Dieu Merci!

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Dieu Merci!

Eine kamerunische Geschichte aus der Schweiz
Melara Mvogdobo
Bildunterschrift
Melara Mvogdobo

Es ist Sommer im globalen Norden und Winter im globalen Süden. Grund genug, im August auf Literatur.Review Sommer und Winter zusammenzuführen und bislang unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt zu veröffentlichen.

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. Neben ihren schriftstellerischen Arbeiten unterrichtete sie traumatisierte Jugendliche, leitete Workshops über Textilkunsthandwerk und tropische Küche. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien ihr erster Roman »Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden« (Edition 8, Zürich). Ihr zweiter Roman, »Großmütter«, erschien auf Deutsch 2025 im Transit Verlag.

Heute ist es auf den Tag zwei Jahre her, seit ich von Kamerun in die Schweiz gekommen bin.
Vielleicht liegt es daran, dass ich heute etwas nachdenklich bin?
Durch die angelehnte Balkontür schaue ich Malcom zu.
Die blasse Wintersonne scheint ihm ins Gesicht. Er telefoniert. Laut und heftig gestikulierend. Schweiss rinnt über sein Gesicht. Dieser Mann schwitzte einfach immer. Egal, zu welcher Jahreszeit.
Ein paar Wortfetzen Lingala dringen an mein Ohr. Einiges kann ich verstehen, nach den zwei Jahren mit ihm.
Obwohl, dass ich ihm zuschaue, ist nicht ganz richtig. Ehrlicher wäre, zu sagen, dass ich ihn beobachte, mustere, taxiere und dabei versuche, Bilanz zu ziehen.
Ich bin ihm zu Dank verpflichtet.
In gewisser Weise.
Malcom ist kein Wohltäter.
Bestimmt nicht.
Das sind kongolesische Männer selten. Nicht, dass Kameruner besser wären.
Anders vielleicht. Aber nicht besser.
Aber eins ist sicher, ich könnte es schlimmer getroffen haben. Viel schlimmer.
Auf dem Sofa hinter mir höre ich das Baby. Es macht diese kleinen Geräusche, die Babys oft machen, wenn sie schlafen.
Es ist drei Monate alt und es ist meins.
Meins und seins.
Er wollte, dass es Gilbert heisst, so wie sein Vater. Ich hatte nichts dagegen. Aber im Spital, kurz nach dem ich den Jungen aus mir raus gepresst hatte, (was für eine elende Qual!) da habe ich noch einen anderen Namen auf das Formular geschrieben.
Dieu Merci!
Nun heisst er Gilbert Dieu Merci.
Und ich meine es genauso.
Dieu Merci. Gottseidank!
Gottseidank, dass dieses Kind geboren wurde!
Mein Sohn. Wie fremd sich diese Worte noch immer anfühlen.
In meinem Mund. In meinem Herzen.
Noch passender wäre gewesen, wenn ich ihn «tu m'as sauvé» (1) genannt hätte.
Aber so offensichtlich wollte ich es seinem Vater nicht unter die Nase reiben.

(1) du hast mich gerettet

Noch wahren Malcom und ich mehr oder weniger den Schein. Tun so, als ob alles Zufall, eine unvorhergesehene, überraschende Wende des Lebens sei.
Doch wir wissen es beide. Auf den kleinen, schmalen Schultern dieses Kindes, auf dessen Stirn noch immer der weiche Flaum des Neugeborenen zu sehen ist, ruht ein schweres Gewicht.
Ein Junge, geboren, um zusammenzuhalten, was auseinanderzubrechen droht.
Brüchig und fragil ist das Gefüge, das seine Eltern zusammengeführt hat und sie nun am berüchtigten, seidenen Faden in der Schwebe hält.
Brüchig und fragil deshalb, weil, wie mir scheint, das Glück wie eine Hure, nur denen lächelt, die dafür bezahlen können.

