«Ohne Schiff und ohne Land»

«Ohne Schiff und ohne Land»

Mit «Habitus» katapultiert sich der Schweizer Journalist und Musiker Waseem Hussain gekonnt in die höheren Sphären des literarischen Schreibens – und behandelt ein Thema, so alt wie die Menschheit
Sascha Reichstein | Waseem Hussain
Bildunterschrift
Sascha Reichstein | Waseem Hussain
Habitus Waseem Hussain

Waseem Hussain, Sascha Reichstein | Habitus | editionR | 141 Seiten | 47.00 CHF

«Man sagt mir, ich sei ein Inder. Mein Name sei Khemji, sagt man mir.» So beginnt Hussains Text − und es ist vielleicht  kein Zufall, dass der Satz ein wenig an Moby Dick und seinen obsessiv suchenden Protagonisten gemahnt. Khemji reist ins Land seiner angeblichen Herkunft, im Sog des Neu-Denkens seiner Identität. Woher? Aus Pakistan, so vermutet man, aber ausgesprochen wird das nie.  «Es kommt mir gelegen, dass man mir sagt, ich sei ein anderer als der, der ich glaubte zu sein.» Er ist bereits ein anderer, und doch empfindet er seine angebliche neu entdeckte Zugehörigkeit als Anmassung. 

Durch wilde Träume, geheimnisvolle Botschaften per Postkarte und ganz handfeste, aber auch bizarre Begegnungen (der Taxifahrer; der Goldschmied; der Buschauffeur; der Schuhhändler) folgen wir Khemji auf seiner peu à peu immer surrealeren Reise durch Indien − ein Land, das mit erschütternder Grausamkeit Zugehörigkeit zu- oder abspricht, je nach Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sozialer Herkunft. Allem eben, was der grosse Soziologe Pierre Bourdieu den «Habitus» eines Menschen nannte: die erworbene Vielschichtigkeit unserer Denk- und Verhaltensweisen im Kontext der Gesellschaft, die Konstruktion des Individuums.
Eine autofiktionale Erzählung» könnte man Hussains Text nennen. Eine skurrile Tragödie von luftiger, zurückhaltender Sinnlichkeit, eine stille Utopie.

Imaginäre Topografien

Den Rahmen bilden Sascha Reichsteins Fotografien und Grafiken von Mineralien in Grossaufnahme, die sie wie erfundene Landschaften in Schwarz, Weiss und metallisch-Gelb erscheinen lassen. Kongenial kombiniert im Wortsinne, ein ebenbürtiges Gegenstück zum literarischen Text, dem es zusätzliche Tiefe verleiht. Die Mineralien, erklärt die österreichische Künstlerin, habe sie im Naturhistorischen Museum in Wien fotografiert. Fasziniert habe sie daran deren «imaginäre Topografien». Mischwesen par excellence, deren Herkunft und Standorte oft schwierig zu eruieren ist und die zudem unfreiwillig von weither nach Europa «migriert» (eigentlich ja; migriert worden) sind. Indem schliesslich Silvia Henke den Zusammenhang zwischen dem «Habitat» von Steinen, Menschen, Lebewesen und dem Bourdieuschen «Habitus» herstellte, schloss sie den Kreis und gab diesem Gesamtkunstwerk seinen Titel.

Geschichte einer Landnahme

«Was ist Literatur, wenn nicht: Landnahme», hat die Schriftstellerin Dana Grigorcea kürzlich einmal gesagt. Genau das tun und das beschreiben Hussain und Reichstein mit ihren je eigenen Mitteln. 

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«Habitus» ist ein Genuss für die Sinne, nicht zuletzt durch die aufwändige Ausstattung und künstlerische Gestaltung durch Hanna Williamson. (Besonders schön: das haptische und optische Erlebnis des auf den Buchblock zugeschnittenen Hardcovers.) Es ist ihm zu wünschen, dass es nicht nur viele Leser, Betrachter und Coffee-Table-Besitzer findet, sondern hoffentlich bereits auf der Long List der «schönsten Schweizer» Bücher steht. Dem Autor, Waseem Hussain, wären jede Menge Auftritte und Diskussionen zu wünschen. Er hat nicht nur Sprachtalent, sondern auch etwas Intelligentes zu sagen, auf eine nicht gewollte, aber doch unerschrocken andere, einmalige Perspektive auf die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungen auch und gerade im Hinblick auf Herkunft und Migration.

Rezensiertes Buch