Der Santiago-Kult

Es ist Sommer im globalen Norden und Winter im globalen Süden. Grund genug, im August auf Literatur.Review Sommer und Winter zusammenzuführen und bislang unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt zu veröffentlichen.
Kristian Sendon Cordero schreibt als Dichter, Romanautor, Essayist, Übersetzer und unabhängiger Filmemacher in drei philippinischen Sprachen. Die Tageszeitung Philippine Daily Inquirer bezeichnet Kristian Sendon Cordero als den aufstrebenden Kulturzar seiner Heimatregion Bikol. Seine Buchhandlung Savage Mind und der Kunstraum „Kamarin“ gelten als kreatives Herz von Naga City, als Bastion des freien Denkens und als Seele der Gemeinde. 2017 erhielt er den Southeast Asian Writers Award und wurde 2022 für seinen Beitrag zu Kunst und Kultur zu einer der zehn herausragenden Persönlichkeiten der Philippinen gekürt.
Sobald jeden Abend um sechs Uhr die Kerosinlampe angezündet wurde und die Hühner von den Kakao- und Jackfruchtbäumen herunterflatterten, ging Vater weg. Er trug schäbige Militärkleidung, Stiefel, die so groß waren wie meine Beine, und ein altes Amulett, auf dem ein Angelus eingraviert war, den nur Vater lesen und verstehen konnte: Que cecop, deus meus, deus noter. (1) Ich hatte einmal versucht, es zu intonieren, aber ich hätte mich dabei fast an meiner eigenen Zunge verschluckt. Vater sagte, das Gebet sei heilig, Worte hätten ihre eigene Kraft und man dürfe sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Als er mich einmal dabei erwischte, wie ich es in meine Tasche steckte, warnte mich Vater, dass mir alle Haare ausfallen und meine Zunge sich völlig verkrümmen würde, wenn ich das Angelusgebet weiterhin rezitieren würde. Ich wollte das dreieckige Amulett mit dem offenen Auge in der Mitte als Waffe verwenden. Es hieß ja, es sei das Auge des Herrn. Dieses offene Auge, das aussah, als wäre es von einem Blitz aus dem Himmel herausgraviert worden, soll der Großvater meines Vaters gesehen haben. Das Amulett wog so viel wie die Dutzend Murmeln und zwanzig abgeflachten Flaschenverschlüsse, mit denen wir Tatsian spielten. Wenn mein Vater das Amulett trug, konnte ihm kein Metall etwas anhaben, nur Blitzschlag, Schlangenbisse oder Bisse von wilden Tieren. Anstatt mich zu schelten und mit seinem Gürtel zu schlagen, wenn er mich erwischte, bat mein Vater mich ruhig um sein Amulett und tauschte es lediglich gegen einen Peso, den er aus seinem Ohr nahm.
In den letzten Monaten war mein Vater immer öfter unterwegs. Er kam in den frühen Morgenstunden nach Hause, wie die Fledermäuse, die im alten Glockenturm der Kirche von Santiago lebten, dem Lieblingsheiligen meines Vaters. Als ich also am Festtag des Heiligen geboren wurde, zögerte er nicht, mich nach dem berittenen Heiligen zu benennen.
Santiago war der Schutzpatron der Kavallerie und der Soldaten. Er war einer der zwölf Jünger des Herrn und einer der Brüder von San Juan. In seiner Ikonografie waren vor allem abgetrennte Köpfe und zerstückelte Männer zu sehen, die unter der Figur des Santiago verstreut umher lagen. Sie trugen auffällige Turbane und Bärte, die aussahen, als wären sie von Mutters Freundin frisiert worden (wie die von Plaridel oder Antonio Luna, die man über den Tafeln sah). Die Männer, die unter den Füßen des Schutzheiligen verstreut lagen, wurden offenbar Moros genannt – Feinde der Christen. Schon vor der Ankunft der Spanier sollen sie oft Städte überfallen und junge Frauen entführt haben, um sie als Gebärfrauen und Sklavinnen zu nutzen. Moros sollen in der Gebärmutter mit Schweineherzen gestillt worden sein. Diese Menschen waren dieselben, die San Miguel auf dem Etikett der Ginflasche zertrampelte.
(1) Das Angelusgebet ist ein katholisches Gebet, das dreimal täglich gebetet wird, um an die Menschwerdung Jesu zu erinnern.
Wenn man ihn genau betrachtete, sah man Santiagos Augen vor Wut überquellen. Seine Augäpfel, so erzählte ein alter Mesner, seien aus Gold gegossen worden, das aus einem Eisberg in Südamerika stamme, während Kopf und Arme aus reinem Elfenbein aus Afrika gefertigt worden seien. Viele haben versucht, den Santo zu stehlen, aber niemandem ist es jemals gelungen. Die Moros, die noch immer Unheil anrichten, hatten in den ersten Jahren der spanischen Herrschaft ebenfalls versucht, ihn zu stehlen, aber dank der wundersamen Statue konnten sie unsere Stadt nicht plündern, da sich Gerüchte verbreiteten, die besagten, dass Santiagos Pferd zum Leben erweckt würde und ihm flammende Hörner wie die eines Stiers wachsen würden, sollte sich ein Feind ihm nähern. Man glaubte, dass seine Augen mächtiger waren als das Amulett, das der Pater trug, und dass jeder, der es in den Händen hielt, unglaubliche Kräfte erlangen würde. In der Stadt gab es auch Gerüchte, dass der Heilige jedes Mal, wenn er vom Altar verschwand, die Gruppe des Paters begleitete, wenn sie die Städte Topas, Malawag und Tapayas überfiel, in denen es angeblich von Rebellen wimmelte, die Apo zur Verfolgung ausgeschickt hatte. Diese Rebellen waren die neuen Moros.
Ich habe oft gesehen, wie Mutter und andere Frauen aus unserem Dorf vor eben dieser Santiago-Ikone standen. Am Festtag des Schutzheiligen spendeten sie Geld, um ein neues Gewand für den Santo nähen zu lassen. Normalerweise trug er ein rotes Gewand, das mit goldenem Faden bestickt war, der angeblich aus Manila stammte. Dieser Faden war derselbe, der auch für die Kleider der First Lady verwendet wurde, wie die alten Frauen sagten, deren Skapuläre fast zu einem Muttermal auf ihrer Haut geworden waren.
