Schreiben im Verschwinden

SuhrkampAnnie Ernaux | Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus | Suhrkamp | 106 Seiten | 22 EUR
Die Grenze, die Annie Ernaux zieht, lässt sich nicht einfach überspringen, auch diese Rezension muss zuerst über sie schreiben, so wie man lesend in ihrer jetzt endlich ins Deutsche übersetzten Erzählung, „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ auf sie stößt. Was haben Neoliberalismus und Annie Ernaux gemeinsam? Es ist seltsam, diese beiden zusammenzubringen, wenn die Autorin noch bei ihrer Literaturnobelpreisrede vor stuhlgereihten Krawattenträgern von ihrer Literatur als ein Schreiben spricht, das sich für die Klasse rächt. Die arbeitende Klasse meint sie, natürlich. Das Ich in ihrem Schreiben hat System; Klasse ist für sie die Beschreibung einer bestehenden Gesellschaftsordnung. Ihr Schreiben findet in dieser statt, so unbedingt auch in Diskussion dieser. Als dechiffrierend und emanzipierend beschreibt sie in der Nobelpreisrede ihren Anspruch an die Texte. Und auf den ersten Seiten ihres nun erstmals in deutscher Übersetzung erscheinenden Text dann das, diese Grenzziehung: „Auf keinen Fall darf man diese Seiten als objektiven Bericht über die Pflege [lesen] oder gar als Anklage, sie sind einfach nur der Überrest eines Schmerzes. „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ ist nun endlich auch auf Deutsch erschienen und erzählt von der Demenzerkrankung von der eigenen Mutter. ‚Mehr‘ nicht?
Durch die ersten zwei Seiten steht die Leser:in direkt vor einer Grenze, nämlich vor der, wie man den Text lesen soll. Sie darf ihn nicht als Bericht oder in Anklage lesen. Sie darf ihn also nicht in Verbindung mit der Gesellschaft setzen, die demografisch überaltert, die sich gleichzeitig vor dem Tod wegduckt, was sich schon jetzt abzeichnet in Pflegenotstand und Fachkräftemangel. Die Erzählung der Demenzerkrankung, des Pflegefalls der Mutter markiert die vorangestellte Notiz als nicht nur individuelles, sondern als privates Erleben. Das Verschwinden der eigenen Mutter ihrem Vergessen, in ihrer Demenzerkrankung soll bitteschön der Schmerz eines Ichs bleiben, das an anderer Stelle des Texts sagt: „Literatur kann gar nichts“. Wo Annie Ernaux früher mit Fußnoten die eigene Scham vor der Herkunft soziologisch oder geschichtlich kontextualisierte, sich als Ethnografin ihrer selbst beschrieb, singularisiert dieser Text auf den ersten Blick die Krankheit der Mutter, wie es nur der Neoliberalismus in seiner Privatisierung, Abschottung und Vermeidung des Tods und des Schmerzes tut. Nur wenig schweift der Blick der Erzählstimme ab vom Pflegeheim oder der Fahrt dorthin.
Oft wird es in diesem Zug von der Erinnerung an die Mutter früher eingeholt. Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus lässt sich vielleicht auch als Antwort auf die mehrere Jahre zuvor erschienene Erzählung über die Mutter verstehen. Eine Frau beschrieb sie vor allem im Verhältnis ihres arbeitenden Milieus in der industriegeprägten nordfranzösischen Kleinstadt. Jetzt der Versuch, die Mutter früher mit derselben kranken Frau zusammen zu bringen; in ihrer Widersprüchlichkeit, die die persönlichkeitszersetzende Erkrankung in sich trägt. Eine nachträgliche Beschattung nimmt der Text also vor, von Reflexionen der Mutter, die in „Eine Frau“ ausgelassen wurden. Diesen Text schrieb sie, so liest man in der Erzählung jetzt, bereits während der Erkrankung der Mutter. Er endete am Tag vor ihrem Tod.
