Wunschloses Unglück
LuchterhandTash Aw | Fremde am Pier - Porträt einer Familie | Luchterhand | 128 Seiten | 22 EUR
Es ist nach den eher umfangreichen Romanen Tash Aws (The Harmony Silk Factory, Map of the Invisible World, Five Star Billionaire), ein schmaler Band und explizit kein Roman, den Aw bereits 2016 auf Englisch (und 2023 auf Französisch sowie Spanisch) veröffentlichte und der nun endlich bei Luchterhand auch auf Deutsch erschienen ist. Doch die 128 Seiten, die dieses Memoir ausmachen, sind gewissermaßen die Grundlage für Aws Werk. Denn sie erzählen, warum Aw der ist, der er ist: als Kind malaiischer Eltern im taiwanesischen Taipeh geboren, im malaiischen Kuala Lumpur in den 1970er und 1980er Jahren aufgewachsen, um schließlich in England zu studieren, und heute als preisgekrönter Autor (Whitbread Award, Commonwealth Writers‘ Prize, Booker Prize Longlist) vorwiegend in der Provence zu leben. Was sich für einen Leser ohne migrantischen Hintergrund faszinierend polyglott anhören mag, ist es für die malaiisch-chinesische Familie von Tash allerdings nie gewesen.
Denn davon erzählt Aw in seinen Erinnerungen. Mit einer klaren und zärtlichen Sprache spürt Aw familiäre und nationale Identitäten auf, die durch die Kolonialgeschichte in Südostasien starke Brüche aufweisen und unter derartig vielen Schichten vergraben liegen, dass sie kaum mehr erkennbar und nur durch vertrackte, verwirrende Gefühle aufzuspüren sind. Wie etwa die Scham, von der Aws Vater ihm erzählt, denn trotz aller Umbenennungen der kolonialen Straßennamen in Kuala Lumpur, Ho-Chi-Minh-Stadt und anderswo in Südostasien, bleibt die beschämende Erkenntnis bestehen, kolonisiert worden zu sein, jemandem unterlegen gewesen zu sein, der stärker und reicher gewesen ist.
Diese tiefe Traumatisierung, erkennt Aw, hat auf allen gesellschaftlichen Ebenen Konsequenzen. Am sichtbarsten sind sie für den jungen Tash auf der Schule eines gerade unabhängig gewordenen Malaysias, wo Aw als chinesisch-stämmiger Malaie, der zu Hause Mandarin und Kantonesisch spricht, in der Schule schnell lernen muss, mit Malaiisch und Englisch umzugehen und dem Narrativ eines modernen, unabhängigen Staates folgt, das vorschreibt, immer besser sein zu müssen, und das auf landesweitem Niveau. Gleichzeitig ist dieser Neustart einer Nation und seiner ersten Generation von Schülern ein trügerischer Neustart, denn spätestens im Alter von 15 Jahren muss Aw mit ernüchternder Klarheit feststellen, „dass unsere Eltern keineswegs alle in gleichem Maße benachteiligt wurden und sich ihre Ambitionen in nur einer halben Generation unterschiedlich entwickelten. Wir werden sehen, dass unsere Wege uns nicht nur auseinanderreißen, sondern unsere Reise beschleunigen.“
Doch mehr noch wird deutlich und durch Aws immer wieder lakonische Sprache auch schmerzhaft spürbar, dass diese Spaltung der Wege und schließlich der Gesellschaft nicht nur durch die ethnische Zugehörigkeit beschleunigt wird, sondern es die Klasse ist, die Besitzverhältnisse, die entscheidend sind.
Aw gelingt es, spielerisch von der gesellschaftlichen Metaebene auf den persönlichen Alltag zu wechseln (und umgekehrt) und das eine mit dem anderen zu verbinden – und letztendlich auch zu erklären. Und sei es noch so kompliziert, etwa bei den Ausführungen zu seiner chinesischen Teilidentität, die immer wieder an ihre Grenzen kommt und abhängig von Situation und Ort äußerst fluide und fern einer monokulturellen, staatstragenden Identität ist: „Fragt man aber nach dem Austausch von Höflichkeiten genauer nach und fängt an, von sich selbst zu erzählen, wollen alle Chinesen nur noch wissen, woher man kommt und wie man sich von ihnen unterscheidet.“ Ein Verhalten, dass dann auch zu vorsichtigem Lavieren zwingt, etwa bei Besuchen in Hongkong, wo Aws schlechtes Kantonesisch freundlich, sein gutes Mandarin dagegen mit kaum verhohlener Ablehnung aufgenommen wird. Das erinnert an Max Frisch und sein Ringen um Identität, die immer, wie Frisch meinte, potenziert, sich verstärkt, verzweigt, und deshalb auch stets dem Ich von Neuem abgerungen werden muss.
Was in Aws Fall noch einmal schwieriger ist, denn durch die zahlreichen Migrationsbewegungen seiner Familie geht mit jeder Bewegung, jeder Ortsveränderung auch ein Verlust einher. Teil einer identitätsstiftenden Vergangenheit zu sein ist kaum möglich. Aw erklärt das äußerst anschaulich über die Beziehung zu seiner Großmutter und die Geschichte seiner Großmutter selbst, die sich liest wie Peter Handkes Memoir Wunschloses Unglück über seine Mutter. Eine Entwurzelung, die letztendlich auch zu einer Entwurzelung der Familien selbst führt und damit zu identitätslosen Persönlichkeiten. Es sind Beziehungen, die sich durch Trennung definieren, Nähe misst sich an der Entfernung zwischen den Generationen, von denen einer bleibt und der andere geht und der eine den anderen aus einer Erinnerung verdrängen muss, um in der neuen Heimat bestehen zu können. Ein Ethos, dem nur schwer etwas zu entgegnen ist, wie Aw perplex erkennen muss: „Als ich meine Eltern fragte, warum sie ihr sechs Monate altes Baby bei Verwandten gelassen hatten, während sie Arbeit suchten, murmelten sie, dass ihnen nichts anderes übrig geblieben war. Wir haben es getan, damit ihr nie dasselbe tun müsst. Für unsere Familie und andere wie uns ist Trennung ein Ausdruck von Liebe.“
Obgleich Aw seine Schlussfolgerungen dezidiert persönlich und auf seinen komplexen kulturellen Hintergrund basierend formuliert, gelingt es ihm vielleicht gerade dadurch, auf die Universalität dieser Bewegungen und Brüche hinzuweisen. Das Kleine erklärt das Große; was hier passiert ist, passiert auf der ganzen Welt. Damit vollbringt Aw ein kleines Wunder: mit wenigen Pinselstrichen dechiffriert er das so fragile wie komplizierte Gemälde unserer von Migration geprägten Gegenwart, dessen Deutung uns in den letzten Jahren immer mehr entglitten ist.