(2) Hilot ist eine traditionelle philippinische Heilkunst, die sowohl Massagetechniken als auch den Einsatz von Heilpflanzen und Gebeten umfasst. Santigwar ist eine Form der Wunderheilung mit einem Albularyo (Quacksalber oder Kräuterheiler), der Geister anruft und natürliche/pflanzliche Arzneimittel verwendet.
Eines Sonntags, nachdem ich in der Kirche gewesen war, sah ich Mutter, wie sie mit geschlossenen Augen ihre Hände an den Statuen rieb, als wären sie mit Seife eingeschmiert, und den Santo abtastete, wie jemand, dem plötzlich Seife in die Augen gespritzt worden war und der nach der Schüssel suchte, um sie abzuwaschen. Wie alle Gläubigen glaubte Mutter, dass der Heilige die Kraft hatte, zu heilen. Deshalb bildete sich immer eine Schlange vor der Heiligenstatue, um sie zu berühren und mit Taschentüchern abzuwischen, die die Menschen dann auf ihre schmerzenden Stellen tupften, meist auf den Rücken, den Nacken, die Schläfen, die Lippen, die Brust, ihre zitternden Hände und Füße, und es gab auch solche, die mit ihren gesegneten Hände ein wenig schüchtern sogar ihre Brüste und Penisse ummantelten. Einige schmuggelten Kokosnussöl heraus, um Kerzen für den Altar herzustellen. Es wurde für Hilot und Santigwar (2) verwendet. Durch das ständige Reiben der alten Frauen glänzten die Hufe des Pferdes, auf dem der Heilige saß. Sie sahen aus wie unglaublich weiche und überreife Duhats.
Mutter war Lehrerin in unserer Stadt. Nur vier Lehrer unterrichteten die sechs Klassen mit jeweils zwanzig Schülern. Mutter war meine Lehrerin in der ersten und dritten Klasse gewesen. Sie sollte auch meine Lehrerin werden, wenn ich im nächsten Jahr in die fünfte Klasse kam. Wenn wir von der Schule nach Hause kamen, war Vater schon weg und nur gedämpfter Reis stand für uns bereit. Anfangs ging Mutter oft in die Kirche und war aktives Mitglied der Confradia de Santiago. Aber in den letzten Monaten, als die Geschwulst an ihrem Hals größer wurde, was vielleicht auf mehr als ein Jahrzehnt Unterricht und das Einatmen von Kreide zurückzuführen war, ging sie immer seltener in die Kirche. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als sie bemerkte, dass ihr Mund leicht austrocknete und es sich anfühlte, als hätte sie einen lebenden Frosch im Hals, eine Novene zum Heiligen betete und innerhalb eines Monats den Zehnten für die Messe spendete. Ihre Krankheit, die sich zu einer riesigen Geschwulst an ihrem Hals entwickelte, besserte sich jedoch nicht. Sie wurde größer als die Hufe von Santiago’s Pferd.
Als die Geschwulst wuchs, wurde Mutter zu Hause und in der Schule immer gereizter. Eines Tages hörte ich, dass sie eine Kokosnuss-Bodenbürste nach einer ihrer Schülerinnen geworfen hatte, weil diese ihren Namen falsch geschrieben hatte. Anstelle des „e“ in unserem Nachnamen De la Fuente hatte der Schüler ein „i“ geschrieben. Als die Eltern des Kindes sich beschwerten, hätten sie beinahe den Kapitan des Barrio eingeschaltet. Zum Glück hatte Vater dem Kapitan drei Flaschen Lambanog geschenkt. Während Mutters Geschwulst weiter wuchs, wie eine von einer Schlange umschlungene Ratte, schwand ihre Verehrung für den Heiligen immer mehr. Sie versuchte, andere Santos oder Santas anzuflehen. Sie ging nach Ombao-Pulpog und versprach San Vicente, eine Bronzekehle anfertigen zu lassen, die sie an das Kostüm des Heiligen hängen würde, wenn sie geheilt wäre. Sie ging auch nach Hinulid in Calabanga und lief an einem Karfreitag zehn Kilometer, nur um die störende Wucherung los zu werden. Aber es schien, als hätte sich der Himmel gegen sie verschworen. Nach einigen Monaten des Versuchs, gesund zu werden, schien Mutter zu akzeptieren, dass die Geschwulst ein Teil ihres Körpers war. Sie war wie eine Haarsträhne oder ein Fingernagel, der gewachsen war. Mutter sah erbärmlich aus, weil ich wusste, dass sie Schwierigkeiten hatte, Nahrung zu schlucken, sogar ihren Speichel. Ihr Zusammenzucken und Spucken, fast gleichzeitig mit ihrem lauten Fluchen, das später zu ihrem neuen Angelus wurde, war ein Beweis dafür.
Nach ihrem letzten vergeblichen Gelübde, als sie in der Kathedrale der Jungfrau von Salvacion in Tiwi Kerzen in Form einer Frau anzündete, hatte selbst ihr Schatten keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Kartenspielen an Samstagen und Sonntagen. Sie konsultierte einen Albularyo, aber dieser riet ihr nur, nach Santiago zurückzukehren, was Mutter jedoch nicht tat, da ihre Geschwulst fast so groß wie eine unreife Pampelmuse war und Vater immer häufiger im Lager blieb.
Mutter traute keinem Arzt. Sie hatte manchmal gesagt, ein Arzt würde vielleicht nur den Frosch in ihrem Hals herausschneiden und ihn jungen Medizinstudenten zeigen. Mutter hatte das wahrscheinlich nur scherzhaft gemeint, aber Vater und ich zuckten nicht mit der Wimper.
(3) Teks ist ein philippinisches Wort und Spiel bedeutet „Spielkarten mit Text“. Es gibt zahlreiche verschiedene Designs mit Texten, beispielsweise Comicstrips oder Figuren aus Anime oder Zeichentrickfilmen.
„Dein Vater ist ein Aswang!“, schrie mein Spielkamerad Intoy, als ich beim Teks-Spiel (3) verlor und keine Lust mehr hatte, weiterzuspielen. Es war, als hätte mich Mutters Geist besessen und wollte, dass ich meinem Spielkameraden Sand in den Mund stopfte, als ich Intoy das sagen hörte.
