Niwala
Waseem Hussain wurde 1966 in der pakistanischen Hafenstadt Karachi geboren und wuchs am Zürichsee auf. In jungen Jahren hat er kulturelle Veranstaltungen organisiert und den mehrfach prämierten Kurzfilm »Larry« gedreht. Als Journalist berichtete er für die Schweizer Presse aus dem südasiatischen Raum und wurde 1998 für seine investigativen Recherchen mit dem Prix Mass-Médias der Fondation Eckenstein ausgezeichnet. Er lebt als Autor und Songwriter in der Nähe von Zürich und spricht Deutsch, Englisch und Urdu.
Wochenlang war meine Familie in Aufregung, wir kauften Geschenke, ließen uns gegen Hepatitis, Malaria und Cholera impfen, gingen zum Friseur, besorgten unsere Visa. Die Jungen und Mädchen in meiner Klasse hatten eine Ferienwohnung in Graubünden, ein Haus im Tessin oder einen Wohnwagen, mit dem sie nach Südfrankreich fuhren. Als ich ihnen sagte, dass ich die Ferien bei meiner Großmutter in Karachi verbringen würde, machten sie Augen, als erzählte ich ein orientalisches Märchen.
Am Ende des langen Nachtflugs sagte Mutter zu mir und meinen Brüdern, sehr feierlich: »Hört gut zu: Wenn wir bei Nani über die Schwelle treten, wascht ihr euch zuerst das Gesicht. Danach geht ihr zu ihr und küsst ihr die Hand.«
»Kommt, wir wollen frühstücken«, sagte Nani nach der Begrüßung. Und während sie mit Mutter Tränen des Wiedersehens weinte, legten Vater, meine Brüder und ich eine große weiße Decke auf den Boden und stellten Teller und Tassen darauf. Nani und Mutter kamen dazu, wir setzten uns und erzählten uns bei Spiegeleiern mit Steinsalz, schwarzem Pfeffer und fruchtigem Kaschmir-Chili, bei Chapati-Brot und Chai, in welche Klasse wir Kinder gingen, wer wo arbeitete, dass die Lebensmittel wieder teurer geworden seien oder wen die Nachbarstochter heiraten werde.
So erinnere ich mich an unsere Ankunft, jedes Jahr im Sommer, in Nanistan. Im Großmutterland. Bei jedem Besuch hörte ich alte und neue Geschichten, lernte mehr und mehr Urdu. Noch heute ist Niwala eines meiner Lieblingswörter. »Hier«, sagte Nani, wenn ich meinen Teller leer gegessen hatte, »nimm noch ein Niwala!« Sie packte mit etwas Chapati ein Stück von ihrem Ei, formte mit vier Fingern eine Schaufel und schob es mir mit dem Daumen in den Mund. Es war der kostbarste Bissen von allen. Gerade weil Niwala nicht mit Bissen übersetzt wird, sondern so: eine Gabe, die du empfängst. Alles, was Nani mir erzählte, war ein Niwala. So wie der Segen der Ahnen, wenn sie mir die linke Hand auf meinen Kopf legte, ich ihr die rechte küsste und sie sagte: »Lebe.«
Nach dem gemeinsamen Begrüßungsmahl setzte sich Nani im Schneidersitz auf ihr Ruhebett und las Zeitung. Was konnte sie schimpfen! Ihre weiche, hohe Stimme stieg hinab in einen Keller voll rasselnder Wut. Die empörte Bürgerin polterte gegen die Macht und die Habgier des pakistanischen Landadels, der sich alle Parlamentssitze und hohen Ämter gekrallt hatte.
Manchmal blieben ihre Augen an den Nachrufen und den Todesanzeigen haften. Einsame Tränen fielen auf die Buchstaben. Ihr Ehemann, mein Nana, der in Britisch-Indien Jura studiert und als Journalist gearbeitet hatte, war jung gestorben. Seine kämpferischen Zeitungsartikel gegen die Fremdherrschaft des British Empire, seine Flugblätter, die er im Schutz der Nacht druckte und Fahrrad fahrend unter die Leute brachte, führten dazu, dass er einige Male ins Gefängnis geworfen wurde. Nicht einmal die Anwälte und Richter, mit denen er verwandt war, konnten ihn und seine Familie länger schützen.
Als die Kolonialmacht 1947 abzog, stritten sich die politischen Führer darüber, ob das freie Indien eine Mehrheitsgesellschaft mit geduldeten Minderheiten werden sollte oder ein Land der Vielfalt und des Kräfteausgleichs. Der indische Subkontinent wurde geteilt. In einer unvergleichlichen Tragödie entstanden zwei neue Staaten: Indien und Pakistan. Auf der Flucht vor Plünderung und Vergewaltigung verloren fünfzehn Millionen Menschen ihr Hab und Gut, ihren heimatlichen Grund und Boden. Eine Million wurde getötet. Nani sprach nicht gern darüber. Nur das erzählte sie: Als die Drohungen gegen Nana im Oktober 1951 unerträglich wurden und auch sie aus Indien fliehen mussten, war sie dreißig Jahre alt und hatte vier Kinder. Nana kümmerte sich um die heimliche Reise durch Weiler und Dörfer und um Herbergen, in denen sich die Familie verstecken konnte. In Bombay besorgte er Karten für die Schiffspassage über das Arabische Meer nach Karachi, der ersten Hauptstadt des vier Jahre jungen Pakistan.