(2) für die Papiere

Es ist die ewig selbe Geschichte. Ein Afrikaner in Europa. Zuerst die weisse Ehefrau pour les papiers (2).
Dann, wenn die langersehnten Papiere endlich da sind, steigt der Afrikaner sofort in eine andere Liga auf.
Er ist jetzt ein Afrikaner MIT Papieren!
Nicht mehr vom oft unbeständigen Wohlwollen einer Frau abhängig.
Er ist in Europa angekommen.
Wenn er dann stolz und bestens gelaunt für Ferien zurück in sein Land fliegt, wird er wie ein Star behandelt. Die Frauen sind hinter ihm her, wie Mücken hinter süssem Blut.
Nicht nur die Frauen.
Freunde, Familie, Strassenhändler, Taxichauffeure, die Kinder im Quartier.
Alle wollen ein Stück vom europäischen Zuckerkuchen.
Alle wollen sie sein Geld.
Das falsche Lächeln der Kindheitsfreunde entblösst viel zu viele Zähne, während sie viel zu oft und übertrieben fröhlich auf seine Schultern klopfen.
Sie nennen ihn jetzt le roi des Mbenguistes (3).

(3) König der Auswanderer, Mbenguiste, jemand, der im reichen (weissen) Ausland lebt 

Mon frère, du bist mein bester Freund. Das warst du schon immer. Weisst du noch, wie wir früher…
Ich habe an dich geglaubt, mon frère. Nie daran gezweifelt, dass, du es schaffen würdest. Weisst du noch, als wir…
Und dann…
J’ai une petite situation. Ich habe da eine kleine Situation. Kaum der Rede wert. Für dich nichts als eine Kleinigkeit, mon ami.
Jetzt, wo du es geschafft hast.
Jetzt, wo du in Europa lebst.
Jetzt, wo du ein Mbenguiste bist mit dem Geld der blancs auf deinem Bankkonto.
Vergiss nicht, woher du kommst, mon frère. Vergiss diejenigen, die du zurückgelassen hast nicht.
Diejenigen, die für dich gebetet haben.
Hilf deinem besten Freund, grand frère.

Spätestens jetzt wird es für den Heimgekehrten auf Zeit eng. Er überschlägt in Gedanken das übriggebliebene Geld in seinen Taschen und weiss bereits, dass es nicht reichen wird, um sie alle zufrieden zu stellen.
Kurz blitzt vor seinem inneren Auge das Bild seines hämisch grinsenden, Schweizer Briefkastens auf, aus dessen Schlitz die unbezahlten Rechnungen quellen.
Beinahe wird ihm schlecht.
Doch dafür ist nicht genug Zeit.
Schon wieder klopfen irgendwelche Hände ehrerbietig und um Aufmerksamkeit heischend auf seine Schultern.
Also leert der heimgekehrte Afrikaner mit Papier, le roi des Mbenguistes, sein Glas, lacht in die Runde und ruft laut: Schnell, schnell! Eine neue Flasche Whisky für meine Brüder!

Wieder zurück irgendwo, in einem der reichen Länder, die Leute wie ihn bitternötig brauchen, es sich aber nur ungern eingestehen, holt ihn die Realität blitzschnell aus dem Jubel der vergangenen Wochen in der Heimat zurück. Lässt ihn, ohne Gnade oder das geringste Quäntchen an Geduld ungebremst und hart auf den Boden der Tatsachen klatschen.
Der hämisch grinsende Schweizer Briefkasten, der ihn sogar in Kinshasa oder Yaoundé oder in irgendeiner anderen, niemals schlafenden Stadt Afrikas während eines nicht endenden Tanzes im Morgengrauen heimgesucht hatte, hat gesiegt.
Der Afrikaner mit Papieren sitzt nun vor einem Stapel Briefen.
Mit Miete, Krankenkasse und Alimenten Zahlungen für seine zwei Schweizer Kinder ist er hoffnungslos in Verzug.
Le roi des Mbenguistes, der sich nun alles andere als königlich fühlt, fragt sich, welcher Teufel ihn in den letzten Wochen bloss geritten haben mochte.

(4) Schadenszauber

Fragt sich vielleicht sogar, ob alles mit rechten Dingen von statten gegangen war.
Oder ob da nicht der eine oder andere Verwandte, die eine oder andere Bettgespielin Sorcellerie (4) angewandt haben mochte, um ihm das Geld aus den Taschen zu ziehen.
Doch da die ganze Grübelei nicht viel bringt, erst recht kein Geld, lässt er sie schon bald sein.
Schliesslich lebt man nur einmal! muntert er sich auf.
Ein bisschen Freude muss sein. Nach all dem Tellerwaschen und Toilettenreinigen.
Er hatte es verdient, sich einmal richtig zu amüsieren.
Und bei Gott, das hatte er getan! Und wie!
Dieu va aider! (5) Schliesslich hatte er ihm ja bereits mit der Schweizerin und den Papieren geholfen.
Gott würde ihm das nötige Geld schon schicken, um all die Rechnungen zu bezahlen.
Auf die eine oder andere Weise.