„Gibt es etwa einen Aswang, der zu den Heiligen betet?“, gab ich Intoy zurück und hielt seine letzten drei Teks-Karten von Panday und Pedro Penduko fest umklammert.
„Ist doch egal, unsere Nachbarn sagen, dass dein Vater ein Aswang ist! Deshalb hat deine Mutter einen Knoten im Hals und du wächst nicht, weil du Asbo-Blut hast!“
Immer noch wütend, schrie er weiter, bis er nach Hause ging: „Tiago, Zwerg, Supot!“
Er benahm sich wie eine hungrige Krähe, die mich mit Beleidigungen bewarf, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde, die allmählich die Stadt einhüllte. Das Letzte, was ich hörte, war ein plötzliche Krächzen in seiner Stimme.
Ich ging mit den Teks, die ich erworben hatte und die so dick waren wie meine Bücher, nach Hause. Ich versteckte sie in einem kleinen Schrank, damit meine Mutter sie nicht finden konnte. In dieser Nacht konnte ich Intoys Behauptung nicht aus dem Kopf bekommen, dass meine Kleinwüchsigkeit und die Wucherung meiner Mutter darauf zurückzuführen seien, dass mein Vater ein Aswang sei.
Ein Aswang zu sein, war einfach nur furchterregend. In der Stadt zirkulierten Geschichten, dass unsere Stadt lange vor der Ankunft der Missionare ein Nest voll bösartiger und teuflischer Geister gewesen war. Nur Santiago hatte sie besiegen können. Die Aswang waren böse Wesen, und diese Teufel wurden oft bei Neumond gesichtet, wenn sie umherstreiften, um neue Opfer zu verschlingen. Ein Aswang musste eine Kokosnussschale mit zwei Augen nehmen und sie mit Guano bedecken, dann konnte er in die Dunkelheit hinein schweben und töten. Es gab zwei Arten von Aswang: einen fliegenden Aswang, bekannt als Manananggal, und einen laufenden Aswang, genannt Asbo. Beide waren Gefolgsleute der Hölle, und an Tagen, an denen Gott tot war, versammelten sie sich am Vulkan Mayon, um ihre Treue zu den dunklen Mächten zu bekräftigen. Aswang fürchteten sich vor Wasser, insbesondere vor Weihwasser. Als während der japanischen Besatzung in unserer Stadt eine Frau als Aswang identifiziert wurde, hat man sie zum Fluss geschleppt, ihre Hüften an einen großen Stein gebunden und ins Wasser geworfen. Wäre die Frau ein Aswang gewesen, wäre sie nicht untergegangen, da sie ihre Kräfte genutzt hätte, um auf dem Wasser zu laufen und zu fliehen. Aber sie versank und starb, denn die Frau war unschuldig. Sie verblutete und ihr Blut vermischte sich mit dem Flusswasser. Die Frau war im zweiten Monat schwanger gewesen, und ihr Mann war gerade tot aufgefunden worden. Er hatte gerade Kokosnüsse geerntet. Es gab Gerüchte, dass die beiden Spione für die Japaner gewesen seien.
Die meisten glaubten, dass es mehr weibliche Aswang gab und dass sie mächtiger waren als die männlichen Aswang. Weibliche Aswang waren, wenn sie wütend wurden, noch wilder, so wie riesige Hühner. Die Aswang erschienen immer bei Vollmond, einige schwebten in der Luft, andere lungerten im Keller herum und labten sich an dem Speichel der Kranken. Fuera dios, fuera hulog, so lautete der Angelus, den die Aswang sangen, was so viel bedeutete wie: Es gibt keinen Gott, ich werde nicht stolpern. Es gibt noch einen weiteren Angelus, den die Aswang gerne rezitierten, so lang, bis ihnen Flügel wuchsen: Siri, siri, daing Diyos kun banggi, labaw sa kakahoyan, lagbas sa kasirongan. (Fürchtet euch nicht, macht euch keine Sorgen, es gibt keinen Gott in der Nacht, keinen über dem Wald, und keinen außerhalb der Keller).
Manchmal nahmen sie die Gestalt eines Wildschweins, einer Katze oder sogar eines Hundes an. Schleim war für sie wie eine Vitaminquelle, und Blut war einfach nur Wasser, um ihren Durst zu stillen. Aswang konnten nicht getötet werden, sie hielten aber einen Art von Winterschlaf. Bevor sie in diesen Winterschlaf fielen, mussten die Aswang zunächst eine schwarze Kugel an einen Verwandten oder eine Person ihrer Wahl weitergeben, um ihre Linie fortzuführen. Ein Aswang konnte so lang nicht ruhen, bis er diese Kugel an andere weitergegeben hatte. Ich habe diese Geschichten von den Ältesten unserer Stadt gehört, die nach und nach gestorben sind und ja vielleicht selbst Opfer von Aswang waren. Aber ihre Geschichten bleiben bestehen und warnen davor, dienstags und freitags Geschichten über Aswang zu erzählen, da die Aswangs an diesen beiden Tagen ein besonders gutes Gehör haben.
Der Mond war fast hinter unserem Fenster verschwunden, und die Sterne, die ich durch das kleine Loch in unserem Dach gesehen hatte, waren bereits verblasst, als ich die Ankunft meines Vaters spürte. Schon bevor meine Mutter einen dicken Bauch bekam, schliefen sie getrennt. Meine Mutter schlief unruhig und musste von Kissen umgeben sein, damit sie nicht herunterfiel. Die Kissen, die ihr Bett umgaben, sahen aus wie tote Menschen. Mein Vater schlief neben mir auf dem Boden. Sein Schnarchen klang als ob Pferde auf der Jagd waren. Ich spürte sein Herz pochen wie eine schlagende Trommel. Und Vater schwitzte. Er roch nach verbrannten Pantoffeln. Als Vater mich fest umarmte, fühlte ich mich wie ein kleines Kissen, das von einem gewaltigen Riesen umarmt wurde. Ich tat so, als würde ich schlafen. Die Muskeln an Vaters Armen waren so groß wie kleine Pan de Sal (4) oder Ratten. Ich spürte Vaters Atem, der mir heiß in den Nacken blies. Es war, als würde eine starke Böe das kleine Gras auf meinem Kopf tanzen lassen. Bevor mich der Schlaf übermannte, sah ich den großen Schatten meiner Mutter im Moskitonetz und die Kissen, die zu platzen schienen und aus denen die schwarz gefärbte Baumwolle herauquoll.
