Leonards Stadt

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Begegnungen mit Leonard Cohen in seinem Montreal
Jonathan Garfinkel
Bildunterschrift
Jonathan Garfinkel

Ich wuchs in einem Mittelklasse-Familie in der konservativen Stadt Toronto auf. Wie jeder literaturbegeisterte kanadische Jude einer gewissen Generation war Leonard Cohen alles, was ich bewunderte: Dichter, reisender Romantiker, Bewohner des "Tower of Song". Leonard stammte aus Montreal, jener französischsprachigen Stadt 500 Kilometer weiter östlich, einem Ort, der viel cooler und künstlerischer war als das geschäftsorientierte, anglophone Toronto. Als ich 1991 im Alter von achtzehn Jahren endlich mein Zuhause verließ, folgte ich Leonards Spuren und ging auf die Universität McGill in der Innenstadt von Montreal. Ich zog in Leonards Stadt.

Jonathan Garfinkel ist ein preisgekrönter kanadischer Autor, dessen Werke in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden. Sein Roman In einem Land ohne Hunde lernen die Katzen zu bellen (House of Anansi Press, 2023), wurde auf Deutsch als Platz der Freiheit bei Rowohlt Berlin veröffentlicht. Garfinkel promoviert derzeit im Bereich Health Humanities an der University of Alberta, wo er an seinen Memoiren über das Leben mit Typ-1-Diabetes und dem revolutionären Open-Source-System Loop Artificial Pancreas arbeitet. Er lebt in Berlin.

Im Gegensatz zu Leonard, der Literatur studiert hatte, schrieb ich mich für Naturwissenschaften ein - Physik, um genau zu sein (meine Eltern wollten, dass ich Arzt werde). In meiner ersten Uni-Woche drückte mir auf einer Party jemand eine Tüte Psilocybin-Pilze in die Hand. Ich hatte zuvor noch nie Pilze probiert. Später, nachts in meinem Zimmer im Wohnheim, nahm ich welche und landete auf dem sagenumwobenen Mount Royal. 
Der Mont Royal ist nicht wirklich ein Berg, aber jeder nennt ihn "den Berg". Er ist die Seele der Stadt Montreal. Nachts leuchtet auf seiner Spitze ein riesiges, dreißig Meter hohes Kreuz. Auch ist er – für das Zentrum einer Großstadt beeindruckend – ein weitläufiger Park mit vielen Wanderwegen und naturnahen Wäldern. Ein Ort, an dem man sich verlieren kann. 
In dieser Nacht der Pilze streifte ich durch die Wälder und kletterte abseits der Wege auf den Berg. Ich hangelte mich an den Ästen von Laubbäumen über zerklüftete Felsen hinauf. Als ich den Gipfel erreichte, rutschte meine Hand an einem Ast ab. Ein Dorn bohrte sich in meine Haut, sodass ich blutete. Ich geriet in Panik und hörte eine Stimme. 
"Mach dir keine Sorgen wegen des Blutes. Es ist dein Band." 
Ich glaubte, es sei eine Stimme aus dem Universum. Auch klang sie sehr nach Leonard. 
"Mein Band zu was?", fragte ich. 
Die Stimme sagte: "Alles im Universum ist bewusst. Alles ist voller Magie und Bedeutung und befindet sich in einem Zustand, in dem es diese Magie und Bedeutung ausdrückt. Wie drückst du deine aus?" 
Just in diesem Moment war ich unter dem Kreuz angekommen. Die Lichter wurden stärker und strahlten auf diese seltsam schöne Stadt. Das Bluten hatte nicht aufgehört. 
Ich sagte: "Das einzige, was ich kann, ist schreiben." 
"Dann schreib", erwiderte die Stimme. 
Am nächsten Tag brach ich mein Physikstudium ab und wurde Schriftsteller. Ich hatte keine Ahnung vom Schreiben. Ich wusste nicht, was es bedeutete, Schriftsteller zu sein - nur, dass ich mich hinsetzen und etwas schreiben musste. Also tat ich es. Irgendwie bin ich dabei geblieben. Das Schreiben ist vielleicht das Einzige, dem ich in meinem Leben treu geblieben bin. Es begann in Montreal mit dieser Stimme. Mit Leonard. Und immer noch habe ich diese Narbe an meiner rechten Hand.

