Biryani
Es ist Sommer im globalen Süden (und Winter im globalen Norden), und für den Monat Januar bringt Literatur.Review sie alle zusammen und veröffentlicht bisher unübersetzte oder unveröffentlichte Geschichten aus dem Norden und Süden unserer Welt.
Ali AlShaali (arabisch: علي الشعالي) ist ein emiratischer Dichter, Verleger und Kulturaktivist. Er hat fünf Gedichtbände und einen Roman veröffentlicht. Darüber hinaus hat er vor kurzem eine Sammlung kultureller Essays über das Publizieren und Schreiben mit dem Titel "Kammern mit Fenstern" sowie eine Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel "Leben in Granatäpfeln" herausgegeben, aus der die hier vorliegende Erzählung entnommen ist.
Von Zeit zu Zeit bin ich Zielscheibe von Neid und bitterem Klatsch meiner Konkurrenten. Weshalb? Weil ich Arslan bin, der Immigrant, der Mechaniker mit den schwieligen Handflächen und den von Fett geschwärzten Fingern, der junge Afghane, der von der Zeitschrift The Kitchen - trotz seines gebrochenen Englisch - zur Persönlichkeit des Monats November gewählt wurde. Die Zeitschrift widmete diesem Arslan acht Seiten in einem Interview, in dem sie seinen Werdegang, seinen Erfolg und seine Kunstfertigkeit, eines der schmackhaftesten Gerichte zuzubereiten, nachzeichnete. Und das auch noch im Herzen des Paradieses für Kunst, Architektur und Genuss - New York. Arslan biete sowohl den ständig erschöpften Städtern als auch den Touristen, die verzweifelt nach Neuem, einer Abwechslung suchen, einen lukullischen Trost.
Das stört mich alles nicht... Sollen meine Konkurrenten doch nach Herzenslust an meinem lebendigen Fleisch, meinem bitteren Fleisch kauen. Ich leugne meine Vergangenheit nicht, ganz im Gegenteil. Ja, ich habe meinem Vater sieben Jahre lang geholfen, in meinem Heimatland Autos zu reparieren. Später opferte ich einen Teil des Familienerbes, um Schlepper zu bezahlen, damit sie mir den Weg von einem hellen Punkt auf der Weltkarte zu einem anderen erleichterten. Als ich im Big Apple ankam und noch bevor meine salzwassergetränkten Kleider trocknen konnten, irrte ich auf der Suche nach einem Job durch die endlosen Straßen. Ich begann als Tagelöhner in einer Werkstatt, die Reifen ersetzte und reparierte. Jeder hat eine Vergangenheit: Entweder man vertuscht sie mit erfundenen Geschichten oder man baut auf ihr auf, um weiterzukommen. Ich habe mich für die zweite Option entschieden, weil meine Fantasie noch nie Fabeln erfinden konnte. Ich bin, was ich bin, nichts weiter, und ich sage, was mir in den Sinn kommt, ohne Umschweife, auch wenn es mich teuer zu stehen kommen kann - so sind wir eben in Afghanistan.
Trotz all dessen bin ich heute eine anerkannte Persönlichkeit. Ich trage die Maske der Höflichkeit und werde eingeladen, Vorträge zu halten, die in Echtzeit übersetzt werden, sowie Workshops zu leiten, in denen ich Hobbyköchen beibringe, wie man Spieße würzt und grillt, ohne dass sie ihren Saft verlieren. Ich helfe den Teilnehmern auch, sich mit Asien zu arrangieren, wenn auch nur aus der Ferne, und arbeite mit ihnen daran, dass sie lernen, im Augenblick zu leben und diesen in vollen Zügen zu genießen. Ein talentierter Koch und ein echter Gourmet lassen ihre Gedanken in Gegenwart des Essens nicht von Ost nach West wandern: Sie müssen alles außer ihrem Teller vergessen, um gut zu sein.
New York City bietet jedoch nur selten solche Momente der Klarheit. Wenn es eine Lektion gibt, die ich gelernt habe, seit ich als Migrant nach Amerika kam, dann ist es die, wachsam zu bleiben, die Menschen und die Umgebung um mich herum genau zu lesen und mindestens ein Auge offen zu halten, sogar im Schlaf.
