Ein beliebter Klassiker als subversives Meisterwerk

Ein beliebter Klassiker als subversives Meisterwerk

Percival Everett erzählt Mark Twains Jugendroman Huckleberry Finn aus der Sicht des Sklaven Jim. – „James“ ist ein tragikomischer Roman über Rassismus, Identität, menschliche Abgründe und Freundschaft
Percival Everett
Bildunterschrift
Percival Everett

Dass Narren und Diener klüger sind als Könige und Herren, ist ein vielversprechendes Motiv in der Literatur und auf dem Theater. Schon Shakespeare hat mit dieser Prämisse komische Verwicklungen und aberwitzige Szenen geschrieben. 

Percival Everett | James | Hanser | 336 Seiten | 26 EUR   

Huckleberry Finn täuscht seinen eigenen Tod vor und reißt von zu Hause aus, weil er nicht länger von seinem brutalen, alkoholsüchtigen Vater gequält werden will. Der Sklave Jim ist geflohen, damit er nicht von seiner Familie getrennt und verkauft wird. Als sich die beiden zufällig treffen, beschließen sie, gemeinsam entlang des Mississippi in die Freiheit zu fliehen. Wobei der Sklave verdächtigt wird, den Jungen ermordet zu haben. So weit, so bekannt.

Generationen von Jugendlichen auf der ganzen Welt haben Mark Twains Geschichte gelesen und sich gewünscht, selbst auch Fische zu angeln, am Lagerfeuer zu grillen und in einem selbst gebauten Zelt zu übernachten. Außerdem haben sie sich gewünscht, noch viel mehr solche fesselnden Bücher zu lesen, bei denen sie ihren grauen Schulalltag vergessen konnten. Denn Huckleberry Finn ist spannend, kurzweilig und daher rasend schnell verschlungen.

Mark Twain | The Adventures of Huckleberry Finn | Penguin Clothbound Classics | 393 Seiten | 15,39 EUR

James Everetts Roman ist noch spannender und – zum Glück – länger und beim Lesen kommt man langsamer voran als gewöhnlich. Einfach weil einem die Augen vor Lachen tränen. Es ist umwerfend komisch, dass der gutmütige, unterwürfige, naive Sklave Jim nur eine Rolle ist, die James spielt, damit die Weißen sich nicht von ihm bedroht fühlen. In Wirklichkeit ist er ein selbstbewusster, kluger Mann, der Lesen und Schreiben kann und perfekt Englisch spricht. Auch die anderen Sklaven unterhalten sich fehlerfrei und kultiviert. Nur wenn Weiße zuhören, verfallen sie in primitives Kauderwelsch.

Je mehr man über das Leben und den Rassismus in den USA zu damaliger Zeit erfährt, desto häufiger muss man das Buch wieder sinken lassen. Diesmal nicht vor Lachen, sondern weil Mitgefühl und Wut einem Tränen in die Augen treiben. 
Für James ist Flucht die einzige Rettung. Wenn er geschnappt wird, wird er gelyncht, am nächsten Baum aufgehängt, oder beides. Für Huck ist die Flucht ein aufregendes Abenteuer. Wenn er geschnappt wird, muss er wieder nach Hause.

Doch James ist viel mehr als ein Roman über Freiheitsliebe, mörderischen Rassismus und die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem weißen Jungen und einem schwarzen Mann. Durch die Erlebnisse und Begegnungen mit Farmern, Händlern, Reisenden, Jägern und Sklaven entsteht ein leidvolles, gestochen scharfes Porträt der USA um die Zeit des Bürgerkriegs zwischen den Süd- und den Nordstaaten.

Als James und Huck zwei weiße Männer vor einem blutgierigen Lynchmob retten, geraten sie selbst in höchste Gefahr. Die beiden geben sich als europäische Adelige aus, ein englischer Herzog, sowie der leibhaftige König von Frankreich. Nebenbei agieren sie als Schauspieler, Wunderheiler, Ex-Piraten, Geschichtenerzähler... Alles, womit man Menschen unterhalten, blenden und manipulieren kann, um ihnen Geld aus der Tasche ziehen. Anstatt James und Huck dankbar zu sein, zwingen der vermeintliche Herzog und der vermeintliche König ihre Retter, bei den nächsten Betrügereien mitzuwirken.

Angesichts der fiesen Charaktere dieser beiden Schurken, als auch ihrer Opfer, die sich lieber betrügen lassen, anstatt selbst zu denken, drängt sich eine bestürzende Assoziation auf: Die USA des 19. Jahrhunderts zeigen Ähnlichkeiten zu dem Amerika von heute und zu ihren aktuellen politischen Entwicklungen. Doch das ist nur ein Motiv am Rande.

Das Hauptmotiv des Romans ist James‘ Schicksal und das seines jungen Freundes Huck. Wie Percival Everett ihre Geschichte zu Ende erzählt, ist gleichzeitig naheliegend, verblüffend, grandios und soll hier nicht verraten werden. 

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