Grausam geschmeidiger Gespensterreigen
„It’s a sad an beautiful world.“
– Roberto in Jim Jarmuschs Down by Law
In ihrer Nobel-Preis-Lesung am 7. Dezember diesen Jahres, führte Han Kang nicht nur äußerst informativ in ihr Werk ein, sondern versuchte auch die prägenden Untertöne ihrer Romane seit dem ersten großen Erfolg, dem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Die Vegetarierin (2007) aufzuspüren. Sie fand vor allem zwei Fragen relevant: Warum ist die Welt so gewalttätig und voller Leid und warum ist die Welt dabei gleichzeitig so schön? Fragen, die sie in ihren Romanen immer wieder versucht habe zu beantworten. Doch mit ihrem bereits 2021 auf Koreanisch und nun auf Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch erschienenen Roman Unmöglicher Abschied sieht sie eine weitere, schon in ihren ersten Tagebuchaufzeichnungen als junges Mädchen im Jahr 1997 anklingende Komponente erzählerische Gestalt annehmen: Die Liebe. Das mag sich in diesem Satzgefüge kitschig anhören, doch liest man Kangs neuen Roman und geduldet sich bis zum Ende, wird deutlich, dass es natürlich alles andere als ein kitschiges Kleinmädchenmotiv ist, das Kang umtreibt.
Aufbau VerlagHan Kang | Unmöglicher Abschied | Aufbau Verlag | 315 Seiten | 24 EUR
Bis dahin geht sie jedoch erneut der schier unlösbaren Frage nach, wie die Welt so schön und so grausam zugleich sein kann. Einem Komplex, dem Kang wohl am markantesten und erschütterndsten in ihrem bereits 2014 erschienen Menschenwerk auf der Spur war, und in dem sie über den Gwangju-Aufstand und das daraus folgende Massaker im Mai 1980 erzählt, von den Lebenden und den Toten und den Gespenstern, die die Überlebenden und ihre Schuldgefühle noch Jahre später heimsuchen.
Kang leitet ihren neuen Roman mit eben dieser literarischen Spurensuche ein, die wiederum eine neue Spurensuche einleitet, denn erst dadurch finden zwei der drei Hauptpersonen – Hang Kangs Alter Ego Gyeongha und ihre alte Freundin Inseon – überhaupt wieder zusammen, und Gyeongha aus ihrer eigenen Lebenskrise wieder heraus. Dieses Wiedersehen ist jedoch kein typisches Freundinnentreffen, sondern vielmehr von einer massiven Schnittverletzung von Inseon überschattet, die Gyeongha im Krankenhaus nur deshalb so nüchtern betrachten kann, weil sie bereits ahnt und andeutet, dass diese Verletzung nicht nur mit Inseons künstlerischer Aufarbeitung eines Traums von Gyeongha und dem Massaker im Jahr 1980 zu tun hat, sondern mit einem weiteren lang verdrängten Kapitel koreanischer Geschichte, den dem Koreakrieg vorauseilenden Aufständen auf der Insel Jeju im Jahr 1948 und den umfangreichen Massenmorden, die sich bis in den Mai 1949 hinzogen. Eine Spur führt in die nächste, jedes Leid hat eine Fortsetzung.
Kang folgt der neuen Spur gnadenlos und zeigt in der so poetischen wie hyperrealen Winterreise von Gyeongha auf die Insel Jeju, dass Inseons Selbstverstümmelung auch ein verzweifelter Aufschrei durch Inseons Beschäftigung mit dem Leben ihrer Mutter ist, und der heilsame Versuch, mit einem mächtigen, transgenerationalen Trauma irgendwie ins Reine zu kommen und sei es mit der Hilfe ihrer langjährigen Freundin. Ob Inseon dabei tatsächlich anwesend ist oder weiterhin im Krankenhaus in Seoul liegt um, sich für einige Wochen alle drei Minuten in ihre offenen Wunden stechen zu lassen, damit der Wundfluss nicht gestoppt, die Hand nicht abstirbt und amputiert werden muss, bleibt offen. Es könnte also auch das gespenstische Alter Ego ihrer Freundin sein, das mit ihr Dokumente, Fotos und mündliche Aussagen der Mutter durchgeht, die zu einem neuen, vorher nicht bekannten Menschen wird.