Ich habe auch kapiert, dass man sich bei der Zubereitung von Biryani nicht auf amerikanische Produkte verlassen sollte, da sein Geschmack nun einmal in seiner Heimat verwurzelt ist. Hier im Land der Träume gibt es getrockneten Knoblauch von akzeptabler Qualität, rote Zwiebeln mit einem brillanten Geschmack, Chilischoten, die in der Nase stechen, Kartoffeln aller Art, Petersilie und Koriander mit einem klaren Geschmack, Zuckermais, Weizen, der für die Hände von Bäckern gemacht ist, und einige andere Getreidesorten. Aber all das ist dem afghanischen Biryani egal, es ist ihm egal. Um dieses Gericht so zuzubereiten, wie es meine Mutter für unser freitägliches Familienessen in Kabul zubereitet hat, muss ich Basmatireis mit Gewürzen mischen, die mit mütterlicher Sorgfalt behandelt werden, so wie eine Amme, die ihr Kind trägt. Diese Gewürze kommen von dort, aus Asien, wo Kardamom einen Geschmack und einen Duft hat, die direkt das Herz berühren, wo Zimt nicht einfach eine Holzstange ist, um Gerichte zu dekorieren, ebenso wie Nelken und Kreuzkümmel. Dort besitzen Kräuter und Gewürze eine kostbare Essenz, die ihren Namen wirklich Ehre macht.
Im November dieses Jahres sind es 19 Jahre, dass ich in Manhattan lebe. Sobald die Stadt in Rot erstrahlt und die Parks in flammenden Farben leuchten, weiß ich, dass ein weiteres Jahr vergangen ist. Meine Heimatstadt zu verlassen, um ein Abenteuer zu erleben, war keine schwere Entscheidung. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, nachdem meine Familie verschwunden war. Ich begrub meine Eltern innerhalb von sechs Monaten eigenhändig. Meine Mutter starb an einer Lungenentzündung; die Wissenschaft konnte ihr nicht helfen, die Krankheit zu bekämpfen. Sie versuchte verzweifelt, das Vakuum mit ihren Kiefern zu fassen, und schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Als wir endlich ein Beatmungsgerät bekommen hatten, konnte ihr Körper, der an Entbehrungen gewöhnt war, nicht mit dem Überfluss umgehen. Sie vergiftete sich mit zu viel Luft. Sie starb an Sauerstoff, ertrunken in ihrem Bett.
Mein Vater, von Kummer überwältigt, verzehrte sich immer mehr, bevor er wie ein verdorrter Baum umkippte. Mein Bruder Abdul und ich gerieten in einen Strudel von Verlusten, als wäre die Sonne erloschen und eine unerbittliche Kälte über uns hereingebrochen. In seinen letzten Tagen war mein Vater welk geworden, wie eine getrocknete Aprikose. An diesem Tag schafften es drei Männer und ich gerade so, seinen Sarg aus dem im Stau steckenden Auto in die tiefe Grube, sein Grab, zu tragen. Dort übergaben sie mir seinen Körper, während ich im Schlamm versank, und ich brachte ihn allein, ohne Hilfe, in sein ewiges Bett hinab. Er ging mit Leichtigkeit, so ausgemergelt war mein Vater am Ende.
Was Najibullah, meinen engsten Bruder, betrifft, so flog seine Seele noch vor der meiner Eltern davon. Es war nicht Kummer oder Armut, die ihn mit sich riss, sondern die Kriegsgeräte, die der wissenschaftliche Fortschritt perfektioniert hat. Ich bezweifle, dass von seinem Körper noch genug übrig geblieben ist, um ihn zu beerdigen. Wie kann ein Mensch, der von Natur aus zerbrechlich ist, überleben, wenn selbst felsige Berge unter dem Einschlag von Bomben in Stücke zersplittern? Ganz Afghanistan zitterte. Armeen aus fernen Ländern warfen tonnenschwere Bomben ab, um die Berge und Täler von den „Feinden der Zivilisation“ zu säubern. Najib war weder ein echter Krieger noch ein Mann mit Prinzipien. Er verteidigte keine Sache. Er hatte sich diesen fehlgeleiteten Gruppen aus Langeweile angeschlossen, wie er mir in einer ruhigen Nacht anvertraute, bevor er seinen Rucksack packte und das Haus in Richtung Berge verließ, durch Straßen, die von Schatten bevölkert waren. Wir, die Bewohner von Kandahar, hatten gelernt, mit dem ständigen Brüllen der Explosionen und dem grellen Licht der Kriegssplitter zu leben. Doch Najib und seinesgleichen konnten sich damit nicht abfinden. Sie weigerten sich, Afghanistan in seiner neuen Realität zu akzeptieren und lösten sich auf. Als mein Vater davon erfuhr, versank er in tiefes Schweigen, bis wir endlich von Kandahar nach Kabul zogen, wo wir mit dem Trubel der Stadt verschmolzen.
