Roman mit schwarzen Balken

Roman mit schwarzen Balken

Clemens Böckmann gibt in „Was du kriegen kannst“ herzbeklemmende Einblicke in das Leben einer Sexarbeiterin, die für die Stasi spioniert hat und in den „real existierenden Sozialismus“ der 1989 aufgelösten Deutschen Demokratischen Republik
Clemens Böckmann
Bildunterschrift
Clemens Böckmann
Was du kriegen kannst

Clemens Böckmann | Was du kriegen kannst | Hanser | 416 Seiten | 24 EUR

Eines der auf der ersten Seite vorangestellten vier Motti des Romans lautet: „Dichter sein heißt, die Menschen bewegen, ihr Leben zu ändern.“ Es stammt von dem deutschen Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Günther Weisenborn.  Nach der letzten Seite fragt man sich beklommen, in welche Richtung soll diese Änderung führen? Angesichts des Schicksals von Uta Lohner, die als junge Mutter in der DDR ein schönes Leben haben wollte und als „Honigfalle“ für die Stasi arbeitete? Dafür bespitzelte sie Männer, mit denen sie anfangs aus reiner Lust ins Bett ging, später für Geschenke und schließlich für West-Devisen. Zusätzlich entlohnte die Stasi ihre „inoffizielle Mitarbeiterin“ mit DDR-Mark, Darlehen für Möbel, oder der Renovierung ihrer runtergekommenen Wohnung. Die Freier waren Geschäftsleute, Touristen, Monteure, Diplomaten oder Politiker aus dem „feindlichen Westen“. Außerdem noch Oppositionelle und Kriminelle, auf die Uta Lohner gezielt angesetzt wurde, oder auch Zufallsbekanntschaften, die sie in Bars aufgegabelt hat.

Ein weiteres Motto des Romans stammt von Friedrich Engels. Nach Meinung des Philosophen und Revolutionärs würde die Prostitution mit der „Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum“, also im „real existierenden Sozialismus“, verschwinden, so dass „die Monogamie Wirklichkeit wird – auch für Männer.“ 
Wir wissen nicht viel darüber, ob Marx, Lenin oder Engels für Sex bezahlt haben. Oder was die drei von der DDR gehalten hätten. Um so genauer wissen wir, dass der Kommunismus sich selbst pulverisiert hat. Das vorherrschende Wirtschaftssystem ist der Kapitalismus. Prostituierte müssen sich nicht mehr verbergen, im Gegenteil. Wenn Studentinnen Artikelserien über frivole, lukrative Erfahrungen als Luxus-Escorts veröffentlichen, kann man sagen: die Prostitution ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Clemens Böckmann studierte in Kiel, Leipzig, Lissabon und Tel Aviv. Er arbeitet als Filmemacher, Herausgeber und Autor u. a. für Deutschlandfunk Kultur und unterschiedliche Zeitungen. Seit 2019 betreut er den Nachlass des Dichters und Skispringers Alvaro Maderholz.

Zurück zu der Frage: wie sollen Menschen ihr Leben nach dem Lesen dieses Romans ändern? Das Erste, was einem einfällt, ist eine Binsenweisheit. Man sollte aufmerksamer werden, wo man sich gerade befindet. Auf gerader Strecke und Herr oder Frau seiner oder ihrer Sinne? Oder vor einer fatalen Weggabelung, nach der es kein zurück gibt? Oder schon auf der schiefsten Bahn auf dem direkten Weg in die Hölle? Die bedeutete für Uta Lohner psychische Manipulation (Gaslighting) durch die Stasi, Vergewaltigungen durch Freier und Führungsoffiziere, Abtreibungen, Einsamkeit, Knast und schwerer Alkoholismus.

Uta Lohners tragischer Fall aus den bequemen Doppelbetten der Luxushotels ins Bodenlose wird für den Leser noch dadurch verstärkt, dass sie kein fiktiver Charakter ist. Der Name ist das Pseudonym einer realen Frau, die dem Leipziger Schriftsteller Clemens Böckmann ihr Leben erzählt hat.

Ist sie eine sympathische Figur? Ja! Und! Nein! Die Ehrlichkeit, Schonungslosigkeit und Mitleidlosigkeit, mit der sie auf ihr Leben zurückblickt, sorgen durchaus für Sympathien. Die Vergnügungssucht und Hinterlist, mit der sie Freier, Freundinnen und Nachbarn bespitzelte und belastete, hinterlassen einen bitteren Beigeschmack.

Auf jeden Fall ist Uta Lohner eine unzuverlässige Erzählerin im besten Sinne. Also eine Erzählerin, bei deren „Lebensbeichte“ man zwar viel über Sexarbeit und das Leben in der DDR erfährt und der man trotzdem nicht alles glauben darf.

Clemens Böckmann hat das Leben seiner schillernden Protagonistin nicht einfach nur nacherzählt. Stattdessen hat er großartige, literarische Kapitel montiert mit Auszügen aus Original Stasi Akten, die das Erzählte beglaubigen, ergänzen, vertiefen oder auch konterkarieren. Fast alle Namen und Ortsangaben wurden mit schwarzen Balken unleserlich gemacht. Zum einen, um weitere Opfer zu schützen. Zum anderen, weil Uta Lohner keine „Opferakte“ erhalten konnte, da sie als inoffizielle Stasi Mitarbeiterin gleichzeitig zu den Tätern gehörte. Die Darstellung dieses Oszillierens zwischen Opfer und Täterin ist Clemens Böckmann hervorragend gelungen.

Gegen Ende des Romans erzählt Uta Lohner selbst oder um genau zu sein, sie spricht frei nach Schnauze. Einige dieser Passagen wirken wie Transkripte von Audioaufnahmen. Darüber hinaus gibt es Passagen, in denen sich Uta Lohner und Clemens Böckmann über das gemeinsame Buch-Projekt austauschen und Orte aufsuchen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben.

Anfangs erfordert das Verfolgen dieser Erzählebenen durchaus etwas Geduld und Kombinationsvermögen. Besonders, da Böckmann sie nicht immer chronologisch montiert hat. Manchmal weiß man erst nach ein paar Sätzen, wer gerade erzählt und in welcher Zeit man sich befindet. Doch wer sich auf dieses Erzählprinzip einlässt, wird wirklich überreich belohnt. Außerdem rühren die enorme Wucht und der Sog des Buches daher, dass der Roman frei von moralischen Bewertungen ist und frei von (küchen-) psychologischen Erklärungen.

Was du kriegen kannst ist eine Achter- und Geisterbahnfahrt durch das Leben einer Sexarbeiterin und ein bestechendes Porträt der DDR, deren gefährlichster Gegner nicht der kapitalistische Westen war, sondern seine eigenen Bürgerinnen und Bürger. 

Rezensiertes Buch