(4) Süße philippinische Milchbrötchen.
Bei Tagesanbruch jagten uns die Leichen am Flussufer einen Schrecken ein. Sechs Männer waren gefunden worden, die von Krabben und Garnelen angefressen worden waren. In ihren Köpfen und Bäuchen waren Einschusslöcher zu sehen. Eine der Leichen war verbrannt, weil ihr Kopf aussah, als hätte man Asphalt darüber gegossen, und einer war der Penis abgeschnitten und in den Mund gesteckt worden. Sie sahen aus wie von Autos zerquetschte Frösche. Die Toten sollten angeblich Rebellen sein. Aus Tigaon und Sorsogon, sagte ein Lehrer. Die Aswang haben zugeschlagen, sagte ein Albularyo, einer der Ältesten der Stadt, der früher selbst als Aswang verdächtigt worden war. Die getöteten Rebellen waren jung, bis auf den alten Mann, der mit Asphalt übergossen worden war, fügte ein anderer Lehrer hinzu. Die Rebellen waren nur noch Haut und Knochen, als hätten sie monatelang gehungert. Einer der Toten hatte die Augen weit aufgerissen, die dadurch fast aus dem mit Wunden übersäten Schädel ragten, an denen Tilapia und Karpfen nagten.
Wegen dieses Ereignisses wurde der Unterricht für den ganzen Tag ausgesetzt. Alle sprachen über die Toten, von der Kirche bis zum Markt, wo der Fischverkauf wegen der Nachricht von den Leichen im Fluss eingebrochen war. Die Fischverkäufer waren verständlicherweise am meisten beunruhigt, denn ihr Fang an diesem Tag war unrettbar verdorben.
Die Leichen wurden auf einen von einem weißen Wasserbüffel gezogenen Karren gelegt und zum Rathaus gebracht, um fotografiert und von Angehörigen identifiziert zu werden. Wie zu erwarten war, kam niemand, der sich als Angehöriger der Rebellen ausgab. Nachdem der Priester sie gesegnet hatte, wurden sie noch in derselben Nacht auf einem freien Grundstück in der Nähe des Friedhofs begraben. Laut dem Albularyo, den Mutter einmal konsultiert hatte, rächte sich nun die Frau, die im Fluss ertrunken war. Viele weitere Leichen würden aus dem Fluss auftauchen. Er sagte, die Aswang hätten die Rebellen getötet.
An diesem Tag ging ich früh nach Hause, weil meine Ohren von den Geschichten über die Leichen und die Aswang zu pochen schienen. Ich fand Vater noch schlafend vor. Ich bemerkte, dass seine kleine Wunde am rechten Arm von Fliegen infiziert war. Sein Gesicht und seine Füße waren aufgeschürft. Die Hose, die er am Abend zuvor ausgezogen hatte, war mit Amorseco-Pflanzen bedeckt.
Wie immer ging Vater noch vor dem Anzünden unserer Lampe und bevor das von ihm gekaufte Kilo Rindfleisch gar war, aus dem Haus. Er sagte, dass im Lager, das einen Bach und drei Hügel von unserem Dorf entfernt lag, getrunken werden würde. Vater hatte uns noch nie mit ins Lager genommen. Kinder durften sich nicht in der Nähe solcher Orte aufhalten. Im Lager wurde eine Feier abgehalten, weil der neue Chef ihres Bataillons aus Albay angekommen war. Er sei überglücklich, dass die Soldaten den Kampf gegen die Rebellen gewonnen hatten.
Bevor sie zum Lager aufgebrochen waren, hatten einige Soldaten eine Messe als Dank an den Schutzpatron gelesen. Das war wahrscheinlich der Grund, warum sie von einigen unserer Dorfbewohner als Anhänger des Santiago-Kults angesehen wurden, insbesondere von Ka Pedring, der ein großes Stück Ackerland in einer Stadt besaß, die als Brutstätte der Feinde um Apo galt, und der das Oberhaupt meines Vaters und anderer Soldaten war. Ich habe Apo nur auf dem Bild gesehen, das zusammen mit seiner Familie in unserem Klassenzimmer hing. Sie sahen wie Könige und Königinnen aus, und mein Lehrer erzählte, dass Apos Familie viel Gold besaß, das aus der Beute eines japanischen Generals und aus alten Kirchen in den Visayas und im Norden des Landes stammte, die Apos Frau hatte abreißen lassen. Das Einzige, was der Familie angeblich fehlte, war das Auge des Matamoros (Santiagos seliger Blick, der von einigen Schwestern der Gemeinde gestiftet worden war). Aber es hatte sich herumgesprochen, dass die First Lady an den Pfarrer geschrieben und darum gebeten hatte, die Statue in den Palast in Manila zu schicken, um sie einem Kardinal aus Rom zu zeigen. Die ganze Stadt weigerte sich. Denn der Schutzpatron könnte erzürnt sein, wenn er so lange von seinem Thron getrennt wäre. Der Heilige war noch nie von seinem Retablo entfernt worden. Der Pfarrer war stand zwischen den Stühlen, obwohl die First Lady bereits Geld für Renovierungsarbeiten im Kloster geschickt hatte. Es wurde gemunkelt, dass der Priester stattdessen eine antike Reliquie geschickt hatte, um die Sammlung der First Lady zu ergänzen und die damit dann auch irgendwie zufrieden war.
Immer wenn ein hochrangiger Beamter ins Lager kam, gab es reichlich zu essen und zu trinken. Ein Schwein wurde geschlachtet, und die Soldaten erhielten Bargeld. Einige Mädchen, die aus dem Roten Haus stammten, durften mit dabei sein. Viele dieser Mädchen behaupteten, aus Polangui zu kommen, weil man ihnen gesagt hatte, sie sollten das sagen, wenn sie gefragt würden, obwohl einige von ihnen aus Masbate oder Samar stammten. Ich hatte sie nur einmal in der Stadt gesehen, als sie sich der Prozession anschlossen und dem Festwagen des Santo Sepulro folgten. Es waren jene Mädchen, die mit schwarzen Schleiern bedeckt waren und die barfuß mit Strohbesen in den Händen gingen.
