Liebe und unerwartete Bewegungen in Zeiten der Trauer
UllsteinSally Rooney | Intermezzo | Ullstein | 496 Seiten | 24 EUR
Intermezzo ist der vierte Roman der irischen Autorin Sally Rooney, und vielleicht ihr bisher gelungenster. Nachdem sie nach der Veröffentlichung von Normal People im Jahr 2018, der mehrere Preise gewann und im selben Jahr auf der Longlist für den Booker Prize stand und anschließend für das Fernsehen adaptiert wurde, zu einem globalen Phänomen geworden ist, werden ihre Romane stets mit Spannung erwartet - sie wurde als "literarische Stimme ihrer Millennial-Generation" gefeiert und ihr Schreibstil wird oft mit dem des amerikanischen Autors J. D. Salinger verglichen.
Im Mittelpunkt des Romans, der zwischen Dublin und einer fiktiven ländlichen Stadt im Westen Irlands spielt, stehen zwei trauernde Brüder, die Koubeks, die nach dem Tod ihres Vaters nach langer Krankheit sowohl ihre gestörte Beziehung zueinander als auch ihre jeweiligen romantischen Verstrickungen verhandeln. Peter, 32 Jahre alt, ist Anwalt für Menschenrechte in Dublin, nach außen hin erfolgreich, höflich und sozial ungebunden. Ivan, zehn Jahre jünger, ist ein Schachmeister und schlecht bezahlter Datenanalytiker, mit Köpfchen und kieferorthopädischer Zahnspange, den sein älterer Bruder gegenüber einer Freundin als "schrägen Vogel" und "irgendwie autistisch" bezeichnet. Da sich ihre irische Mutter und ihr slowakischer Vater trennten, als Ivan fünf Jahre alt war, hat er die Hauptlast des Streits zu tragen gehabt, und es ist von Anfang an klar, dass die Brüder nicht die herzlichste Beziehung zueinander haben. Abgesehen von ihrem gemeinsamen familiären Hintergrund scheinen sie nicht viel gemeinsam zu haben, geschweige denn sich gegenseitig zu verstehen, obwohl beide, wie schon angedeutet, in romantische Beziehungen verwickelt sind, die man als unkonventionell bezeichnen könnte. Peter ist immer noch in seine Ex-Freundin Sylvia verliebt, eine Dozentin an einer Dubliner Universität, die infolge eines Unfalls vor einigen Jahren mit chronischen Schmerzen zu kämpfen hat, die sie u. a. sexuell "unfähig" gemacht haben. Sie war es, die die Beziehung beendet hatte, und Peters anschließende Promiskuität hat bei Naomi, einer 23-jährigen Studentin mit Wohnungs- und Geldproblemen, ein Ende gefunden. Beide Frauen wissen von der jeweils anderen. Diese Dreiecksbeziehung steht im Gegensatz zu der rührenden, aufkeimenden Liebe zwischen Ivan und Margaret, einer 36-jährigen geschiedenen Frau, die in einem Kulturzentrum auf dem Lande arbeitet und die Ivan kennenlernt, als er dort an einem Schachturnier teilnimmt.
Die "Handlung" spielt sich in den drei Monaten von Oktober bis Dezember ab (also das "Intermezzo" oder "Zwischenspiel" des Titels), obwohl der Roman, wie auch die anderen Romane von Rooney, nicht auf eine Handlung ausgerichtet ist. Vielmehr ist er eine Reflexion über Beziehungen, sowohl familiäre als auch intime, und die transformative Natur, die sie haben könnten. Die Missverständnisse, die kommunikativen Beinahe-Fehlschläge, die kleinen Grausamkeiten, die wir - selbst unbewusst - gegenüber denjenigen begehen, die wir lieben, und die einfache Freude, mit genau der richtigen Person zusammen zu sein, und sei es nur für diesen Moment. Intermezzo ist auch ein Begriff aus dem Schach und bedeutet "Zwischenzug" oder ein unerwarteter Zug, der den Gegner zu einer sofortigen Aktion zwingt. Rooneys Figuren werden meisterhaft manövriert, mal näher, mal weiter weg, in einem quälenden Spiel um Macht, Verlust und unvorhersehbare Züge.