~

Fünfzehn Jahre danach lebte ich nicht mehr in Montreal. Aber wann immer ich zu Besuch war - und das war oft - ging ich zum Parc Portugal. Immer dachte ich dabei an ihn. Allen war bekannt, dass Leonard das Haus mit den grauen Steinen an der Ecke des Parks in der Rue Marie-Anne gehörte, obwohl er nur selten dort wohnte. Jedes Mal, wenn ich durch das Viertel Plateau ging, um bei Schwartz's Geräuchertes zu kaufen oder im Double Deuce etwas zu trinken, ging ich daran vorbei. Ich ging in der Hoffnung dorthin, ihn zu treffen. Erwartet habe ich es gar nicht, allein der Weg dorthin war schon eine Art Meditation, ein Ritual der Anerkennung, eine Beschwörung der Musengeister.
Dann, an einem Sommertag 2006, saß er plötzlich im Parc Portugal allein auf einer Bank. Es war ein heißer Tag im Juli – am 1. Juli, dem kanadischen Nationalfeiertag. Er trug einen schwarzen Anzug, eine Fischermütze und eine Sonnenbrille. Ohne nachzudenken, setzte ich mich neben ihn. 
Ich sagte: "Hallo, Leonard." 
Er sagte: "Hallo, Freund." 
Er war nicht überrascht. Ich schon. Unglaublich präsent war er. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es hatte mich so viel Mut gekostet, mich neben ihn zu setzen. Also sagte ich das Einzige, das mir in den Sinn kam. Ich stellte mich vor und bedankte mich. Sagte ihm, wie dankbar ich für alles sei, was er für so viele von uns getan hatte und dass er mich dazu gebracht hatte, Schriftsteller zu werden. 
Nickend fragte er: "Und was machen Sie?" 
"Ich bin Dichter", erwiderte ich. Mein erstes Buch war gerade in diesem Frühjahr veröffentlicht worden, worauf ich stolz war. 
"Das ist wirklich cool", sagte er, als wäre ich der erste Dichter, den er je kennengelernt hatte.
Leonard hatte etwas wenig Einladendes an sich. Er klang wie ein cooler Jazzmusiker, dabei aber auch sehr wie mein Großvater. 
Dann fuhr er fort: "Ich würde Ihre Gedichte gern lesen."
Ich versprach ihm ein Exemplar des Buches zu schicken. Er bedankte sich. Unsere Blicke richteten sich auf die Stadt. In der Ferne konnte man über den schiefen Dächern die Bergspitze erkennen. Wir sprachen über das Wetter und was für ein schöner Sommertag es sei. Es war gerade Fußballweltmeisterschaft. Er fragte, ob ich sie mir ansehe. Ich gestand, dass dem nicht so sei und fragte, ob er für immer nach Montreal zurückgekehrt sei. – Es war zu der Zeit, als Leonard herausgefunden hatte, dass ihn sein Manager bestohlen hatte. Er war bankrott. Schließlich meinte er, er liebe Montreal, aber die Winter seien zu hart für seine Knochen. Dann schwiegen wir. 
Ich bedankte mich und ging meiner Wege. Bald schickte ich Leonard mein Buch. Sechs Monate später erhielt ich eine Postkarte aus Kalkutta, Indien. Er schrieb: "Danke für Ihren schönen Gedichtband. L. Cohen." 
Ich hatte das Gefühl, einem Engel, meinem Großvater und dem coolsten Mann im Universum begegnet zu sein. Wann immer ich mich in dieser gewalttätigen und beängstigenden Welt verloren fühle, denke ich gern an diese Begegnung. Ich denke an seine Klarheit, Freundlichkeit und Vernunft. Wenn ich meine Stimme verloren glaube, rufe ich mir seine ins Gedächtnis, seinen Anmut und seinen Stil. Ich denke auch gern an seine elegante Haltung. Und gehe wieder in die Rue Marie-Anne und zu dem Berg, wo alles seinen Anfang nahm.