Das Fleisch, das Vater übrig gelassen hatte, war immer noch zäh, obwohl ich es bereits mit der Gabel zerteilt und Jackfruchtblätter hinzugefügt hatte. Das Rindfleisch hatte immer noch eine gummiartige Konsistenz, obwohl die Kohle, die ich unter das Kotelett gelegt hatte, fast ausgeglüht war. Unser Fleisch sah gleich viel besser aus, als Mutter Süßkartoffeln und Kangkong-Sprossen unter das Schmorgericht mischte. Das gelblich-weiße Mark sickerte langsam aus den Knochen. Mutter bat mich, einige Calamansi aus unserem Garten zu pflücken. Die sauren Früchte wurden verwendet, um das Öl zu entfernen und dem Fett entgegenzuwirken. Die Calamansi können auch gegen Aswangs verwendet werden, sagten die Älteren. Der Duft der Calamansi war stärker als der von Knoblauch, obwohl die Älteren sagten, dass Knoblauch gegen Aswangs noch wirksamer sei.
Um acht Uhr hatte Mutter das Essen fertig gekocht. Es war noch nicht ganz durch, aber es war besser als unser eigenen Zungen zu essen. Ich schüttete meinen Reis in die Suppe, obwohl mir dabei immer wieder das Bild der Leichen im Fluss vor die Augen trat. Das war in Ordnung, denn wir aßen Rindfleisch, nicht wie Intoy, den ich vorhin beim Vorbeigehen auf dem Weg zum Kerosinladen beim Waschen von Garnelen und Cablets gesehen hatte.
Mit vollem Magen schläft man leicht ein. Nachdem ich das Geschirr gespült hatte, ging ich nach oben, um die Matte auszubreiten und das Moskitonetz aufzuhängen. Mutter blieb am Tisch sitzen und spielte Solitär. Sie lernte nicht und bereitete sich auch nicht auf ihre Vorlesungen vor. Sie sagte, sie kenne den Stoff bereits. Das gesamte Lehrbuch – das, wie sie sagte, älter war als ich – habe sie bereits auswendig gelernt.
(5) Chico ist ein großer, immergrüner Baum, der in den tropischen Gebieten Nord- und Südamerikas sowie Südostasiens heimisch ist. Er produziert eine essbare Frucht. Aus der Rinde wird Chicle gewonnen, eine Substanz, die in Kaugummi verwendet wird.
Vater kam nach Hause und roch nach Chicos (5). Im Gegensatz zu anderen Betrunkenen war Vater nicht laut oder neigte zu Ausschreitungen. Er spürte die Hitze des Alkohols, die von seinem Körper ausging, ganz still in sich. Er musste keinen Mut mehr aufbringen, um zu sprechen oder zu tun, was er wollte. Er ließ sich einfach von seinem Rausch treiben. Ganz anders war das bei Intoys Vater. Wenn er aus Saudi Arabien zurückkam und etwas getrunken hatte – mein Gott, dann ging das soweit, dass er Intoys Mutter mit einer Machete jagte und sich auf der Straße auszog.
Intoys Mutter soll einen anderen Mann in den Bergen, wo die Rebellen wohnten, gehabt haben. Deshalb war es für Intoy nicht abwegig, dass Rebellen, Moro oder Soldaten alle Aswang waren. Seine Mutter war von dem Rebellenführer Ka Don, der einst Pastor einer Sekte gewesen war, bevor er sich den Rebellen angeschlossen hatte, mit einem Aswang-Fluch belegt worden. Die Frauen in der Stadt schwärmten von Ka Don. Er war wie ein Filmstar und man hätte ihn nie für einen Rebellen gehalten. Es ging das Gerücht um, dass Intoys Mutter nicht die Einzige war, die Ka Don verfallen war. In fast allen anderen Städten neben unserer gab es jemanden, der von diesem Anführer fasziniert war. Einige von uns sympathisierten mit den Prinzipien von Ka Don, der mit seinem natürlichen Charisma die Menschen anzog, insbesondere Bauern und Pächter. Laut Ka Pedring waren die Rebellen gute Menschen und konnten durch Leute wie Ka Don sogar als Helden bezeichnet werden. Aber abgesehen von seinem gutaussehenden Äußeren war Ka Don auch als Henker bekannt. Tage, nachdem die Leichen der sechs Männer am Fluss gefunden worden waren, schlugen Apos Gegner zurück. Zwei von Vaters Kameraden wurden im Roten Haus erschossen. Ihre Schädel wurden zerschmettert, und sie wurden nach draußen gezerrt. Die beiden Leichen wurden mit einem Motorrad durch das Dorf geschleift. Als sie am nächsten Morgen mitten auf dem Platz gefunden wurden, sahen die beiden Soldaten aus wie Bopis (6). Man musste erst kotzen, bevor man bei dem Anblick ihrer Leichen weinen oder zittern konnte.
(6) Bopis ist ein scharfes philippinisches Gericht aus gehackter Schweinelunge und -herz.
Vater schlüpfte unter das Moskitonetz und weckte mich. Er küsste mich auf die Stirn, und der schwache Geruch von Gin hing in der Luft. Sein Bart streifte mich wie die Dornen eines Makahiya. Ich hatte das Gefühl zu zittern, als Vater das tat. Vor allem, als Vater meinen dünnen Arm festhielt und dann meine Leiste packte, lachte er so, als würde ich von gekitzelt werden. „Wie mein Sohn doch gewachsen ist. Da werde werde ich doch gleich mal nach deinem Vögelchen sehen und schauen, ob du schon ein richtiger Mann geworden bist.“ Mein Vater sprach neckisch, aber ich war zutiefst erschrocken und krümmte mich zusammen. Ich bedeckte beschämt meinen Penis. Ich sah, dass er kleiner war als der von Intoy. Aber Vater bestand darauf, ihn zu betasten, als würde er Jocote auf dem Markt begutachten. Vater nahm meine Hand weg und berührte meinen Penis. Ich versuchte, es irgendwie zu ertragen und still zu halten, während er ihn streichelte wie einen Hahn, der bei einem Hahnenkampf eingesetzt werden sollte.