(5) Gott wird helfen

Malcom fand die ersehnte Hilfe in der Nähe des Western Union Schalters am Hauptbahnhof Zürich, als ihn der Zufall oder Gottes Wille den Weg meiner Mutter kreuzen liess.
Sie bat ihn mit Gesten um einen Kugelschreiber, während sie ihr Handy mit der Schulter ans Ohr presste und sich lautstark unterhielt.

Der Name einer entfernten Kusine in Yaoundé, deren Geist nach Mbenguistes Geld hungerte, musste auf die Rückseite eines alten Kassenbons notiert werden.

Meine Mutter hatte schon immer ein gutes Händchen für Geschäfte.
Dieses besondere Gespür für Menschen in Bedrängnis und die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, hatten ihr schon oft dabei geholfen, ihre eigene Haut zu retten.
Und so war es schon bald eine abgemachte Sache.
Malcom würde nach Yaoundé fliegen, und die Tochter seiner neugewonnenen Freundin heiraten.
Natürlich kam meine Mutter für seine Reise auf.
Am Zürcher Flughafen, kurz vor der Schranke zum Security Check, wechselte ein Umschlag mit viertausend Schweizer Franken den Besitzer.
Weitere fünftausend Franken erhielt Malcom per Western Union, nachdem die Familienangehörigen meiner Mutter in Yaoundé die Heirat bestätigt und die fotografierten Ehedokumente etwas unscharf zwar, aber durchaus leserlich über WhatsApp den amtlichen Beweis geliefert hatten.
Meine Mutter und Malcom hatten sich für die Eheschliessung und die darauffolgende Prozedur der Ehepartner Zusammenführung in der Schweiz auf einen Gesamtpreis von vierundzwanzigtausend Franken geeinigt.
Die restlichen sechzehntausend würde meine Mutter in monatlichen Raten von sechshundertfünzig Franken abstottern.

(6) die Misere von Kamerun, oft fatalistisch benutzter Ausdruck in Kamerun 

So kam es, dass Malcom der Kongolese aus Kinshasa nach Yaoundé flog und mein Bräutigam wurde.
Mein Retter aus la misère du Camer (6).
Geschenk meiner Mutter. Direkt an die Tür geliefert.
Vielleicht als Wiedergutmachung dafür, dass sie uns Kinder in Kamerun zurückgelassen hat und viele Jahre nichts mehr von sich hören liess?

(7) kleiner Tropfen 

Ich schrecke aus meinen Gedanken auf.
Mein Telefon vibriert auf dem Salontisch aus Glas. Wie eine wütende Schmeissfliege.
Es ist mein Bruder, Petite Goutte (7).
Eigentlich heisst er Blaise. Aber wir nennen ihn alle schon seit immer Petite Goutte.
Er braucht Geld.
Wie meistens, wenn er sich meldet.
Er bringt nichts auf die Reihe. Das Einzige, was er wirklich gut kann, ist zu versagen. Sich von einem Problem zum nächsten zu saufen und zu vögeln und mich dann um Geld anbetteln.
Darin ist er unschlagbar.
Schon wieder ist eine Frau von ihm schwanger.
Er ist erst dreiundzwanzig Jahre alt.
Aber anscheinend reichen ihm die drei Bälger, die er bereits mit drei verschiedenen Frauen gezeugt hat, nicht.
Petite Goutte liebt ältere Frauen.