Sie sind alle weg, in den Himmel aufgefahren. Mir blieb nur mein fünf Jahre jüngerer Bruder Abdul, der von meiner Mutter grenzenlos verhätschelt wurde. Er war derjenige, den die Familie dazu bestimmt hatte, eine formale Bildung zu erhalten. Die ganze Familie hatte auf ihn, den Jüngsten, gesetzt, um unsere Realität zu verändern und eine andere Zukunft aufzubauen. Mein Vater hingegen hatte mich ausgewählt, um ihm in seiner Werkstatt zu helfen, vielleicht um mir die Würde zurückzugeben, die ich nach meinem Schulversagen verloren hatte. „Wir sollten ihm ein Handwerk beibringen, damit er mit seinen Händen seinen Lebensunterhalt verdienen kann“, sagte er. Meine Mutter nickte nur stumm.
Ich lernte schon früh die Mechanik und die Geheimnisse der Autos kennen. Innerhalb kürzester Zeit wurde ich zu einer der Stützen der Werkstatt und einige Monate später sah ich meinen Vater von weitem, wie er mit einem stolzen Lächeln auf mich deutete.
Er beauftragte mich, Lebensmittel für das Haus zu kaufen, nahm mich mit, um Ersatzteile auszusuchen, und bezog mich in seine Geschäfte mit Schmieden, Schrotthändlern und Händlern für gebrauchte Teile ein. „Hör zu und lerne“, sagte er.
Trotz all dieser Dinge fühlte ich eine gewisse Leere in meinem Leben. Im Vergleich zu Najibs Andenken, das in unserem Haus und in der Nachbarschaft wie der Duft von gerösteten Kiefern hing, und zu Abduls akademischen Leistungen, der durch sein Universitätsstudium ging wie ein Messer durch Butter, schienen mir Mechanik und Handarbeit in der Garage damals kein vielversprechender Weg zu sein. Dennoch - und wir müssen ehrlich sein - lehrten mich diese Erfahrungen das eine oder andere über Management, den freundlichen Umgang mit Menschen und Gegenständen, die umsichtige Behandlung von Kunden und die Wichtigkeit, sein Schicksal zu akzeptieren.
Zum Glück habe ich von meinem Vater keinen Beruf wie Schneider oder Landwirt geerbt, denn für diese Art von Arbeit habe ich einfach keine Geduld. Ich mag es, das Ergebnis meiner Bemühungen schnell zu sehen: ein Auto zu reparieren und zu sehen, wie der Besitzer glücklich nach Hause fährt, oder für Liebhaber guter Küche zu kochen, einen Kunden schnell zufriedenstellen und zu sehen, wie er sich freut.
Nach dem Tod meiner Eltern und Najibs wurde das Haus leer und traurig, während Abdul wie ein Schatten hin und her lief. Im Nachhinein bereue ich, dass ich keinen Streit angezettelt habe, damit Abdul und ich stundenlang über seine Probleme diskutieren konnten, so wie wir es früher taten, indem wir um ein brennendes Feuer herumgingen, bis es von selbst erlosch.
Ich hatte vergeblich gehofft, dass Abdul, der sich in seinen Studien auszeichnete, verstehen würde, dass die Eifersucht und Rivalität unserer Kindheit uns nicht davon abhalten sollte, uns als Erwachsene gegenseitig zu unterstützen, besonders unter solch schmerzhaften Umständen. Aber mein kluger Bruder begriff diesen Gedanken nicht. Unsere Entfremdung wuchs weiter, selbst als ich noch in meinem Heimatland war. Ich spürte, dass meine Seele sich woanders hinbewegt hatte, während mein Körper darum kämpfte, in seiner Heimat zu überleben. Damals wurde mir klar, dass Immigranten nicht einfach entwurzelt sind. Es sind die Prüfungen des Lebens in ihrem eigenen Land, die den Ausschlag geben, bis sie wie Wasser durch die Erde fließen und sich auf ein unbekanntes Ziel zubewegen.
