Flüchtiges Flanieren

Bushra Khalfan ist eine aus dem Oman stammende Kurzgeschichten- und Romanautorin, Dichterin, Essayistin und Kulturaktivistin. Sie hat vier Kurzgeschichtensammlungen und drei Romane sowie weitere literarische Texte veröffentlicht. Ihr zweiter Roman, Dilshad, gewann 2022 den Katara-Preis, nachdem er im selben Jahr für die Shortlist des Arab International Fiction Award nominiert worden war.
Ich möchte Sie heute Abend mit nach Maskat nehmen. Nein: nicht das Maskat, das Sie wie jeder Ausländer kennen - den schummrigen Markt von Muttrah, die überfüllten Einkaufszentren von Al Qurum und die Ministerialstraße, die Sie zweimal täglich auf dem Weg zu Ihrem Büro im dritten Stock dieses entstellten, festungsähnlichen Gebäudes entlanglaufen, das so wie die gesamte Architektur dieser Gegend eine ewige Reinkarnation eines einzigen Patterns ist, als hätten die Omanis nie ein anderes gekannt.
Nein, heute Abend nehme ich Sie mit in mein Maskat, meine Heimat. Und ich werde keinesfalls behaupten, dass diese Heimat nur meine Heimat ist; nein, ich habe sie mit anderen geteilt, mit jenen, die Sie auch gekannt haben und die einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses sind. Ich werde Sie dahin mitnehmen, um meine ersten Schritte an einem Ort noch besser nachzuvollziehen zu können, den die räumliche und zeitliche Distanz in ein Geheimnis der besonderen Art verwandelt hat - ein Geheimnis, das mit verlassenen und abgelegenen Orten verbunden ist, die auch die Grundlage des Wesens sind, das ich geworden bin. Ohne die Bedeutung anderer Orte zu leugnen, sind diese späteren Orte in meiner Erinnerung dann doch weniger intim und strahlend.
Schnallen Sie sich also gut an, denn wir werden in meinem von Hitze, Feuchtigkeit und Zeit zerfressenen Auto zu einer Reise durch Zeit und Raum aufbrechen. Aber denken Sie daran: Diejenige, die neben Ihnen sitzt, ist nichts anderes als eine Abenteurerin, die versucht, den Faden des Schmerzes zurückzuverfolgen, der ihre gesamte Existenz um eine Idee herum verzwirbelt hat.
Heute Abend nehme ich Sie mit nach Maskat, und lassen Sie uns für einen Moment einfach so tun, als würden wir einen Film anschauen. Ich werde ihn mit dem untertiteln, was in meinem Gedächtnis übrig geblieben ist, und Sie werden ihn mit dem Interesse eines Fremden sehen, der sonst nur die Oberfläche einer Stadt wahrnimmt, ohne sich jemals die Mühe zu machen, ihre staubigen Winkel und engen Gassen zu durchsuchen - jene verborgenen Orte, die das Schicksal so vieler Menschen geprägt haben, und die heute nur mehr ein Schatten vergangener Zeiten und fast ausgelöscht sind.
Ich muss Ihnen beichten, dass Sie wohl eine ganze Stunde lang nur die Erinnerung an ein verschwundenes Wesen erdulden müssen, das versucht, seine Auslöschung mit Talismanen und der verzweifelten Sehnsucht nach der unschuldigen Vergangenheit eines Ortes abzuwehren. Ein Ort, dessen grausame Transformation ein schuldhaftes Zeugnis der Auslöschungsversuche ist, die auf die eigentlichen Wurzeln dessen, was einmal schön war, ausgeübt werden.
Schnallen Sie sich an und vertrauen Sie der Erinnerung, die ich Ihnen hiermit völlig hemmungslos übergebe. Los geht's.
Wir werden Maskat durch sein Westtor betreten, nachdem wir entlang der Muttrah-Achse gefahren sind, die den schmalen Pfad ersetzt hat, der sich am Fuß des Berges entlang schlängelte. Ja, genau hier, zu Ihrer Rechten. Sehen Sie sich den Weg an, der im Schatten schlummert und hinter Palmen und grünem Dickicht verborgen ist. Ja, genau dort: Dieser Pfad war der Pfad meiner Kindheit. Auf ihm bin ich nach Muttrah und darüber hinaus spaziert, nachdem ich den Reyam-Hügel hinuntergeklettert war - den wir gleich erklimmen werden. Wir werden jedoch die gewundene Straße, die wir nehmen sollen, ignorieren, diesen verlogenen Zugang, der allein durch die nagenden und korrumpierenden Zahn der Geschichte und die Unfähigkeit zur Innovation geformt wurde.
Wir werden Aqabat Reyam hinaufsteigen und dabei das alte Viertel durchqueren, in dem die Seeleute und Sklaven lebten und das heute in den östlichen Teil dieses Parks, den Sie auf Ihrer linken Seite sehen, umgewandelt wurde. Sie kennen es wahrscheinlich durch das hässliche Weihrauchfass, das auf dem Hügel platziert wurde und dessen Zweck niemand wirklich versteht.