Findet in ihren Armen wohl für einen kurzen Augenblick die Mutter, die er nie hatte.
Doch dieses Mal ist er tatsächlich in Bedrängnis. Grande soeur, du musst mir helfen! Wenn unser Vater erfährt, dass ich schon wieder eine Frau geschwängert habe, prügelt er mich tot und wirft mich danach aus dem Haus. Genau in dieser Reihenfolge.
Sie will Geld für die Abtreibung. Sonst geht sie zu Vater.
Bitte, grande soeur, lass mich nicht im Stich. Ich bin dein Bruder.
Wieder erklingt das enervierende Vibrieren auf dem Glastisch. Heute ist er hartnäckig.
Am liebsten würde ich das Telefon aus dem Fenster schmeissen. Oder über das Balkongeländer mitsamt meinem schwitzenden und händeringenden Ehemann.

Sie stören mich beim Nachdenken.
Das Schmeissfliegentelefon und der laute Ehemann in Nöten.

Natürlich weiss ich genau, was los ist.
Mein schlauer Ehemann hat einmal mehr ein Geschäft in den Sand gesetzt. Wieder ein, mit europäischen Waren vollgepackter Container, der in den Abgründen von Kinshasas Hafen irgendwo verloren ging. Vielleicht von korrupten Zollbeamten blockiert. Oder von einem seiner «vertrauenswürdigen» Freunden ohne sein Wissen unter der Hand verhökert.
Wer weiss das schon so genau?
Mir ist es einerlei.
Denn ich werde einmal mehr seine Fehler in Ordnung bringen müssen.
Er hat seit Monaten die Miete für unsere Wohnung nicht mehr bezahlt. Abgezweigt für seine Container.
Es sei eine todsichere Investition. Ich hätte keine Ahnung von Geschäften.
Das soll er mal der Hausverwaltung erklären, die uns per eingeschriebenen Briefen droht, unsere Wohnung räumen zu lassen.

In einer gekauften Ehe ist Sex eigentlich nicht vorgesehen.
Es ist ein Geschäft. Geld für eine gesicherte Aufenthaltsbewilligung. In der Schweiz bedeutet das, mindestens den Ausweis C. Mit dem C-Ausweis ist man sicher. Er muss nicht jährlich erneuert werden, wie der B-Ausweis, den ich momentan habe.
Das kann ein paar Jahre dauern, warnte mich meine Mutter, als ich endlich in die Schweiz einreisen durfte. Also benimm dich, ma fille. Such keinen Streit mit dem Kongolesen.
Er hat uns in der Hand, vergiss das nie.
Wenn er die Scheidung einreicht, verlierst du dein Aufenthaltsrecht.
Halte deine Zunge im Zaun und das Haus sauber. Koche gutes, kamerunisches Essen für ihn. Lerne seine kongolesischen Lieblingsspeisen zuzubereiten.
Mach dich unentbehrlich!

Und sollte es ihn nach deinem Körper verlangen, ziere dich nicht!
Malcom liess mich weitgehend in Ruhe.
Wir gingen uns, soweit dies in der kleinen Wohnung möglich war, aus dem Weg.
Seine kongolesischen Freunde kamen mehrmals wöchentlich bei uns vorbei.
Wie sehr ich das hasste.
Das Wohnzimmer füllte sich, bis kaum noch Platz übrig war. Sie rauchten, tranken Unmengen an Bier und leerten eine Whiskyflasche nach der anderen, während auf dem riesigen Flachbildschirm an der Wand ein kongolesischer Videoclip den anderen jagte.
Immer wieder wurde ich zum Supermarkt geschickt, um für alkoholischen Nachschub zu sorgen, während die Männer immer lauter und ausgelassener debattierten.
Wenn sie hungrig waren, kochte ich, was immer mir aufgetragen wurde.
Seit das Baby da ist, kommen sie gottseidank etwas weniger häufig vorbei.
Wieder etwas, wofür ich dem Kleinen dankbar bin.
In den ersten Monaten, nachdem ich in die Schweiz gekommen war,lief alles wie geplant. Meine Mutter kam immer am Monatsende vorbei und bezahlte die fällige Rate.
Malcom steckte das Geld ein.
Nicht ohne jedes Mal aufs Neue darüber zu schimpfen, wie billig wir davongekommen seien.
So eine Geldheirat kostet normalerweise mindestens das Doppelte, da könnt ihr euch sicher sein!
Meine Mutter ignorierte ihn, trank seelenruhig das Bier, das ich vor ihr auf dem Glastisch abgestellt hatte aus und machte sich danach wieder auf den Weg.
Doch dann, es muss etwa ein halbes Jahr nach meiner Einreise gewesen sein, erhielt ich aus dem Nichts eine WhatsApp Nachricht von meiner Mutter:

Ma fille, les choses sont dures.
Leider kann ich in Zukunft die Raten für den Kongolesen nicht mehr aufbringen.
Debrouille-toi, ma fille! Schlag dich durch, Tochter!
Du bist eine Frau. Er ist ein Mann.
Du wirst dir zu helfen wissen.
Bonne Chance, ma fille!