Natürlich lässt sich dem trauernden Ich nur schwer vorwerfen, dass es ausschließlich den eigenen Schmerz umkreist. Die Demenzerkrankung verwirrt auch die Mutter-Tochter-Beziehung grundsätzlich, natürlich ist das zuerst mehr eine persönliche Erfahrung als eine, die von dem gesellschaftlichen Umfeld erzählt.
„Meine Mutter ist meine Zeit“, schreibt das Ich etwa an einer Stelle. In diesem Satz kristallisiert sich ihre Vorstellung der Mutterrolle: Sie ist Maßstab und Orientierung. Und dieser intime Bezug stellt sich dabei doch vielleicht auch als einer dar, der über das individuelle Erleben dieses Ichs hinausgeht. Die Mutter als ‚meine Zeit‘ zu beschreiben - dieser egoistische wie selbstverständlicher Anspruch - trägt vielleicht jede Beziehung zu den Eltern. Nun ist es die literarisierte Ernaux, die die Mutter füttert, die ohne Scham bröselt, kotzt, sich einnässt, sich selbst streichelt. „Wie ein Kind“, so kommentiert das Ich sie wiederholt. Die Erzählstimme wirkt von dem Zerfall der eigenen Mutter angeekelt bis beschämt, immer und immer wieder. Dabei ist der Ekel der Schatten des Schmerzes, eigentlich „zerreißt es sie“. Sie ist „immens traurig“. Diese Unbeholfenheit, die aus solchen Phrasen des Verlusts spricht, die niemals zu passen scheinen und mehr eine Farce sind, wirken doch wieder mehr verbindend als unfassbar privat. Roland Barthes, der französische Semiotiker, fertigte für genau diese Art von Ausdrücken einmal ein Verzeichnis an, „Fragmente einiger Sprachen der Liebe“ nannte er sie. Darin: Redewendungen, die so viele benutzen, um eigentlich Intimes auszudrücken und die immer unzulänglich oder, netter ausgedrückt: fragmentarisch bleiben. Wie: „Es zerreißt mich“ von Annie Ernaux. Es hat schon viele Menschen zerrissen, es zerreißt uns alle, immer wieder. Literatur kann gar nichts?
Immer wieder finden sich solche Schreibszenen, die sich selbst angesichts der Trauer durch die Krankheit und den Tod (der erstmal universell ungerecht ist) in ihrer Unbeholfenheit anklagen, um das Ich sich drehen und drehen, das die Worte nur unbeholfen setzen kann. Auch Rilke meinte einmal: Das Schreiben über Sterben und Liebe sollte man lieber lassen, es kann sich erst in dem gescheiterten Versuch Worte zu finden, ausdrücken. Die Erzählstimme möchte erst einmal selbst aus der Dunkelheit herauskommen. Der Text ist vor allem ein persönlicher ‚Raum der Emanzipation‘ um - vielleicht – wieder etwas ‚zwischen Literatur, Soziologie und Ethnografie‘ zu sein.
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur.
Sie lässt die Tagebucheintragungen im Flüchtigen, Ängstlichen, lässt manchmal so schon Satzzeichen oder Artikel weg, schwingt sie nicht zum Epos vom Sterben in der Spätmoderne auf oder zu der Betrachtung dessen, ‚was wahr und was Realität ist‘ – eine kapitalistische Marktwirtschaft, die Zahn für Zahn, immer hungrig, an das Kranken- und Pflegesystem legt.
Und das ist – in aller Ernsthaftigkeit dieses unbeholfenen Ausdrucks – schön. Denn auch wenn Ernaux mit dem Schreiben anfing, um das Unaussprechliche durch die Wirkung von Literatur ins Licht zu rücken, muss sie keine Klassensprecherin bleiben. Die tatsächliche, persönliche Befreiung für sie ist eben, es sein zu können und nicht mehr zu müssen. In dem Sinne vielleicht eine Weiterentwicklung ihres Satzes: Literatur muss nichts. Linke Autor_innen müssen nicht anfangen zu schreiben wie rechte (die oftmals zudem eher krude Fußnoten setzen), sie dürfen vielleicht gar nicht mit autoritärem Gestus zeigen, wie die Welt tatsächlich ist. Dass Ernaux‘ neuer Text keine einordnende Instanz hat, lässt viel Raum für die Widersprüchlichkeiten, die die Leser:in stolpern und denken lassen.