In meinem Hunger nach Antworten auf die vielen Fragen, die ich nie gestellt habe, drehe ich mit geschlossenen Augen Kurzfilme. Ich sehe den Hafen von Bombay und die Farben am Himmel. Die Früchte in den Auslagen, die gerösteten Kichererbsen in Päckchen aus Zeitungspapier. Ich höre die Stimmen der Menschen, die einen barfuß, die anderen auf Kutschen. Matrosen lösen Seile, Möwen kreischen. Im Wellengang auf hoher See drückt Nani ihren Sohn und ihre drei Töchter an sich, gibt ihnen mit ihren umhüllenden Armen zu verstehen, dass alles gut wird. Wie gerne wüsste ich, mit welchen Worten sie die fünfjährige Zohra getröstet hat, die mich fünfzehn Jahre später in Karachi zur Welt brachte und ein Jahr später auf dem Arm trug, als wir 1967 in die Schweiz auswanderten, weil Papa hier eine Bankfiliale aufbaute. Wie gerne hätte ich Nanis große, dunkelbraune Mandelaugen gesehen, als sie Nana fragend anschaute: »Sag mir, dass es uns an nichts fehlen wird.« Gerade als er antworten will, ertönt aus dem Bordlautsprecher die Stimme des Kapitäns: Der erste Premierminister Pakistans, erschossen bei einem Attentat. Ich sehe Nani, wie sie voller Entsetzen zu Nana schaut. Aber ihr sonst so kämpferischer Ehemann blickt schweigend in die Ferne. Zehn Jahre später ist er unterwegs von Karachi in die irakische Hafenstadt Basra, von wo er zum Pilgerort Kerbela weiterreisen will. Noch auf dem Schiff wird er krank und verstummt für immer. Nani erfährt es erst viele Tage später.
Nani lebte fortan bei ihrem Sohn, meinem Onkel, und seiner Familie. In ihrem Groll über die britische Kolonialisierung und über all das Leid, das in ihrer Heimat daraus entstanden war, rümpfte sie die Nase, als ihr Sohn, dank einer Beförderung, einen Esstisch und Besteck kaufte. Noch heute höre ich sie sagen: »Muss ich jetzt essen wie die Engländer?« Als ich vor ein paar Jahren erfuhr, dass Schweizer Firmen im Kielwasser der englischen Schiffe in Nanis Heimat gesegelt waren, um von der Kolonialisierung zu profitieren, dachte ich an den Stubentisch in unserer Wohnung am Zürichsee. Dort hatten mir Mutter und Vater beigebracht, mich gerade hinzusetzen und mit Löffel, Messer und Gabel zu essen. »Sonst werden wir immer als Fremde auffallen«, sagten sie.
Wenn ich mich in Karachi nach dem Mittagsschlaf an Nanis Arm lehnte, strich sie mir mit der Hand über Kopf und Nacken, gab mir fünf Rupien und flüsterte: »Geh, hol von dem feinen Brot.« Ich sprang auf, ein pakistanischer Bub vom Zürichsee in kurzen Hosen, T-Shirt und Sandalen, ging zur Bäckerei mit dem Erdloch aus gebranntem Lehm und bestellte in meinem schweizerdeutschen Urdu zehn Naan. Der Bäcker legte ein elftes dazu, nur für mich. Als ich zurückkam, sagte Nani: »Hier ist er ja«, und legte die bestellten zehn Brote auf das große Tuch zu den Schüsseln und Schalen, aus denen es nach Ingwer und Knoblauch duftete, nach grünem Kardamom und Schwarzkümmelsamen, Sternanis, Zimtrinde und Muskatblüte.
Oft stand ich bei ihr in der Küche, sah zu, wie sie Gemüse, Fleisch und Kräuter richtete, Reis wusch, Teig knetete. »Jedes Gewürz zu seiner Zeit«, lehrte sie mich, wenn sie eine der vielen kleinen und großen Dosen öffnete.