„Du solltest in den Schulferien beschnitten werden, damit alle sagen, dass du ein Mann geworden bist. Du musst meine Linie fortsetzen, die Familie De la Fuente ...“ Wegen seiner Trunkenheit lallte Vater. Das Einzige, was ich über Beschneidung wusste, war, dass sie am Fluss durchgeführt wurde. Im Fluss wurde die Spitze des Penis weich gemacht, wie das Rindfleisch, das wir immer aßen. Warum der Fluss, der für einige von uns die Lebensgrundlage war, stets mit Blut und Tod in Verbindung gebracht wurde, lag daran, dass er der Ort war, an dem unsere Rituale für Geburt, Taufe und Tod stattfanden.
Außerdem hatten die Priester die Statue des Heiligen Jakobus über den Fluss gebracht. Bevor die Missionare kamen, war der Fluss eine Brutstätte für Krokodile gewesen, und ein Priester war beim Baden von einem Krokodil angegriffen und getötet worden. Nur der Rosenkranz und das Kruzifix des Priesters waren übrig geblieben. Dies war das erste Wunder der Stadt, denn nachdem die Krokodile begonnen hatten, Priester zu fressen, starben sie einer nach dem anderen, bis die gesamte Krokodilpopulation verschwunden war. Ich war zwar schon irgendwie ein Mann, aber erst nach der Beschneidung würde ich wirklich einer sein. Der alte Albularyo führte die Beschneidungen in der Stadt durch und man durfte sich keinesfalls weigern, sonst hätte das große Schande über die Familie gebracht. Ein Kind, dessen Vater unbeschnitten war, hatte verkrustete Augen und war kränklich.
Wieder umarmte mich mein Vater fest. Ich spürte, wie sein Blick meinen ganzen Körper musterte. Ich war wie ein Spiegel, in den mein Vater blickte. Ich hatte Angst vor der Beschneidung, obwohl das immerhin besser war, als gebären oder menstruieren zu müssen. Frauen waren wahrscheinlich noch mehr verflucht als Männer. Ich wandte mich langsam von meinem Vater ab. Ich versuchte dabei nicht in sein Gesicht zu blicken. Die Angst, die ich empfand, war dicker als die Decke, unter der ich lag. Denn in dem Moment, als er meinen Penis ergriff, hatte ich auch Angst davor, realisieren zu müssen, dass er ein Aswang war. Nur als er mich umarmte, verwandelte er sich wieder in einen Mann zurück.
Er hielt meinen Penis so lange fest umklammert, bis er einschlief. Er schnarchte weiter, ein Geräusch, das auch Mutters Küsse hätten sein können. Aber Mutter war bereits von der Dunkelheit verschlungen worden, als der Abend kam. Sie war nur eine große, unbestimmte Masse unter dem Moskitonetz. Während Vater meinen Penis festhielt, spürte ich, wie meine Beine steif wurden, als ob meine Oberschenkel bis zur Spitze der Vorhaut meines umhüllten Penis von einem Draht durchbohrt würden. Es war, als würde eine gepflückte Blume abbrechen, um ihre Blütenblätter zu zeigen. Ich war gerade dabei, zwischen all diesen widersprüchlichen Empfindungen einzuschlafen, als langsam eine Flüssigkeit aus meinem Penis austrat. Die Flüssigkeit war wie der Saft, der am Karfreitag um Mitternacht aus dem Herzen einer Banane austritt und laut den mündlichen Übertragungen eine Quelle der Kraft ist, um den Aswang zu bekämpfen. Von diesem Tag an wartete ich jede Nacht auf die Ankunft meines Vaters. Während ich wartete, hatte ich neue Träume von gewaltigen, großzügigen Händen, in denen ich wie ein Sack Reisschalen lag, der gestampft wurde, bis das Korn herauskam. Je länger das so ging, desto regelmäßiger fand ich Leichen am Fluss. Einige Leichen wurden auch im Dickicht gefunden, zerstückelt und in Zementsäcke gewickelt. Sie sahen aus wie die Männer auf der Statue von Santiago. Ein Betrunkener erzählte, dass zerteilte Arme und abgetrennte Köpfe den Fluss heimsuchen würden. Niemand wagte sich an diese Stelle des Flusses, wenn die Geckos im Bambus zu glucksen begannen, es sei denn, man nahm eine Kalampunay-Blüte mit auf den Weg. Das Waschen am Fluss wurde seltener, während die Krabben, Garnelen und Fische, die man hier fing, immer größer wurden. Aber nur wenige Leute kauften sie. Am teuersten war noch die Garnelen, die für einen Peso weggingen, während Krabben umsonst zu haben waren. Es wurde auch berichtet, dass ein Wels im Fluss gesehen wurde, der einen ganzen Wasserbüffel verschluckt hatte, während dieser im Fluss watete. Der Wels, der gesichtet worden war, soll so groß wie Mang Andoys Beiboot gewesen sein. Waren etwa die Krokodile zurückgekommen?
„Dein Vater und seine Kameraden sind diejenigen, die die Leichen im Fluss töten!“, war Intoys spöttische Antwort, als wir zusammen vom Markt nach Hause gingen. „Sowohl dein Vater als auch die in den Bergen sind alle Monster!“, fügte Intoy vorwurfsvoll hinzu, während er ein Augenlid herunterzog, als würde er Staub aus seinem Auge entfernen, und dabei die Zunge herausstrecken.
„Wenn dein Vater ein Aswang ist, wirst du auch ein Aswang!“, schrie mein Freund und rannte davon, als er sah, dass ich einen Stein aufhob, den ich nach ihm werfen wollte.
Ich hatte keine Ahnung, warum Intoy meinen Vater einen Aswang nannte, wo er doch sein Patenonkel war. Mein Vater schenkte ihm oft etwas zu Weihnachten. Letzten Dezember bekam er eine Spielzeugpistole, das gleiche Geschenk wie ich. Aber Intoy zerbrach sie schnell, weil er sie jeden Tag mit in die Schule nahm und damit prahlte, dass sie ihm von seinem Vater aus Saudi-Arabien geschenkt worden war.