Nun, was soll ich sagen?
Schon in der nächsten Nacht legte ich mich nackt zu ihm ins Bett.
Vor Aufregung und Sorge darüber, wie seine Reaktion ausfallen würde, wagte ich kaum zu atmen.
Als er sich wortlos und erregt keuchend auf mich legte, atmete ich erleichtert aus.
In den nächsten Wochen legte ich es darauf an, schwanger zu werden.
Mir war bewusst, dass Sex allein keine Garantie dafür war, ihn davon abzuhalten, weiterhin die fehlenden Ratenzahlungen einzufordern und mir mit Scheidung zu drohen.
Aber bei einem gemeinsamen Kind, das seinen Namen trug, würden ihm die Argumente ausgehen.

Er konnte von der Mutter seines Kindes kein Geld verlangen. Dafür hätte niemand Verständnis gehabt.
Nicht einmal seine kongolesischen Saufkumpane.
Kurze Zeit später sass ich auf dem Klo unseres kleinen, fensterlosen Bads und sah dem zweiten Streifen des Schwangerschaftstests beim Erscheinen zu.
Mir wurde vor Erleichterung schwindlig.
Dieu Merci! Dieu Merci!
Ich war gerettet!

Ja, so kam es, dass ich Mutter wurde.

Doch das ist nicht alles, worüber ich nicht spreche. Da gibt es noch etwas.
Eine Art Geheimnis.
Obwohl, ein richtiges Geheimnis ist es nicht.
Denn ein Geheimnis zeichnet sich dadurch aus, dass die meisten Menschen um einen herum nichts davon ahnen.
Vielleicht sollte ich eher von einem offenen Geheimnis sprechen. Als offene Geheimnisse werden Dinge bezeichnet, über die eigentlich alle Bescheid wissen, aber niemand den Mut besitzt, das fragile Gleichgewicht zu zerstören, in dem man das Unaussprechliche ausspricht.

(8) Schweizer aus der französischen Schweiz (Suisse Romande)

Ein Tabu erblickt das Licht der Welt.
Jetzt, wo ich darüber nachdenke, wird mir klar, offene Geheimnisse sind nichts anderes als Tabus.
Und davon gibt es zwischen Malcom und mir, ja, in meiner ganzen Familie, weiss Gott, mehr als genug.
Einige Zeit, bevor meiner Mutter das Geld für die Monatszahlungen ausgegangen war, lernte ich Pierre in einer Bar im Zürcher Langstrassenquartier kennen.
Eine Freundin aus Douala arbeitete dort als Prostituierte und stellte mir den Romand (8) aus Genf vor.
Er musterte mich eine Weile, bevor er das Wort an mich richtete. Irgendetwas an dir ist faszinierend. Du bist nicht unbedingt schön. Das nicht. Aber du hast etwas Besonderes.
Seine Stimme war leise und weich. Sein Blick nachdenklich.
Ich denke, du wärst gut geeignet, um in meinem Etablissement zu arbeiten, fuhr er fort.
Ich schüttelte den Kopf. Vergiss es, ich arbeite nicht als Hure.
Er lächelte beinahe väterlich. Das, was ich dir anbiete, ist nicht das Übliche. Kein Sex. Jedenfalls nicht so, wie du es dir vorstellst.
Bevor Pierre ging, legte er eine Visitenkarte auf den Tisch. Falls du es dir anders überlegst, ruf mich an. Ich erkenne eine Gabe, wenn ich sie sehe. Du könntest es weit bringen. Sehr weit. Und vor allem viel Geld verdienen.
Es waren nicht Pierres Worte, die den Ausschlag gaben.
Es war der Neid, der in den Augen meiner Freundin aufblitzte, sobald Pierre weg war.
Was für ein unglaubliches Glück du hast! Rief sie verwundert aus. Jede der Frauen hier, würde ihre rechte Hand hergeben für ein Angebot von Pierre.