In dieser Konsequenz sollte das Ich der Leser:in allerdings auch nicht sagen, wie diese den Text zu lesen hat. Zum Glück ist vor dieser nichts sicher: Hoch lebe Barthes noch einmal, denn die Autor.in ist tot und die Leser:in lebt! Denn die Erzählstimme in Ernaux‘ Texten ist so persönlich wie durch das Schreiben fiktionalisiert – und spätestens durch den Prozess des Lektorats und der Veröffentlichung sind das zwischen den Buchdeckeln keine Tagebucheinträge mehr, sondern ein offener Text für die Gedankenanschlüsse und Deutungen der Lesenden. Das Ich des Texts ist vergesellschaftet in dem Sinn, als dass seine ausgestellten Idiosynkrasien (zum Beispiel, den Sterbeprozess schrecklich wie eklig zu finden) etwas allgemein Menschliches sind.
Immer wieder ist die literarisierte Annie Ernaux beschämt vom Körper ihrer eigenen Mutter. Wie die sich anfasst, ohne Scham, auch sexuell. Dabei sieht sie einen Körper, der zerfällt, wie die vielen anderen vor und neben ihr im Pflegeheim. Und doch schließt sie die Beobachtungen und Reflexionen über die demenzkranken weiblichen Körper im Pflegeheim immer mit dem Wort Frauen.
Von dem Gefühl der Scham und der Erinnerung daran, wie der Vater einmal den nackten Körper der Mutter betrachtete und losprustete: ‚Kein schöner Anblick‘, kommt sie so immer wieder zu der Betonung – das sind Frauen. Alte, sterbende Frauenkörper sind es, die in anonyme Kittel gesteckt werden und an Feiertagen auch einmal in geschmacklose Blusen, doch das Ich erkennt in diesen: ‚Es ist auch mein Körper‘. Dies wird irgendwann der Körper einer jeden Frau sein. Literatur muss nichts, sie ist kein bloßes Instrument, um zu zeigen, was gesellschaftlich ‚wahr ist‘. Höchstens, was real sein könnte. An dieser Stelle setzt Ernaux‘ Text der derzeitigen Entwicklung von weiblichen Schönheitsidealen, die Frauen wieder einmal in Schwäche zurückwerfen, den Frauenkörper wieder einmal ganz fressen wollen, ein scharfes und bis in alle Ränder ausgeleuchtetes Bild der Zukunft: Das des alten, Frauenkörpers. Ihm wird man nicht entkommen können. Die Unterdrückung der Frau bedient sich in dieser Zeit wieder einer altbewährten Tradition: ‚Skinny is back‘ wie in den 1990ern, wieder gewaltvoll restriktiv und reduzierend. In ihrem vielleicht persönlichsten Text, in dem Ernaux den Blick auf das Intimste einer Gesellschaft richtet – den alten, kranken Frauenkörper – stellt sie vielleicht das grundlegendste politische Kampfgebiet einer Gesellschaft dar.
Literatur:
Barthes, Roland (2000): Der Tod des Autors. In: Fotis Jannis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam
Barthes, Roland (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Ernaux, Annie (2019): Eine Frau, Berlin: Suhrkamp Verlag.
Ernaux, Annie (2022): Lauréate du Prix Nobel de littérature 2022, Stockholm: La Fondation Nobel.
Han, Byung-Chul (2020): Palliativgesellschaft. Schmerz heute, Berlin: Matthes & Seitz Verlag.
Reckwitz, Andreas (2024): Verluste. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin: Suhrkamp Verlag.
Rilke, Rainer Maria (2019): Briefe an einen jungen Dichter, Berlin: Suhrkamp Verlag.