Das Heute im Gestern

Navigation

Das Heute im Gestern

„Das Flüstern der Felder“ transformiert den Nobelpreis-Roman „Die Bauern“ von Władysław Reymont zu einem künstlerisch aufregenden, aber inhaltlich enttäuschenden Selbstermächtigungsdrama einer jungen Bäuerin des 19. Jahrhunderts
The Peasants
Chlopi, The Peasants, Das Flüstern der Felder

Das Flüstern der Felder | Dorota Kobiela & Hugh Welchman | 115 Minuten | Polen 2023

„Der Schnee fiel wie durch ein dichtes Sieb gerade zur Erde nieder, er fiel gleichmäßig, eintönig und still, breitete sich über die Dächer, Bäume und Hecken aus, wie ein gebleichtes Gewebe und bedeckte die ganze Erde mit seinen weichen Daunen.“
–  W.G. Reymont, Die polnischen Bauern, Band 1 (Herbst) in der Übersetzung von Jean Paul d’Arderschah

Władysław Reymonts 1902–1908 als vielteiliger Fortsetzungsroman erschienenes Epos ist einer der ganz großen Romane des frühen 20. Jahrhunderts, der bei der Nobelpreisvergabe 1924 zurecht den ebenfalls nominierten Thomas Mann ausstach. Liest man diesen über 1000 Seiten langen und in vier Jahreszeiten segmentierten und heute so gut wie vergessenen Roman wieder, überrascht nicht nur seine sogartige  und überragende sprachliche Qualität, sondern neben einer kristallinen ethnografischen Bestandsaufnahme bäuerlichen Lebens vor allem die fast schon erschütternde Aktualität von Reymont.

Denn Reymont, der sich sowohl der Stilmittel des Realismus als auch des literarischen Naturalismus bedient, geht mit seinem Porträt bäuerlichen Lebens in einem damals noch gar nicht existierenden Staatsgebilde Polens des ausgehenden 19. Jahrhunderts erzählerisch sehr ungewöhnliche Wege. Er erzählt zum einen die als dramatischer Köder funktionierte Vater-Sohn-Geschichte zwischen dem reichsten Bauern vor Ort, Matheus Boryna und die seines Sohnes Antek, die zu einem dysfunktionalen Albtraum wird, weil beide sich in die gleiche Frau verlieben, in die junge, selbstbewusste Jagna Paczesiówna, die sich zwar den Regeln der Gemeinschaft beugt und den viel älteren Patriarchen heiratet, aber nicht aufhört, ihren Leidenschaften zu folgen. Diese Leidenschaften einer modernen Frau bestehen allerdings nicht nur in der Sehnsucht nach Antek. Wie bei Theodor Fontane und seiner Effi Briest hütet sich auch Reymont vor einer moralischen Verurteilung seiner Helden, sondern zeigt sie als Teil eines überkommenen Systems. Ihr Handeln ist vor allem systemimmanent und die Kleingemeinschaft vermeintlich stärkend. Dennoch spüren alle Beteiligten, dass sich die Zeiten ändern und nicht nur Jagna ist von einer pulsierenden, unbestimmten Suche nach der eigenen Sehnsucht und einer neuen Identität durchdrungen.  Eine  Suche, in der die körperliche Lust und ihre Bedeutung äußerst modern thematisiert werden.

Neben diesem dramatischen Köder erzählt Reymont aber vor allem die Geschichte eines Dorfes kurz nach der Aufhebung der Leibeigenschaft,  das nicht mehr wie früher isoliert in der Welt steht. Er erzählt von Hierarchien zwischen Reich und Arm, von bösartigen, leidenschaftlichen und zärtlichen menschlichen Beziehungen, von unvorstellbaren Hungersnöten, vom amoralischen Adel und von gnadenlosen Investoren aus dem deutschen Ausland, die mit ihrem Aufkauf von Land die Lebensgrundlage des Dorfes zu entziehen drohen.

Diese aus heutiger Sicht neoliberalen Verhältnisse lassen sich derartig leicht auf heutige Verhältnisse im globalen Süden übertragen, dass einem allein schon wegen seiner universalen Weitsicht Reymonts großer Roman an Herz und Seele wächst und eine moderne Verfilmung tatsächlich seit langem überfällig war.