(9) kamerunische Abkürzung für ma copine, meine Freundin

Neugierig geworden, fragte ich: Um was für ein Etablissement handelt es sich überhaupt?
Meine Freundin fasste über den Tisch und packte meinen Unterarm: Maco (9), wenn du diese Gelegenheit nicht beim Schopf packst, ist dir nicht mehr zu helfen! Pierre führt in Genf eines der grössten und exklusivsten Domina Studios. Seine Klientel kommt aus ganz Europa! Ach, was sage ich, aus der ganzen Welt! Allesamt sehr reiche Leute!
In der darauffolgenden Zeit sog ich alles, was nur im Entferntesten mit sexueller Domination zu tun hatte in mir auf.
Ich las Berichte von Menschen, die diese Art von Sexualität lebten, stöberte in historischen Quellen und sah mir einschlägige Videos an.
Begierig, soviel wie möglich zu lernen.
Mein erster Einsatz als Domina folgte erst Monate später.
In Kamerun hatte ich Ökonomie studiert.
Wirtschaftliche Zusammenhänge faszinieren mich bis heute.
Aber das ist nichts im Vergleich zu der Faszination, die ich empfand, als Pierre mich in die Welt der Domination einführte.
Dem Hochgefühl, welches sich meiner bemächtigt, sobald ich einen der aufwändig und exquisit ausgestatteten Räume voller Streckbänke, Flaschenzüge, Käfige, Klistieren, Reitgerten, Peniskäfigen, Klammern, Peitschen und Dildos in allen Grössen und Varianten betrete, habe ich bis heute nichts entgegenzusetzen.
Es ist wie ein nichtendender Rausch. Als ob das Blut in meinen Adern kein Blut mehr wäre, sondern reine Ektase.
Sex war nie wirklich mein Ding.
Die Sache mit dem nichtendenden Rein und Raus und Rein und Raus, langweilte mich von Anfang an.
Doch sobald ich meine Lederkleidung mit den unzähligen spitz zugeschliffenen Swarovski Steinen auf meiner nackten Haut spüre, werde ich zu einem anderen Menschen.
Ich werde zur Domina Madame Fouet (10).
Stark und unerreichbar.
Ich greife nach einer Peitsche oder einem Paddle oder wonach immer es meinen nächsten Klienten gelüstet und spüre, wie dieses unvergleichliche Gefühl der Macht von mir Besitz ergreift.
Geniesse, wie ich dabei erschauere.

(10) Peitsche

Pierre ist inzwischen ein Freund geworden.
Vielleicht der Beste, den ich je hatte.
Er hat nicht zu viel versprochen.
Ich verdiene viel Geld. Sehr viel Geld.
In Kamerun habe ich, ohne meine Familie einzuweihen, ein Stück Land im Nobelquartier Bastos gekauft. Bald beginne ich mit dem Bau von sechs Luxusappartements rund um einen grossen Pool.

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich Pierre von meinen Problemen mit Malcom erzählen sollen. Doch damals kannten wir uns noch nicht sehr gut. Ich hatte Angst, dass er mich fallen lassen würde, sobald er erfuhr, dass meine Aufenthaltsbewilligung auf wackligen Beinen stand.
Als ich Pierre beichtete, dass ich schwanger sei, dass ich mir nicht anders zu helfen gewusst hätte, sah er mich auf die, für ihn typische, nachdenkliche Art an.
Dann seufzte er und sagte: Kein Problem. Du bekommst das Kind und machst danach einfach weiter.
Aber solltest du wieder einmal in Schwierigkeiten geraten, komm zuerst zu mir.
Ich lasse dich nicht fallen. Du bist die begehrteste Domina, die je in meinem Club gearbeitet hat.
Dann fügte er etwas unsicher hinzu: Du hast doch nicht vor, ein braves Hausmütterchen zu werden?
Ich lachte kopfschüttelnd auf: Ich, ein braves Hausmütterchen! Kannst du dir das wirklich vorstellen, Pierre?