Im November 1989 las sie in der Daily Vatan Gujarati, der Zeitung, für die Nana gearbeitet hatte, dass in Deutschland eine lange, hohe Mauer gefallen war. Von Tauwetter zwischen Ost und West war die Rede, von Menschen, die in die Alleen Berlins strömten. In einem Leitartikel hieß es, dass jetzt zusammenwachse, was zusammengehöre. Auf Fotografien tanzten Menschen beider Seiten auf den Trümmern ihrer Entfremdung. Staatsoberhäupter gaben sich Küsse links und rechts und wussten, dass ihre Namen von nun an in das Gedächtnis der Weltgeschichte eingebrannt waren. Nani freute sich, jedoch mit Bitterkeit. Mit ausgestreckten Armen hielt sie die Zeitung über ihrem Gesicht und schüttelte ruppig die aufgeschlagenen Seiten. Ihre Stimme war ein Seufzen: »Auch hier wurde einmal getanzt.« Sie erzählte von rauschenden Partys und glanzvollen Kinos, gediegenen Restaurants und überfüllten Musikklubs, die es einst in Karachi gegeben hatte. Doch 1977, zwölf Jahre vor dem Mauerfall in Berlin, entfernten die USA den damaligen pakistanischen Premierminister aus dem Amt. Er hatte Seilschaften in Moskau und mochte nicht mitmachen im Kampf des Westens gegen die Sowjetunion, deren Soldaten bald ins benachbarte Afghanistan einmarschierten, um den Eisernen Vorhang am Arabischen Meer zu schließen. Die Strategen in Washington machten den radikalreligiösen Generalstabschef Zia zum neuen Staatschef Pakistans und gaben ihm zig Millionen Dollar, getarnt als Wirtschaftshilfe, um die gottlosen Sowjets, wie sie sie nannten, aus der Gegend zu vertreiben. Zia bildete Söldner aus und schwor sie ein auf eine aus Saudi-Arabien importierte Version des Islams, aggressiv und archaisch, die Pakistan bis dahin nicht gekannt hatte. Der General änderte die Verfassung, in der er die Trennung von Staat und religiösen Institutionen aufhob. Frauen mussten fortan ein Kopftuch tragen, was die frommen unter ihnen dazu bewog, ihren Körper ganz zu verschleiern.
Während meine Schulkameraden am Gardasee oder in Bergün Ferien machten, saßen meine Familie und ich im Sommer 1977 in Nanis Dreizimmerwohnung fest. Nach dem Putsch standen wochenlang Panzer in den Straßen, es herrschte Ausgangssperre. Wer ohne schriftliche Erlaubnis das Haus verließ, wurde verhaftet. Nachts hörte ich die Militärfahrzeuge. Manchmal auch Schüsse und Explosionen.
Tagsüber, wenn die Sperre für ein paar Stunden gelockert wurde, ertönte das Rufen des fliegenden Gemüsehändlers, der seinen Laden, ein großes Brett auf vier Rädern, durch die Straßen schob. Nani eilte auf den Balkon, ließ ihren Korb an einer Schnur hinunter und bestellte Zwiebeln, Tomaten, Gurken, Auberginen. Sie zog die Waren hoch, schickte jedes Mal zwei oder drei Sachen zurück und rief dem Verkäufer zu, die seien nicht frisch. Es schien ein Spiel zu sein. Ein Schmunzeln lag auf den Gesichtern der beiden, wenn Nani die Ersatzware hochzog und den Korb mit dem Geld nach unten schickte. Der Mann tippte sich mit den Geldscheinen an die Stirn und ging weiter.
Im Februar 1989, wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer, zogen sich die sowjetischen Truppen zurück, der Eiserne Vorhang verschwand. Nicht aber Zias geistige Erben, die als Taliban und Al-Kaida die ganze Region terrorisieren. Wer in Pakistan regiert und wer scheitert, wird bis heute nicht allein in Pakistan bestimmt, sondern auch von Regierungen und Geheimdiensten in Washington, Riad und Peking.
Im Dezember desselben Jahres stand Nani am Ende ihres Lebens. Ihr Herz war schwach geworden. Sie hatte zu viel Zucker im Blut und war auf einem Auge erblindet. Das viele Blei im Trinkwasser hatte ihre Nieren geschädigt. Die meiste Zeit lag sie auf dem Rücken auf ihrem Ruhebett, das Haar offen, grau meliert und lang und dicht, wie ein Kissen unter ihrem Kopf. Ich fragte sie: »Werden Pakistan und Indien jemals wieder vereint sein?« Sie dachte nach. Dann sagte sie: »Mein lieber Enkel der vielen Fragen«, und erzählte von ihrer Kindheit, die 1921 in Bhavnagar in Britisch-Indien begonnen hatte. Ihre Eltern tauften sie, indem sie ihr zuerst ein Gebet und dann ihren Namen ins Ohr flüsterten: Zainab Bano Kokadwala. Sie beschrieb den Duft des Monsunregens, wenn er auf die staubige Erde fiel und die Kinder fröhlich durch die Gassen hüpften. Sie erzählte, wie sie und ihre Geschwister Kuhdung trockneten und zur Mutter brachten. Diese feuerte damit den Herd an und kochte. Ein paar Stunden später schickte sie die Kinder los, um die Festtagsspeisen mit den Nachbarn zu teilen, ungeachtet ihres Glaubens. Von den einen Händen in die anderen. Lauter Niwalas. Nani sah mich an und sagte: »Das ist Geschichte.«
Waseem Hussains Erzählung ist erstmals in der von Wolfram Schneider-Lastins herausgegebenen Anthologie Fragen hätte ich noch: Geschichten von unseren Großeltern im Rotpunkt Verlag auf Deutsch erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung der Wiederveröffentlichung.