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Ich saß gebeugt in einem Nachtclub und ertränkte meinen Kummer, als ich von Abduls Freundin Rahma, einer brillanten Unterhaltungskünstlerin, erfuhr, dass er ausgewandert war. Wie üblich war mir dieser undurchschaubare Betrüger zuvorgekommen. Mein Bruder hatte seinen Namen in Kevin geändert und war nach Westen gezogen, in ein Land mit dunklen Wolken, in dem sich die vier Jahreszeiten an Bäumen und auf Pflastersteinen manifestieren. Ein paar Monate später rief er mich aus Deutschland an. Seine Stimme war kalt, fremd, nicht mehr wie unsere. Er redete, aber er sagte nichts. Ich spürte, dass er das Gespräch in die Länge zog, um etwas auszuprobieren, etwas, das er noch nicht gelöst hatte.
„Ich bin noch nicht tot, dass du so mit mir redest, Abdul“, platzte ich heraus. Er seufzte nur und beendete dann diese Nullnummer, indem er mich unterbrach: „Hör zu, hör zu ... Arslan, wir sind, was wir sind. Wir werden uns nicht ändern. Und deine Stimme erinnert mich an all das, was ich vergessen will. Entschuldige, aber lass diese Gespräch bitte unser letztes Gespräch sein“.
Abdul hat es nie versäumt, mich Bitterkeit schmecken zu lassen. Vielleicht dachte er - mit dem, was meine Mutter aus ihm gemacht hatte, und ihrer bedingungslosen Unterstützung trotz seiner wiederholten Verrücktheiten in den Nachtclubs -, dass er ein Recht darauf hatte, seinen Schmerz mit uns zu teilen und die verbliebenen Gläser auf unsere Gesundheit zu trinken. Wir haben seine Last immer mit ihm getragen, haben ihn unterstützt. Aber jetzt, da meine Eltern weg waren und ihre Unterstützung mit sich genommen haben und ich allein war, hatte ich beschlossen, ihn nicht mehr zu verhätscheln, so wie Toten das gemacht haben, als sie noch lebten.
Als Abdul spürte, dass ich ihn im Stich ließ, rächte er sich. Er packte seinen Universitätsabschluss und sein Sprachtalent zusammen und hängte sich an das Ende der Karawane. Er ging weg, wie alle vor ihm: Najib, Mama, Papa. Er ging allerdings auf der Erde ins Exil, nicht in den Himmel, und ließ mich allein zurück.
Ich bin nicht so gut im Sprachenlernen wie Abdul, und ich habe meinen Namen nicht geändert, als ich in die Hauptstadt der Welt kam. In New York habe ich Freunde aller Hautfarben und Religionen, und ich habe nie einen Sinn darin gesehen, meinen Namen zu verkürzen oder ihn an die westliche Sprache anzupassen. Hier sind die Sprachen flexibel und zu allem fähig. Arslan ist völlig ausreichend. Was könnte ich aus einem solchen Namen streichen? Im Gegenteil, ich fügte einen Buchstaben hinzu, ein „i“ am Ende, um einen Reim auf unser ikonisches Gericht zu schaffen: Arslani Biryani.
Als ich von meinem Kiosk zu meinem Restaurant an der Fifth Avenue im Herzen der Stadt wechselte und auch den Namen änderte, war der Schilderhersteller mit dieser Entscheidung mehr als einverstanden. Er meinte, der harmonische Klang der beiden Wörter lasse sie zusammen tanzen, wie bei einem Tango. Er beließ es nicht dabei: Er fügte ein leuchtend rotes Ausrufezeichen hinzu und schrieb den Namen des Restaurants in einer abgerundeten Schrift ohne Ecken und Kanten. Er versicherte mir, dass dies die Aufmerksamkeit der Passanten, vor allem der jungen Leute, auf sich ziehen würde: „Arslani Biryani!“ Und er hatte Recht. Die meisten meiner Kunden sind unter vierzig Jahre alt.