Wir gehen jetzt also nach oben. Wenn Sie Angst vor der Dunkelheit haben, wenn Sie von Geschichten über fliegende Hexen heimgesucht werden, die Kinder auf eisernen Spießen, in verborgenen Sümpfen und in den Tiefen unergründlicher Täler rösten, oder wenn Sie Orte fürchten, die allein von den Wehklagen der Abwesenden durchwindet werden, dann schauen Sie niemals nach unten. Schauen Sie immer nach vorne. Mein Auto wird die Spur schon halten können. Wir werden langsam, aber sicher die Steigung bewältigen, keine Angst. Ich kenne diesen Weg, so wie ich die Windungen einer Seele kenne, die durch die übermäßige Anpassung an eine Moderne, die sich einfach zu schnell in die Zukunft bewegt, geschunden wurde.
Wir werden noch ein Stückchen hinauf hinauffahren und dann ein wenig Musik auflegen, das stört mich überhaupt nicht; ein wenig Musik in der Stille der Nacht wird uns nicht schaden, vor allem, wenn es eine Musik ist, die die Szene, die wir gleich sehen werden, feierlich grundiert,.
Ja, das ist tatsächlich Maskat, zusammengekauert in nächtlichen Stille, einsam und zufrieden mit den schwachen Lichtern, die auf die Leere hinweisen, die sich hinter verlassenen Mauern breit gemacht hat. Um genauer zu sein: Nicht völlig verlassen, aber auf dem besten Weg, verlassen zu werden. Schau dorthin, ganz im Osten, nein, nicht dort, wo sich die Dunkelheit über die Berge legt, sondern ein wenig weiter rechts, wo sporadisch Lichter über den schwarzen Horizont schimmern. Diese Lichter, mein Freund, sind die Lichter der Baukräne, die die neuen Paläste bauen, die Maskat bald einnehmen werden, damit die doch doch verwurzelte Stadt noch verwurzelter wird und sich noch weiter von der Erinnerung an das Wesen entfernt das hier einst geboren wurde, sich hier niederließ und nun der fernen Verlängerung von Zeit und Raum zurückgelassen worden ist.
Wir werden jetzt die Treppen hinuntergehen und uns ein wenig in den Gassen der verschlafenen und geschichtslosen Viertel von Maskat verlieren. Ich nehme Sie mit in unser kleines Viertel, das zwischen den Banyanfeldern und dem kleinen Tal liegt, wo ich das Vergnügen hatte, barfuß über die staubigen Straßen zu laufen, und wo ich meine erste Freundschaft mit den Schafen auf dem felsigen Hang im Norden des Viertels geschlossen habe, Felsen, die meine Beine, Hände und meine Seele markiert haben.
Diese Berge ändern sich nicht; Sie mögen sie jetzt in der Dunkelheit nicht klar sehen, aber ich sehe sie ganz deutlich, ich kenne die Verzahnungen und Schluchten, ich kenne die kleinen Lücken, in die ich meine kindlichen Füße steckte und mir vorsichtig den Weg nach oben ertastete. Ich kenne die verwunschenen Stellen in den Höhlen, die ausreichten, um in mir die wilde Fantasie eines Kindes zu wecken, und ich kann sogar - in dieser Dunkelheit - sagen, wo ich den Riyal versteckte, den ich an einem Eid-Tag von meinem Onkel Mubarak erhielt, der, ohne dass ich es gleich merkte, von den Schayahs gegessen wurde, denen der Kummer, die ihre Tat mir bereitete, gleichgültig war, und die mich danach viele Tage lang daran hinderte, überhaupt noch mit ihnen zu spielen.
Sehen Sie diese Gebäude? Ich meine das zu meiner Rechten; es war das Haus meines Großvaters mütterlicherseits, ein großes Haus, als es aus meiner Kindheit verschwand, ein riesiges und schönes Haus, das einst viele kleine Schritte und Tiere beherbergte und später zu einem Preis verkauft wurde, der ausreichte, um ein Haus weit weg zu kaufen, an einem Ort, wo wir keine Nachbarn hatten.
"Bagh" bedeutet in der indischen Sprache Garten oder Bauernhof und wird "bighisha" ausgesprochen, aber da wir es gewohnt waren, ein Teil unseres Wortschatzes von Indern oder anderen Leuten zu übernehmen, verzerrten wir es nach Gutdünken, machten uns mit dem Fremden vertraut, sodass es Teil unseres täglichen Wortschatzes wurde.
Ja, hier arbeitete mein Großvater, wo ich oft die Früchte seiner Arbeit stibitzte. Da ist der Lamba-Baum, auf den ich kletterte, um seine grünen, sauren Früchte zu stehlen, der sich dann schüttelte und mich mich zu Boden warf, wo ich der Erde und dem Blut meiner Wunde aufgefangen wurde, die dann zu einer Narbe geworden ist, die ich jedes Mal spüre, wenn ich mich für einen Fehler schäme, den ich begangen habe. Wir werden jetzt aus meinem Viertel herausfahren, aber schauen Sie bitte vorher nach links in der Kurve, die wir nehmen, da sehen Sie das Viertel von Zadjal. Ich habe in Zadjal l und in seinen engen Gassen gespielt und mich in den farbenfrohen Gewändern der Belutschen versteckt, die mit kleinen gedrehten Zweigen verziert sind und Rosen an den Blattspitzen und Rändern und und auch an dem Rechteck, das an der Spitze in einem spitzen Dreieck endet, in dem die Belutschen Süßigkeiten, Geld und andere Dinge zu verstecken pflegen.
