Reise in das Herz einer toxischen Beziehung

Reise in das Herz einer toxischen Beziehung

Lina Wolff erzählt in „Der Teufelsgriff“ meisterhaft die Geschichte einer „Amour fou“ zwischen einer Schwedin und einem Italiener in Florenz
Lina Wolff
Bildunterschrift
Lina Wolff
Der Teufelsgriff

Lina Wolff | Der Teufelsgriff | Rowohlt | 256 Seiten | 25 EUR

Die ersten Sätze des Romans klingen fast banal. Eine Schwedin verlässt ihr emotional und klimatisch kühles Heimatland, um dank ihrer Ersparnisse ein schönes Leben zu führen im sonnigen Süden. Genauer in Florenz, Italien. Bei dem beliebten Stiefel im Mittelmeer denkt man nicht nur an Sonne, Kunst, Wein und die beste Küche der Welt. Sondern natürlich auch an Lebensfreude, große Gefühle und Leidenschaften, kurz und gut: „Amore“. Wird das eine triviale Liebesgeschichte? Blonde, kühle Schwedin verliebt sich in heißblütigen Italiener, der sie in die Kunst des Lebens und des Genießens einführt?

Wer keine Lust hat auf seichte Unterhaltung, überfliegt im Geiste spontan sein Adressbuch. Habe ich eine Freundin oder Bekannte, die sich über so ein Buch freuen könnte? Falls nicht, landet es ungelesen im Altpapier, wo es in den ökologisch korrekten Recyclingkreislauf eingespeist wird.

Doch zur literarischen Meisterschaft der Schriftstellerin Lina Wolff gehört es, Klischees überzeugend aufscheinen und dabei durchblitzen zu lassen: Das ist nicht die ganze Geschichte. Da kommt noch was. Nur wenige Seiten später kippt die Liebesschnulze um in eine toxische Beziehung mit brutaler, häuslicher Gewalt. Anschließend in eine Affäre mit einem windigen US-Amerikaner, ein Eifersuchtsdrama, eine Entwicklungsgeschichte mit Paartherapie. Als nächstes der tapfere Versuch, sich zumindest beruflich zu emanzipieren. Dann: kopflose Flucht nach New Orleans. In der pittoresken Stadt am Mississippi River eine neue zum Scheitern verurteilte Beziehung, plus noch heftigeres Eifersuchtsdrama, plus Psychothriller, inklusive Entführung und Gefangenschaft, bis zur unglaublichen, blutigen Rettung. – Ausgerechnet durch den zu Hilfe gerufenen Italiener aus Florenz.

Kann aus einer toxischen Beziehung zwischen einem narzisstischen Gewalttäter und seinem treuherzigen Opfer jemals eine harmonische oder zumindest gewaltfreie Beziehung werden? 
Die Frau versucht es immer wieder mit Vergebungen und Versöhnungsangeboten, die der Mann dankbar und erleichtert in Anspruch nimmt. Alle entpuppen sich als nur kurze Atempausen bis zu seinem nächsten Gewaltausbruch.

Wobei die körperlichen Übergriffe des Mannes immer nur angedeutet werden. Im Zentrum stehen die Gedanken und Gefühle der Frau, die darum kreisen, welche Schuld sie an seinen Gewaltausbrüchen trägt. Ja sogar, wie ausgerechnet sie den Aggressor „retten“ und ihre vermeintliche „Liebe“ aus dem fatalen Oszillieren zwischen Gewalt, Versöhnung, Leidenschaft, Schmerz und „Glück“ hinausführen könnte.

Hört und liest man die inflationären, feministischen Verlautbarungen zum Thema, dürften solche krassen Fälle häuslicher Gewalt nur noch seltene Ausnahmen sein. Doch die Realität scheint sich um politisch korrekte Wortbeiträge oder „woke“ Kampagnen nicht zu scheren. Laut Statistik ist jede 3. Frau von sexueller und/oder körperlicher Gewalt betroffen. Ein Viertel aller Frauen erleben körperliche und/oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerschaft. Zwei von drei Frauen erleben sexuelle Belästigung. Diese schockierenden Zahlen stammen weder aus der düsteren Vergangenheit, noch aus muslimischen Ländern, auf die europäische Aktivistinnen mit Vorliebe anklagende Zeigefinger richten, sondern aus – Europa. Dem Kontinent der Aufklärung, des Humanismus und der universellen Menschenrechte.

Zum Glück ist Der Teufelsgriff kein „aktivistischer“ Text, der empören, aufrütteln oder anklagen will. Obwohl er das nebenbei natürlich trotzdem macht. Stattdessen ist er eine mit höchster Lakonie und Präzision erzählte und dadurch um so fesselndere Geschichte über eine toxische Beziehung: Paradoxe Anziehungskräfte zwischen Tätern und Opfern. In diesem Fall einem männlichen Gewalttäter, der ein Gefangener seines eigenen Zwangsverhalten ist. Sowie seinem weiblichen Opfer, das an seinem Peiniger hängt, obwohl es ihn verlassen könnte.

Da sich solche fatalen Charakter-Konstellationen in der Realität so gut wie nie harmonisch entwickeln, hat auch der Roman kein gutes Ende. Falls er das hätte, hätte er seine Charaktere nicht ernst genommen.

Nach dem Lesen empfindet man – wiederum paradox– großes Entsetzen über so eine toxische Beziehung und großes Glück über einen meisterhaft geschriebenen, psychologischen Roman. 

Rezensiertes Buch