Als ich ankam, eröffnete ich den Kiosk mit dem, was von meinem Erbteil übrig geblieben war. Mein Assistent war ein junger, kleiner und zurückhaltender Afghane namens Mir. Ich weiß nicht, was aus meiner kulinarischen Karriere ohne ihn geworden wäre. Mir war geduldig mit den Gästen, gut darin, Probleme zu lösen, und ertrug meine schwankende Stimmung. Ich konnte ihm vor den Kunden befehlen, sich zu beeilen, ihn wegen seines ständigen Telefonierens tadeln oder ihm die Innen- und Außenreinigung des Kiosks übertragen; er gehorchte immer, als befände er sich auf in einem Militärlager.
Ich verschonte Mir nie vor der Härte, die ich aus meinem Leben in der Einöde mitgebracht hatte. Ich tadelte ihn, wenn er trödelte, und wenn er sich beim Wechselgeld verzählte, hielt ich ihm eine Lektion: „Mir, jeder Dollar zählt, wenn wir diesen Hühnerstall verlassen und ein richtiges Restaurant eröffnen wollen.“ Er nickte und lächelte, als ob er diese Idee für unrealistisch hielt. Das war ganz am Anfang. Aber mit der Zeit sah ich, wie ein wachsender Glaube an unseren Erfolg in ihm keimte, wie eine wilde Pflanze in den Bergen, die so robust ist, weil sie aus der Trockenheit geboren wurde.
Mir schlief manchmal zwischen zwei Stoßzeiten auf einem Stuhl ein, um Kraft zu tanken. Wenn ich ihn mit meinen Fingerspitzen weckte, sprang er wie ein nasser Vogel auf und machte sich sofort wieder an die Arbeit: die Teller mit Reis füllen, Rosinen, Zwiebeln und Cashewnüsse - unsere einzigartige Mischung - dazugeben und eine kleine Dose Joghurt neben unsere Chilipaste stellen. Anschließend überreichte er dem Gast das Gericht mit seinen Händen. Dieses Ritual wiederholte er bis Mitternacht, wenn der Ansturm der Kunden endlich nachließ. Dann verschnauften wir, zählten die Tageseinnahmen und ich gab ihm seinen Anteil. Mir küsste die gefalteten Geldscheine, bevor er sie in seine Tasche steckte.
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Fast eine Stunde. So lange dauert die Fahrt mit der U-Bahn vom Central Park in Manhattan zu meiner Unterkunft in Brooklyn. Nur eine Stunde, ein kleiner Punkt auf der Zeitachse, dem eine viel längere Reihe von Reisen zwischen verschiedenen Ländern vorausgeht: ein erster Halt in Istanbul, dann Irland, ein Abstecher nach Jamaika und schließlich hier.
Mir und ich schlossen den Kiosk, nachdem wir ihn gereinigt, den Müll eingepackt und entsorgt hatten. Dann gingen wir zurück in das, was wir unser Zuhause nannten, ein Zimmer mit zwei Etagenbetten und einem Badezimmer, das wir uns mit mit ein paar Mitbewohnern teilten.
In der U-Bahn übertöne ich das schrille Knirschen des Metalls, indem ich Nusrat Fateh Khan zuhöre. Ich lausche seinen Gesängen mit leerem Geist. Seine Rezitationen, die voll von den Aromen Afghanistans sind, helfen mir, meine Heimweh zu heilen. Von seinem Lied Mast Qalandar kann ich nie genug bekommen. Mit Hilfe seines musikalisch-organisierten Chaos versetze ich mich nach Kabul. Ich stehe auf seinen Volksmärkten, atme den Duft von Obst und Grillrauch ein und erlebe Szenen aus der Vergangenheit. Mein Herz wird zu einer Kreuzung, einem Durchgang für die Ströme der Erinnerung. Aber ich weiß, wann ich mich erinnern und wann ich vergessen muss. Das ist eine Kunst, der Lieblingssport aller Immigranten.
Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich nie religiös oder patriotisch war. Ich bin als einfacher Mechaniker aufgewachsen, habe nicht wie ein Derwisch mit dem Kopf genickt, die Trommel geschlagen oder Parolen gesungen. Und doch habe ich überlebt. Heute beiße ich mit intakten Zähnen in den Apfel der Welt und biete Biryani als Zeichen der Freundschaft und des Friedens an. Ist das nicht an sich schon ein patriotischer Akt?