Diese gespenstischen Begegnungen haben jedoch nichts mit den klassischen Elementen des magischen Realismus zu tun, sondern sind vielmehr der faktische Einstieg in die Welt der Toten und Gespenster, die über Inseons Mutter und ihre schriftlichen und mündlichen Protokolle zum Leben erweckt werden. Das ähnelt wie schon in Menschenwerk den bewusst nüchternen Methoden des dokumentarischen Theaters der 1960er Jahre eines Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt oder Peter Weiss. Denn so wie diese Autoren remixed auch Kang die unterschiedlichsten Quellen zu einem Ganzen, das markant über den reinen Informationsgehalt der betreffenden Wikipedia-Seite über den Jeju-Aufstand und die Folgen hinausweist. Das bedeutet allerdings auch, dass sich der Leser immer wieder gedulden muss und aus lauter Ungeduld vielleicht schon vorher die eben erwähnte Seite lesen wird. Das tut dem verstörend-soghaften Leseerlebnis jedoch keinen Abbruch, denn mehr als die Fakten, die Kang einer Zwiebel gleich Schicht für Schicht abträgt, wird wie beim Erreichen des Kerns der Zwiebel deutlich, dass die Wahrheit kein Ende hat. Mehr als die faktischen Wahrheiten, ist es vielmehr der Schmerz der Lebenden, dem ein Ende bereitet werden soll, ein Schmerz, der auch in Kangs winterlichem ersten Teil eindrücklicher ist als die nüchternen Beschreibungen der Tötungen. Und erheblich eindrücklicher sind auch die Nadelstiche, die Inseon erfahren muss oder ist es die winterliche Irrfahrt von Gyeongha, um dessen Leben der Leser ebenso fürchten muss wie um das Überleben eines sprachbegabten Papageien.
Gleichzeitig ist das Voranschreiten der Handlung bei Kang auch ein Statusbericht über das Buch, das hier geschrieben wird, wohnen wir einer Art „Work in progress“ bei, der Entstehung eines Romans, geboren aus einer tiefen Depression der Erzählerin, mit markant suizidalen Ausschlägen.
Dass es Kang gelingt, diese autofiktionalen Elemente derartig subtil in die politische Erzählung einzubinden und dabei natürlich auch klar zu machen, dass jede Politik immer auch privat ist, macht Kangs Roman zu einer besonderen Erfahrung mit universalem Charakter, weil er sich durch die private Ebene vom Topos der koreanischen Geschichte entkoppelt und zu einer Anleitung für jeden von uns wird, um mit den Gespenstern der Vergangenheit und der populistischen und so gefährlichen Politik von heute bewusster umzugehen.
Dazu gehört nicht nur, sich der Trauer zu stellen, die bei Kang wie in traditionellen buddhistischen Ritualen die Farbe Weiß trägt, und hier mit dem stets präsenten Schnee symbolisiert wird, sondern auch dem Sprechakt. Mit den Lebenden genauso wie mit den Toten, also all den Gespenstern um uns, die mit jedem Jahr, das wir leben, zahlreicher werden.
Doch mehr noch als das Eingeständnis der Trauer oder die in Kangs Nobelpreisrede abgewogenen Fragen, ob die Gegenwart die Vergangenheit retten kann oder umgekehrt und ob die Lebenden die Toten erlösen oder es die Toten sind, die die Lebenden retten, ist es vielmehr die eingangs erwähnte Liebe, die für Kang das Leben erträglich macht. Eine Liebe, die allerdings wenig mit dem zu tun hat, was wir der Liebe im Alltag zugestehen, sondern die bei aller Schönheit immer auch um den Schmerz weiß. Oder, um mit den Worten von Kang am Ende ihres so zärtlichen wie grausamen Romans zu sprechen, als die beiden Freundinnen sich so nah wie fern sind und sich dabei so klein wie die Welt und so groß wie allein fühlen und Kang zu einem letzten literarischen Momentum ausholt und zu einer Rezeptur greift, die vielleicht nicht alles, aber sehr viel erklärt:
„Dann streichelte sie meinen Kopf, meine Schultern und meinen Rücken. Ich erinnere mich, dass mich ihre überquellende Liebe durchdrang. Bis zur letzten Faser meines Herzens, was mir den Atem nahm … In diesem Augenblick verstand ich, welch furchtbarer Schmerz in der Liebe wohnt.“
Wem das zu viel "Säuselei" sein sollte, dem sei versichert, dass auch dieser Roman Kangs sich viel politischer lesen lässt, als es vielleicht den Anschein hat. Und welche politische Wirkung ihre Bücher trotz aller poetischen Zwischentöne und Metaebenen haben, ließ sich während der südkoreanischen Regierungs- und Demokratiekrise Anfang Dezember nachvollziehen. Denn im zweiten, letztendlich erfolgreichen Versuch eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Yoon Suk Yeo wurde niemand anders als Han Kang und ihre Auseinandersetzung mit dem Massaker von 1980 zitiert und klar gestellt, dass der Mai 1980 den Dezember 2024 möglich gemacht hat, die Toten also die Lebenden gerettet haben. Das dürfte genauso für die Toten von Kangs neuem Romans gelten.