Alle üblichen aus früheren Rooney-Büchern bekannte Elemente sind hier im Spiel - intensive, ungleiche Beziehungen, abwesende Väter, Abschweifungen über den Dubliner Mietmarkt, Kapitalismus und Feminismus - aber das Neue in Intermezzo ist der Fokus auf zwei männliche Brüder, eine Abkehr von ihren üblichen weiblichen Protagonisten. Ein weiterer auffälliger Unterschied ist die unpolitische Natur der Romanfiguren, zumindest was ihre Worte angeht. Ihre politischen Ideale werden eher gelebt als ausgesprochen (Peter setzt sich für die Rechte der Arbeiter ein, Ivan boykottiert das Fliegen aus Umweltschutzgründen usw.), im Gegensatz zu den Figuren in ihren früheren Romanen, in denen man sie dann doch recht oft politisch predigen hört. Dies ist angesichts der politischen Einstellung Rooneys interessant - sie ist bekennende Marxistin und Feministin, die sich aufgrund ihrer Haltung zum Israel/Palästina-Konflikt geweigert hat, die hebräischen Übersetzungsrechte für ihr letztes Buch (Schöne Welt, wo bist du) zu verkaufen, und die erst kürzlich einen Brief unterschrieben hat, in dem sie sich zusammen mit über 1000 anderen Schriftstellern und Verlegern zum Boykott israelischer Kultureinrichtungen verpflichtet, die "an der überwältigenden Unterdrückung der Palästinenser mitschuldig sind oder diese stillschweigend beobachtet haben". Vermeidet sie es, reale Klassenkämpfe zu schildern, aus Angst, ihr Mainstream-Publikum zu verprellen? Auf jeden Fall wird der Leser auf diesen Seiten nichts von Rooneys typischer Auseinandersetzung mit dem politischen Diskurs finden.
Was der Leser hingegen finden wird, ist ein tiefes Eintauchen in die Trauer, die Liebe und den Verlust, wie sie von den beiden Brüdern und in gewissem Maße auch von den weiblichen Nebenfiguren erlebt werden. Eine von Rooneys großen Stärken ist es, wie sehr sie ihre Charaktere ausschmücken kann, ohne vor problematischen, schmerzhaft realen oder schlichtweg langweiligen Momenten zurückzuschrecken - Rooney ist eine Meisterin der realistischen Literatur, die das Reale, das Greifbare, die Gedanken und Gefühle hinter alltäglichen Menschen transparent zu machen versteht. Sie verwendet dafür auch eine Abfolge von inneren Monologen in der dritten Person für Peter, Ivan und Margaret, die sich in einem klassischen Bewusstseinsstrom über die Seiten ergießen, einem nahtlosen Gedanken- und Redefluss (ohne Zeichensetzung). Peters Abschnitte sind dabei eher fragmentarisch und erinnern an das Porträt des Künstlers als junger Mann eines anderen irischen Autors, James Joyce. Wenn man Peters widerstreitenden, halbfertigen Gedanken und seiner verworrenen Syntax beiwohnt, kann es dann auch tatsächlich passieren sich geistig so erschöpft zu fühlen wie Peter und ich habe mich wie Peter dabei ertappt, nach einer Xanax greifen zu wollen. Ivans innere Welt ist dagegen unbeholfen und ernsthaft, er hinterfragt ständig sich und seine Umwelt, fragt sich, was "normale Menschen" tun würden, und hat immer wieder das Gefühl, dass er nur in seinem Kopf existiert und sein Körper nur eine notwendige Belastung ist (bis es natürlich zu körperlichen Beziehungen kommt: Sex, mit anderen Worten, von dem es reichlich zu lesen gibt, so wie man es in einem Rooney-Roman erwarten darf. Denn Rooney möchte, dass wir uns ganz in ihre Figuren hineinversetzen können, und hat einmal gesagt, dass ein "Zutritt verboten"-Schild an der Schlafzimmertür bedeuten würde, dass uns ein großer, wesentlicher Teil des Lebens ihrer Protagonisten verschlossen bliebe. Sie ist also fast verpflichtet, uns hineinzulassen, und schafft es, bemerkenswert explizit ohne dabei "schmutzig" zu sein, und fängt damit auf brillante Weise die Intimität zwischen den Figuren ein.) Sowohl Ivan als auch Margaret - mit ihrer ruhigen, liebenswürdigen, geerdeten Art und ihrer Aufmerksamkeit für stille Schönheit - sind leichter zu ertragen; man spürt ein Gefühl der Ruhe, und ihre Anteile in der Erzählung sind fast ein Balsam für Peters Chaos.
Rooneys Figuren sind nicht immer sympathisch, aber sie sind in der Regel sympathisch gezeichnet. Ich habe schnell Empathie für Ivan und Peter entwickelt und wollte unbedingt, dass sie einen Weg durch ihre Trauer und zueinander finden. Das Mitgefühl, mit dem Rooney diese kurze Zeitspanne in ihrem Leben einfängt, ist berührend, voller Menschlichkeit und letztlich herzerwärmend - das "Zwischenspiel" endet nicht wirklich; es gibt Optimismus, ein Gefühl, dass sich die Wolken verziehen, aber keine Auflösung als solche. Für jeden, der sich für das Innenleben der menschlichen Psyche, menschliche Beziehungen und die Komplexität des Umgangs mit Liebe und Trauer interessiert, ist dieses Buch ein Muss.