Die Länge des Romans und seine doppelbödige, komplexe Handlung deuten allerdings schon an, dass man sich entweder für ein filmisches Epos in Überlänge oder gar die Serienform entscheiden muss, um Reymont gerecht zu werden. Oder wie Dorota Kobiela und Hugh Welchman das Risiko eingehen muss, einen repräsentativen Ausschnitt zu wählen, um in Ansätzen begreifbar zu machen, was dieser Romans heute noch bedeuten könnte.

Kobiela und Welchman entscheiden sich in Das Flüstern der Felder für die einfachste und vielleicht vorhersehbarste Variante, die auch im Roman als Motor des gesellschaftlichen Wimmelbildes funktionierende Dreiecksgeschichte zwischen Vater, Sohn und Frau, die sich wie schon erwähnt auch aus heutiger Sicht als frühe feministische Selbstermächtigung einer Frau in patriarchalen Verhältnissen sehen lässt. Dabei halten sich Kobiela und Welchman in ihrer Dialog- und Handlungsführung stark an das Buch, die Jahreszeiten werden ebenso wie die Feste und die Musik akkurat integriert und natürlich auch die Regeln der Gesellschaft bezüglich Frauen zentral positioniert, die nicht viel anders als Vieh in Ehen verkauft werden, auch wenn es dann und wann durchaus Gefühle und besinnliche Momente geben kann.

Wie schon in ihrem letzten Film Loving Vincent  (2017) über den Tod von Vincent  van Gogh, transformiert das Regie-Paar  auch das Das Flüstern der Felder in ein künstlerisch anspruchsvolles Meta-Format, werden der mit Schauspielern gedrehte Film in nachträglich animierte Sequenzen überführt. Bei Loving Vincent  waren diese Animationen im Stil van Goghs gehalten, im Flüstern der Felder ist es die Malerei zeitgenössischer polnischer Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts, deren Stil nicht  nur adaptiert, sondern zusätzlich über das Einbetten einiger Gemälde von Malern wie  Józef Chełmoński, Ferdynand Ruszczyc und Leon Wyczółkowski noch einmal betont wird. Diese aufwendigen, kunstvollen Animationen, hinter denen  über 200.000 Stunden Arbeitszeit stehen,  geben dem Film einen immer wieder surrealen, fast schon psychedelischen Charakter, der beeindruckt und einzigartig ist.

Doch gleichzeitig nimmt dieser Ansatz Reymonts Geschichte und seinen Charakteren auch ihre erzählerische Intensität, ihr Leiden und ihre Leidenschaft. Die bittere Armut, die in Ansätzen erwähnt wird, löst sich dabei genauso in flirrendes, künstlerisches Wohlgefallen auf wie die Liebes- und Leidensgeschichte von Vater und Sohn und vor allem Jagnas.  Zwar werden gerade Übergangsmomente im Leben der Protagonisten – das Kohlfest, die Hochzeit, die Jahreszeiten – in wenigen Pinselstrichen zu beeindruckenden Symbolen einfachen Lebens. Doch das Gefühl, die Emotionen, die bei Reymont stets zentral sind, fallen nahezu komplett weg.

Zwar behält sich auch die Verfilmung vor, moralisch nicht zu urteilen, doch wirkt das gerade in der grausamen, an Nikos Kazantzakis‘ Alexis Sorbas  und die Verfilmung von Michael Cacoyannis erinnernde letzte Szene oft aufgesetzt und zu wenig auserzählt. Denn es stimmt natürlich nicht, dass Neid und die Missgunst, die das Leben in ständiger wirtschaftlicher (und politischer) Unsicherheit nach sich ziehen, nicht mehr als eine Reaktion auf die Selbstermächtigung einer jungen Frau und ihrer großen Gefühle sind. Es ist vielmehr das gesellschaftliche Ganze, das relevant ist und die Menschen zu dem macht, was sie bei Reymont waren und heute, in sehr ähnlichen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen immer noch sind. Davon erzählt zwar der Roman, die Verfilmung jedoch nicht. Das ist schade und immer wieder ärgerlich, denn was bleibt, ist damit nicht mehr als das Skelett eines dichten literarischen Meisterwerkes.

Vergisst man jedoch die Romanvorlage oder kennt sie nicht, dann überzeugt Dorota Kobiela und Hugh Welchman ambitionierte Verfilmung durchaus, denn wie die Animationen hier den erzählerischen Rahmen einer frühen weiblichen Selbstermächtigung erst begleiten und dann tragen und am Ende sogar zu einer düsteren Klimax führen, ist fast so etwas wie Film gewordene Sprache und ein so berauschender wie erhellender Moment. 

Rezensierter Film (Kurzbeschreibung und Credits)