutzen.
Sprutzen hießen bei der auch in der Kameradschaft stark hierarchisierten NVA die Soldaten in der Grundausbildung.
Es geht hier autobiografisch zu um den Sprutzen „Schiecki“ und wie längerdienende Kameraden, sogenannte „Lädies“ – eine Worterfindung des Autors – mit ihm umgehen. Die Sprutzen, scheint Jörg Schieke sagen zu wollen, wurden von den Lädies, darin das englische „Ladies“ mitschwingt, gemäß der Redewendung „Mädchen für alles“ behandelt.
Den ganzen
Tag flogen die Essensreste, schwebten wie Flusen
durchs Weltall. Woraufhin wiederum –
Schiecki, bind endlich den Apfelgriebsch
fest. Schlitze im Silberpapier, Löcher zum Atmenfür meine lieben Vitamine.
Womit der Bogen geschlagen ist von Silverman als gutem Chef zu den Lädies, in deren Dienst der Sprutze einiges Unerquickliches ertragen muss. Dabei ist der Arbeitsdiskurs, der sich wie ein roter Faden durch den Gedichtband zieht, in berührendem Heimweh eingelassen, wovon solche Wörter wie „Heimgang“, „Nieheimgepäck“ oder „Nieheimbriefe“ zeugen wie auch der Wunsch, „von allem, was an zuhause erinnert“, geheilt und am liebsten befreit zu werden.
Eine systematische poetische Auseinandersetzung mit der NVA ist überfällig gewesen. Jörg Schieke hat sie glänzend gemeistert, weil er poetologisch zeigt, dass er weiß, was er tut. Wenn er von einer „Skala der Dunkelheiten“ schreibt, dann beweist er ein Gespür für den eigenen poetischen Stil. Wenn er im letzten Gedicht des Bandes die Folgen eines Buchstabendrehers reflektiert, dann blättert man zurück und erfreut sich noch einmal an dem sprachwitzigen Reim aus „Kontinente“ und „Harry Bolafente“ (sic!).