Malcom weiss offiziell nichts von meinem Doppelleben. Er tut so, als ob er mir glaubt, wenn ich sage, dass ich meine Schwester in Genf besuchen gehe.
Doch wir wissen beide, dass ich keine Verwandten in Genf habe.
Aber so ist es einfacher.
Eine unverfängliche Lüge zeugt oft von mehr Respekt als die ehrlichste Wahrheit.
Keine Vorwürfe. Kein Nachspionieren.
Höchstens ein: Wie geht es deiner Schwester? Ist ihr Mann wieder gesund?
Danke, lieb, dass du fragst, Malcom. Es geht ihnen allen gut, par la grâce de dieu!
Er hat mich nie gefragt, woher ich das Geld habe, um die Folgen seiner Fehlinvestitionen auszubügeln.
Natürlich hätte ich ihn schon längstens ausbezahlen können. Aber das tue ich nicht. Er muss nicht wissen, wieviel Geld ich in Wirklichkeit verdiene. Er würde es bestimmt früher oder später gegen mich verwenden.
Wenn er wieder einmal alles in den Sand gesetzt hat, bezahle ich die fälligen Rechnungen ohne jegliches Aufsehen und lege die Belege gut sichtbar auf sein Kopfkissen.
Das ist alles.
Doch seit wir das Baby haben, spüre ich, dass sich bei Malcom ein gewisser Unwille breit macht.
Ich habe den kleinen Gilbert Dieu Merci genau vier Wochen lang gestillt. Dann hatte ich genug. Mir fiel die Decke auf den Kopf und ich wollte nur noch raus aus dem Gefängnis voller Babygeschrei, milchprallen Brüsten und stinkenden Windeln.
Drei Wochen später liess ich das Baby in den Armen seines Vaters zurück und verabschiedete mich mit den Worten: Ich brauche eine Pause. Ich besuche meine Schwester in Genf. In vier Tagen bin ich zurück.
Seinen Sohn auf dem Arm und Fassungslosigkeit im Gesicht sass Malcom auf dem Sofa.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, glaubte ich sowas zu hören wie: Was bist du nur für eine Mutter!
Dann vorgestern: ich war gerade dabei, ein paar Kochbananen zu schälen, um ein Poulet D.G. zuzubereiten, als ich hinter mir seine Schritte vernahm.
Ich drehte mich nicht um.
Wartete nur ab.

Denk ja nicht, dass ich nicht Bescheid weiss. Darüber, was du in Genf machst. Du bist eine…
Ich liess ihn seinen Satz nicht beenden.
Getragen vom selben Schwung und dem Gefühl absoluter Überlegenheit, die mir als Madame Fouet stets gute Dienste leisteten, drehte ich mich zu ihm um.
Mit derselben Eleganz und Leichtigkeit, mit der ich in Genf die Reitgerte auf gerötete Hintern sausen liess, glitt die fleckige Kochbanane wie ein Habicht auf Beuteflug durch die Luft und verharrte kurz vor Malcoms Nase.
Willst du dieses Gespräch tatsächlich führen? Zischte ich leise.
Auch wenn ich, zugegebenerweise in meinem ausgeleierten Jogginganzug nicht gerade beeindruckend aussah und auch die fleckige Kochbanane in meiner Hand keineswegs mit der lackledrigen Reitgerte aus Genf mithalten konnte, verfehlten wir unsere Wirkung nicht.
Malcom starrte mich einen Moment lang wie versteinert an.
Wich dann zögernd zwei Schritte zurück, drehte sich um und verliess wortlos die Küche.
Die Begegnung mit Madame Fouet hat ihn tief verstört. Das konnte ich sehen.

Das Telefon auf dem Glastisch gibt keine Ruhe. Auch das Baby hat begonnen, sich zu rühren.
Es hilft alles nicht.
Es ist an der Zeit mit der Nachdenkerei aufzuhören.
Der kleine Dieu Merci braucht eine neue Windel.
Danach packe ich ihn in seinen Wagen und wir machen uns auf den Weg zu Western Union.
Mein Bruder bekommt sein Geld noch heute.
Liesse ich zu, dass unser Vater ihn vor die Tür setzt, würde das Schmeissfliegentelefon bestimmt nie mehr Ruhe geben.
Und mal sehen, ob ich unsere Hausverwaltung mit einer Teilzahlung fürs Erste beruhigen kann.