Gleich nach der Kurve "sitzt" das Haus von "Ma Salama" zwischen dem Berghang und der Straße, erhöht auf Steinsockeln; die Tür ist blau und das Haus besteht auch nicht mehr als dem Zimmer des Hausbesitzers, das mit allen möglichen Farben, Stoffen und Möbeln dekoriert ist. "Ma Salama", wo Frauen Märchen erzählten, denen wir anfangs noch schüchtern und dann, als wir älter wurden, immer selbstbewusster und neugieriger lauschten.
Diese Märchen handelten etwa davon, dass die Hausbesitzerin die Geliebte eines Flaschengeistes ist, der sich für sie schön kleidet und ihr Henna in die Handflächen und Füße ritzt, damit er endlich bei ihr ein und sie in einer vierzig Tage langen Zeremonie heiraten kann.
Das Viertel, in dem ich geboren wurde und das ich in meiner frühen Kindheit mit meinen kleinen Schritten durchzog und in das ich mit kürzeren Schritten zurückkehrte, nachdem ich es verlassen und begonnen hatte, neue Bürgersteige zu suchen, auf denen ich Erinnerungen ablegen konnte, umarmte mich nicht lange, sondern warf gleich wieder hinaus, an einen seltsamen Ort, der von meinem Viertel und anderen Vierteln meiner Erinnerung durch eine hohe Mauer mit mehreren Toren getrennt war. An den Toren standen Wachen mit alten Gewehren, mit denen sie den Leuten drohten und in Schrecken versetzten.
Innerhalb dieser Mauern begann die erste Entfremdung, oder vielleicht war es die erste Entfremdung, die mich von meiner Heimatstadt und von mir selbst entfernte. Innerhalb dieser Mauern habe ich neue Menschen kennengelernt, die ich nicht mehr mit Verwandtschaftsattributen bezeichne; Marzouk ist nicht Onkel Marzouk und Naima ist nicht Tante Naima; sie sind Marzouk und Naima, und ich weiß dabei gar nicht einmal, ob die fehlende Verwandtschaft daher kommt, dass wir uns in der Hautfarbe nicht ähnlich sind. Oder liegt es an der räumlichen Entfernung des Viertels, das voller Tanten, Onkel und Großeltern war, ob sie nun nahe oder weit entfernt verwandt waren?
Innerhalb dieser Mauern gab es eine seltsame Mischung von Menschen. Es gab Banyan-Händler, Ausländer und Frauen aus dem südlicheren Regionen die Kleider mit langen Schwänzen trugen, die den Boden ihrer Häuser mit roten Teppichen fegten und ihre Gesichter mit einer weißen Tinktur verzierten, die an die Noura erinnerte, mit der die Häuser in Maskat gefärbt werden, um sie vor der blendenden Sonne zu schützen. Das waren manchmal sehr seltsame Häuser, die in ihrer Höhe und ihrer Nähe zueinander und ihrer Position im Verhältnis zum Palast überraschend variierten.
Innerhalb dieser Mauern - die Maskat von sich selbst entfremdete und und unter der Herrschaft der Mirani und Jalali sogar die Strände des nahen Meeres den Bewohnern vorenthielt, die für Kinder und Fischer gleichdermaßen verboten waren und die ihre tägliche Nahrung und den Fisch für das Mittagessen nun an weiter entfernten Stränden suchen mussten - innerhalb dieser Mauern also begannen Albträume das Kind zu verfolgen, und das Kind unternahm seine ersten Fluchtversuche, Fluchten, die es dazu brachte, die Gassen des alten Maskat und seine Viertel zu entdecken, und die Albträume durch Bellen streunender Hunde und die Geistern von Frauen, die Rauch aus ihren langen Großvaterstöcken spuckten und seltsame Männern und Kinder, die mit Steinen nach ihm warfen, eine ganz neue Gestalt erhielten.
Ich werde Sie heute Abend nicht noch in meine andere Heimatstadt mitnehmen, ich werde Ihnen und mir diese elende Erinnerung einfach ersparen; ich werde Sie schnell von hier wegbringen und wir werden zurückkommen, um die Geschichte dann in einer anderen Nacht fortzusetzen.
Jetzt bitte ich Sie um Verzeihung, weil ich nun Ruhe, weil ich Stille brauche; denn das mit diesen Bildern, Fantasien und Erinnerungen beladene Maskat, das ich jeden Abend betrete, kann ich nur in Stille verlassen.
Es ist der Ort, an dem ich mich am liebsten für immer bleiben würde.