In New York sind die Tage kurz, und meine fast zwanzig Jahre hier sind wie im Flug vergangen. In dieser Stadt wirbelt der Wind zwischen den Gebäuden herum, und der Himmel verbirgt sein Licht sehr schnell. Die Erde erwacht im Morgengrauen, Verkehrspolizisten fuchteln mit ihren Armen, um den dichten Verkehr auf den großen Kreuzungen zu bewältigen, und am Abend füllen sich die Theater mit Romantikern. Der Fluss des Lebens hier ist wild, unbekümmert und unberechenbar. Er wird für mich nur durch die Kommentare der anderen Köche über meinen angeblichen Rosinenüberschuss auf dem Biryani gebremst, um den zuckerhungrigen amerikanischen Gaumen zu befriedigen. Sie betrachten das als Manipulation. Aber ich lege keinen Wert auf die bösen Worte der Konkurrenten. Mein Vater hat mich gelehrt, die Augen offen und die Ohren geschlossen zu halten. Jedes Mal, wenn ich mich über die Rebellion der Handwerker in der Werkstatt oder ihre Intrigen gegen mich und untereinander beschwerte, erinnerte er mich, ja ermahnte mich an diesen einfachen Zauber, um gegenüber böswilligen und listigen Menschen zu bestehen.
Von meinem Restaurant an der Fifth Avenue, einen Häuserblock vom Central Park entfernt, beobachte ich New York in seiner ganzen Pracht. Ich sehe Angestellte, die sich heimlich aus ihren Büros schleichen, und kann die Identität und das Schicksal von Passanten spielend erraten. Ich deute auf Mir, der damit beschäftigt ist, Kunden abzukassieren, und wir tauschen ein wissendes Lächeln aus. „Reumütige Schmuggler“, sage ich, als ich sie an ihren teuren Taschen erkenne. Wir erkennen auch „naive Touristen“, und unsere Blicke treffen sich mit denen von Paaren, die sich in vergessenen Ecken diskret wie Vögel küssen.
Afghanen und unsere asiatischen Brüder kämpfen um ihr Überleben auf dem Restaurant- und Unterhaltungsmarkt, ein ewiger Kampf, der in den Großstädten seinen Höhepunkt erreicht. Trotzdem halte ich mich immer noch für einen glücklichen Mann, der noch lebt, obwohl er weit weg von seiner Heimat ist, und mit der vielversprechenden Freundschaft mit der schönen Savina gesegnet ist. Wir streiten uns oft, aber wir sind trotz allem glücklich.
Ich habe mein Leben so strukturiert, wie es ein Abendmensch tun sollte, und glücklicherweise wird das Gericht, das ich serviere, erst nach dem Mittag verzehrt. Ich beginne meine Arbeit, wenn die Sonne hoch am Himmel über den Gebäuden steht, und kümmere mich nicht um die Anschuldigungen, dass ich ein unrechtmäßiger Eindringling in diesem Gewerbe sei. Ich habe mein Schicksal mit meinen eigenen Händen geschmiedet.
Ich weiß jedoch, dass sich der auch der billigste Klatsch in den afghanischen Kreisen in New York wie wilde Pilze ausbreitet. Es heißt, Arslan sei mit einem kleinen Koran in der rechten Tasche, hundert Dollar in einer abgewetzten Ledermappe mit einem Foto seines Vaters und einem in diesem Land nutzlosen Führerschein hierher gekommen.
Aber Arslan hatte Erfolg. Er hat jeden Nachmittag, wenn die quirlige Stadt beginnt, ihre Reize für Besucher und Einwohner zu entfalten, Menschenmassen vor seinen Kiosk gelockt. Musik begleitet die Staus und die Lichter schießen aus den riesigen Bildschirmen. Dort drängen sich die Menschen, um den würzigen Reis mit Plastiklöffeln zu genießen, stopfen ihre Münder, während sie weitergehen und von einer spürbaren Angst überlaufen sind.
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Heute sitzen zwei Männer im Restaurant und lächeln die ganze Zeit. Ich habe sie schon mehrmals gesehen und übersehe solche Details nie. Sie sind nicht die üblichen Spione anderer Restaurants - diese kommen meist in Begleitung einer falschen Freundin, mit der sie einen fadenscheinigen Dialog führen und mühsam versuchen, sich die Zeit zu vertreiben und ihre Mission zu erfüllen. Sie geben sich als Paar aus, um ihren Besuch glaubwürdiger zu gestalten, bestellen fast alle Gerichte auf der Karte, um sie zu fotografieren, probieren kaum etwas und gehen dann mit dieser schalen Beute für ihre Herren wieder ihres Weges.