Ich habe mich oft für meinen Vater eingesetzt, nur um zu beweisen, dass er kein Aswang war. Er hatte keine Angst davor, dass ich Kalamansi-Blätter in meiner Tasche hatte. Er sah den Menschen direkt in die Augen. Er ging in die Kirche, um am Altar des Heiligen Santiago zu beten. Ich verdächtigte eher meine Mutter, die immer boshafter wurde. Einige Kinder hatten angefangen, sie wegen ihrer Strenge, die in der ganzen Stadt bekannt war, eine Hexe zu nennen. Einige hatten sich sogar über die nervige Art meiner Mutter beschwert. Sie schrie mich auch oft an, wenn sie bemerkte, dass einige ihrer Karten fehlten. Manchmal sah ich sie mit dem König der Karten sprechen, ihn küssen und dem Buben ein Schlaflied singen, während sie auf die Königinnen trat.
Manchmal stahl ich meiner Mutter ein paar Spielkarten aus dem Stapel – die beiden selten benutzten Karten mit den Clownbildern – und setzte sie bei unseren Teks-Spielen ein. Meine Klassenkameraden waren alle beeindruckt, weil meine Teks einzigartig waren. Sie waren neu und rochen nach Importware. „Aus welchem Film sind die?“, fragte mein Spielkamerad. Ich sagte: „Aus Dolphy und Panchito“, was sie noch mehr verblüffte. Sie hatten noch nie von diesem Film in der Betamax-Videothek gehört. Als meine Mutter davon erfuhr, jagte sie mich mit einer langen Stachelrochenpeitsche, die unter den Aswang gefürchtet war. Ich floh aus dem Haus, lief auf einen Hügel und pflegte die Wunde, die meine Mutter mir zugefügt hatte, mit zarten Guavenblättern und Pay Isongs Nganga-Spucke. Von einem Stachelrochen geschlagen zu werden, war wie von einem Aal gebissen zu werden. Nur ein Beschneidung war wahrscheinlich schmerzhafter. Der Schwanz war mit Stacheln bedeckt. Ein Aswang, der von ihm getroffen wurde, starb sofort. Der Schwanz lag immer unter Mutters Schlafmatte. War das der Grund, warum Vater nicht mit ihr schlief?
Um sicherzugehen, dass Vater kein Aswang war, wartete ich, bis er eingeschlafen war, als er früh nach Hause kam. Er war offensichtlich müde, und wenn Vater nicht geschnarcht hätte, hätte man ihn für tot halten können. Ich tastete langsam nach seinem Penis. Vorsichtig. Ich wollte beweisen, dass er das hatte, was ich hatte. Das war der Beweis, dass er kein Aswang war, wie Intoy behauptet hatte. Ich tat so, als würde ich mich hin und her wälzen, und hob dann leicht mein Hemd. Ich war nervös wie eine Ratte, die von einer Katze gejagt wird, als ich langsam mein Knie in Richtung Vaters Schritt bewegte. Ein einzelnes Stück Fleisch schien daran zu hängen. Ich rieb schnell meinen Oberschenkel daran und spürte, wie Vaters Penis hart wurde. Es fühlte sich an wie eine aufquellende Masse. Ich bemerkte, dass sie mehr und mehr wuchs, während etwas darauf lag. Ich wurde immer besorgter und nahm langsam meinen Oberschenkel weg und lockerte vorsichtig meine Umarmung um meinen Vater. Mein Vater schlief noch tief und fest, während ich meine Handflächen öffnete und wieder schloss, weil ich das Gefühl hatte, dass ich den Penis meines Vaters so anfassen müsste wie er meinen angefasst hatte. Ich wollte sichergehen, dass wir beide gleich waren. Aber ich hatte auch Angst, dass mein Vater oder sein Penis wütend werden könnten. In meiner Unentschlossenheit warf ich mich auf den harten Boden. Der Boden war genauso hart wie der warme Körper meines Vaters. Der Geruch der Erde stieg aus dem Keller unseres Hauses gemeinsam mit dem Geruch des Körper meines Vaters auf. Petrichor. Mutter hatte gesagt, dass dieser Dampf ein böser Dampf sei, der dann entsteht, wenn ein kurzer Regen plötzlich trockenen Boden benetzt. Der Dampf sei schlecht für den Magen. Das aber war genau der Geruch, der auch von der Haut meines Vaters ausging. Aber für mich war es in dieser Nacht, als ob ein Ilang-Ilang in unserem Garten blühte. Ich umarmte mein Kissen und tastete wieder nach meinem Penis, der ebenfalls hart geworden war wie eine reife Banane, die nur darauf wartete, gepflückt zu werden. Als ich spürte, dass der Schlaf schon an meine Augenlider klopfte, ließ ich die rasenden Träume herein. In meinem ersten Traum hatte es Sampaguita-Blüten geregnet.
Manchmal kam mein Vater nicht nach Hause, nach den Nächten, in denen ich mich vergewissert hatte, dass er kein Aswang war. An anderen Nächten dachte ich an seinen Penis. Er wuchs, wenn ich ihn berührte, wenn ich ihn drückte, wenn ich ihn umklammerte. Genau wie meiner. Das ähnelte dem, was man über die Statue des Heiligen Santiago glaubte, dass nämlich sowohl der Heilige als auch sein Pferd wuchsen. Man sagte, bevor sie von den Missionaren hierher gebracht wurde, hätten die Füße der Statue noch nicht den Boden berührt, da sie ja auf ihrem Pferd saß. Jetzt berührten die Stiefel des Heiligen fast das Regal. Auch die Hoden des Pferdes wuchsen, sagte eine Frau, die ich oft dabei beobachtet hatte, wie sie die Statue berührte.
Inzwischen waren aus der anderen Stadt immer häufiger Schüsse zu hören, und es schien, als kämen sie unserem Dorf immer näher. Das Geräusch der Schüsse unterschied sich von dem der Feuerwerkskörper zu Neujahr. In den letzten Nächten waren die aufeinanderfolgenden Detonationen fast schrill gewesen. Es klang wie entferntes Donnergrollen. Steine schienen auf Stahldächer zu prasseln.