Die beiden Männer an diesem Abend gehören nicht zu dieser Kategorie. Die Art und Weise, wie sie miteinander und mit den Kellnern interagieren, zeigt, dass sie Angestellte einer offiziellen Organisation mit festen Codes und Regeln sind. Ich sehe das an ihrer Körperhaltung, ihrer Art zu sprechen und den Papieren, die sie nicht zu verstecken versuchen. Ich kann also mit Sicherheit sagen, dass sie weder Geheimdienstmitarbeiter noch Ermittler sind.
In Wirklichkeit bin ich ein ganz normaler, fast langweiliger Mensch: Ich pendle zwischen meinem Restaurant und meinem neuen Haus zwei Blocks weiter, komme am nächsten Morgen zurück und so weiter, ohne Unterlass. Ich nehme mir selten zwei Wochen im Jahr frei, was der Hauptgrund für den Konflikt mit Savina ist. Aber das ist die nun einmal die lang erlernte Disziplin des verbissenen Mechanikers, die in mir steckt, und was kann ich dagegen tun? Ich weiß, dass ich weder stundenlange Überwachung noch detaillierte Berichte verdiene. Diese Anstrengungen wären bei anderen Männern wie mir, die gerade erst hier angekommen sind und noch die traditionellen Hosen und Hemden des indischen Subkontinents tragen, besser aufgehoben. Was mich betrifft, so habe ich das Gefühl, auf akzeptable Weise integriert zu sein. Abgesehen von der Sprache, die ich nie ganz habe meistern können, vermittle ich vielen den Eindruck, ein hervorragend assimilierter Einwanderer zu sein.
Ich bin ein Sohn der Berge und weiß, wie man mit Wölfen umgeht. Diese beiden Männer werden mein Restaurant heute Abend nicht verlassen, ohne dass ich weiß, wer sie sind. Ich bewegte mich taktisch von Tisch zu Tisch und näherte mich ihnen, ohne zu viel Eifer zu zeigen. Ich begrüßte sie beiläufig: „Willkommen bei Arslani Biryani!“. Sie antworteten prompt: „Guten Tag und vielen Dank, Herr Arslan. Wir sind große Bewunderer ihrer Küche, aber wir sind heute im Namen einer Organisation hier, die Restaurants bewertet, und wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten, wenn es Ihnen recht ist.“
„Natürlich, welche Organisation vertreten Sie denn?“
„Michelin. Ihr Restaurant wurde für die Verleihung von zwei Sternen vorgeschlagen. Wir sind gerade dabei, die Schritte abzuschließen, es geht nur noch um Formalitäten.“
In diesem Moment bat darum, mich zu ihnen setzen zu dürfen. Es war einfach notwendig. Ich hatte so lange auf diesen Tag gewartet. Bevor ich meinen Kiosk verlassen hatte, kannte ich diese Organisation nicht und schenkte ihr kaum Beachtung. Aber als ich sah, wie ihre Sterne die Eingänge und Webseiten meiner Konkurrenten schmückten, beschloss ich, dass ich sie auch brauchen würde.
Sie fragten mich ausführlich über die afghanische und orientalische Küche aus: ihre Zutaten, ihre Zubereitungsmethoden. Ich antwortete ihnen großzügig. Dann nahm das Gespräch eine persönlichere Wendung, was mich nicht störte. Ich bot ihnen Granatapfelsaft an: „Hier, und was kommt als Nächstes?“
„Danke, Chef Arslan, für Ihre Geduld und Ihre Mitarbeit. Dies ist der letzte Schritt. Ein Teil des Interviews dient lediglich dazu, Sie besser kennenzulernen und Ihre Aussagen zu dokumentieren, mehr nicht. Können Sie uns etwas über Ihre Herkunft erzählen?“
„Als junger Mann bin ich vor dem Elend in meinem Land und in meiner Region geflohen. Ich habe mir geschworen, Glück um mich herum zu verbreiten, angefangen bei mir selbst. Und gutes Essen ist doch Glück, oder?“
„Absolut. Und warum haben Sie sich ausgerechnet New York ausgesucht?“
Ich versuchte, der Frage auszuweichen, aber mein heißes Blut stieg in meinen hartgesottenen afghanischen Kopf. Ich sagte, was gesagt werden musste: „Wir sind hier, meine Herren, weil Ihr dort seid!“