Der Flusslauf wurde durch das mit ihm vermischte Blut immer träger. Vor sechs Uhr abends hatten die Menschen bereits ihre Sachen gepackt und sich in ihre Häuser zurückgezogen. Nachts streiften Aswang umher, verkündete der Albularyo. Auch Überfälle wurden häufiger. Neulich wurde in Ka Pedrings Haus eingebrochen und der gesamte Reisvorrat gestohlen. Ka Pedring wurde beschuldigt, Apus Feinden geholfen zu haben. Selbst Intoy hatte seine Sticheleien und seine üble Nachrede eingestellt, nachdem er eines Nachmittags miterleben musste, wie sein Onkel von Soldaten erschossen wurde, weil er einen Soldaten geschlagen hatte, der dreist seine Ziege geschlachtet und verspeist hatte. Auch Ka Pedrings Tochter war verschwunden, nachdem Soldaten in ihr Haus eingedrungen waren. Nach ihrer Entführung fand man nur noch eine blutige Damenbinde, um die ein paar streunende Hunde kämpften. Nachdem man mehrere Nächte nach dem Mädchen gesucht hatte, nahm die ganze Stadt an, dass Ka Pedring verrückt geworden war. Der alte Mann ahmte das Zirpen der Geckos am Fluss nach, während er die Damenbinde in der Hand hielt.
Es dauerte fast einen Monat, bis ich meinen Vater wiedersah. Wir wurden durch lautes Klopfen an der Tür und das Bellen des Hundes geweckt. Mutter, die neben ihren verstreut daliegenden Karten schlief, und ich wurden gleichzeitig wach. Draußen warteten fünf Soldaten. Sie sprachen mit Mutter, die offenbar einen Brief angenommen hatte, ohne ihn zu lesen. Sie sagte mir, ich solle aufstehen. Wir hatten uns noch nicht einmal umgezogen oder die Zähne geputzt, als wir schon in einen Jeep mit Soldaten stiegen. Die ersten Sonnenstrahlen hatten die Farbe von Blut. Eher wie Abendrot sah das aus und als ob rote Blumen die Glühbirne des Himmels verschmiert hätten. Wir fuhren am Fluss vorbei. Einige fischten nach Fischen und Krabben, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Sie schienen schwarze Schleier zu tragen. Die gefalteten Akazienblätter waren aufgefächert.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als wir bei der Gemeinde ankamen. Wir betraten einen kleinen Raum, der nach Schweinemist roch. Dort lag eine Leiche, die mit einer Decke verhüllt war, die die Farbe von Moos hatte, so wie ich es von den Steinen am Fluss kannte. Der Soldat zog schnell die Decke weg, ging sofort hinaus und zündete sich eine zerknüllte Zigarette aus seiner Tasche an.
Die Leiche war Vater. Wir erkannten ihn sofort an seinem Amulett. Vater sah aus wie eine geschlachtete Kuh. Die linke Seite seines Gesichts war zerschmettert, und frisches Blut tropfte aus seiner Nase, seinen Ohren und aus einer Wunde an seinem Schädel, die wie eine Scherbe einer zerbrochenen Flasche aussah. Ich sah seinen Penis aus seinem Mund herausragen, das Stück Fleisch, das mir bewies, dass er kein Aswang war. Es war, als hätte Vater in diesem Stück Fleisch von sich all seine Menschlichkeit, seine Kraft, seine Wut, sogar seine Gründe, mich zu umarmen, zu schweigen und nicht mit Mutter zu schlafen, mich zur Beschneidung zu überreden und seine Hingabe an Santiago aufbewahrt. Als ich seinen nahezu zerfetzten Penis sah, war es, als würde ich das ganze Leid meines Vaters spüren. Und obwohl Vater derartig zerrupft aussah, schien sein ganzer Körper zu einem Magneten zu werden, und ich spürte, wie er mich zu sich zog.
Ich umarmte Vater so, wie er mich in der Nacht umarmt hatte, als er meinen Penis hielt. Das tropfende Blut, das von der Augustbrise sofort getrocknet wurde und zu einem riesigen Muttermal, einer Karte auf der Haut, wurde, störte mich nicht. Eine Kugel hatte sein Amulett durchschlagen. Sie hatte das offene Auge getroffen. Vaters Körper war noch warm, als ich ihn umarmte, bis er dann so kalt wurde wie das Wasser des Flusses. Ich sah mich um und als ich mich vergewissert hatte, dass die fünf Soldaten, die sich nicht darum zu kümmern schienen, noch draußen waren, nahm ich langsam und vorsichtig den abgetrennten Penis meines Vaters aus seinem Mund. Er blutete noch und schien geschrumpft zu sein wie das Fleisch, das wir als Köder im Fluss verwendet hatten, als die Fische noch so groß wie meine Handflächen und nicht so groß wie Karibus waren. Ich sah auf den Penis meines Vaters und erinnerte mich an die dunkle Kugel, die der Aswang vor seinem Tod weitergeben musste. Ich steckte ihn langsam in meinen Mund und schluckte den Penis meines Vaters hinunter, sobald ich nach dem Zwitschern der Geckos den Hahn krähen hörte.
Die ersten Sonnenstrahlen blendeten und alles schmolz dahin.
Über die Geschichte
Santiago’s Cult ist eine Coming-of-Age-Geschichte aus einer Zeit, in der Marcos Sr. (im Text Apo genannt) das Kriegsrecht verhängte, um die zunehmende kommunistische Präsenz in den Provinzen, insbesondere in der Region Bikol, zu bekämpfen.
Über den Übersetzer
Bernard Capinpin ist Dichter und Übersetzer. Seine Übersetzungen erschienen oder erscheinen demnächst in Zeitschriften wie The Arkansas International, The Washington Square Review, AGNI und The Massachusetts Review sowie in der Reihe „Poem-a-Day” der Academy of American Poets und in der Anthologie ULIRÁT: Best Contemporary Stories in Translation from the Philippines (Gaudy Boy Translates, 2021). Er ist einer der Gewinner des Words Without Borders Poems in Translation Contest 2020. Er lebt auf den Philippinen.