„Auch wenn du hundert Jahre suchst, mich findest du nicht mehr…“
Layeq Sherali wurde am 20. Mai 1941 in Panjakent in eine Bauernfamilie geboren. Nach dem Besuch der Maktab und der Lehrerbildungsanstalt schloss er 1958 seine Ausbildung ab und studierte ab 1959 Sprache und Literatur in Stalinabad (heute Duschanbe). Im selben Jahr erschien sein erstes Gedicht, das ihm Anerkennung einbrachte. Er arbeitete als Redakteur bei Radio Tadschikistan, leitete literarische Zeitschriften und engagierte sich politisch. 1965 wurde er Mitglied des Schriftstellerverbandes, 1991 zum „Volksdichter Tadschikistans“ ernannt. Layeq verband klassische persisch-tadschikische Dichtung mit Einflüssen der Weltliteratur, besonders von Ferdowsi, Rumi und Khayyam. Er starb 2000 in Duschanbe; sein Andenken wird bis heute geehrt.
Mich findest du nicht mehr
Auch wenn du hundert Jahre suchst, mich findest du nicht mehr,
wenn du Tage und Nächte Gott bittest, mich findest du nicht mehr.
Auch wenn du jeden Morgen auf meinem Weg wie ein Samtteppich
aus Gras wächst, mich findest du nicht mehr.
Ich hatte einen Weg, ein Gesicht und ging auf meinem eigenen Weg,
du, die hundert Wege und hundert Gesichter hat, mich findest du nicht mehr.
Achtlos bist du, schamlos bist du, der Liebe unwürdig bist du,
auch gehörst du nicht zu den Tüchtigen, mich findest du nicht mehr.
Auch wenn du von Kopf bis Fuss Auge bist, mich siehst du nicht mehr,
wenn du Zauber und Hexerei bist, mich findest du nicht mehr.
Auch wenn du alle Flecken, die ich im Spiegel des Herzens von deiner Liebe habe,
mit Tränen wäschst, mich findest du nicht mehr.
In mir selbst siedend trockne ich aus wie eine Quelle des Gebirges,
wenn du Amudarja* bist, mich findest du nicht mehr.
Auch wenn du eine Paradiesgeborene bist, das Paradies deines Paradieses bin ich,
wenn du vom blauen Himmel bist, mich findest du nicht mehr.
14.3.1980
* Amudarja ist ein grosser Fluss in Zentralasien.
+++
Ich und der Fluss
Zwei Wegebauer und Reisende sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss,
zwei Gefährten, zwei Einsame sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Von einer Quelle kommen wir, einer Bergquelle,
in die Tiefen von der Höhe – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Ich nehme von ihm die Aufregung, er nimmt von mir das Gedicht,
beide sind wir Unruhige und Laute – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Sein Herz ist trunken von Stürmen, mein Herz ist trunken von Empörung,
zwei Betrunkene und voller Aufruhr sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
* Ein Ghasel ist eine Gedichtform in der persischen Literatur.
Ein Ghasel* singt er, ich auch, er schreit, ich auch,
zwei Dichter, zwei verliebte Herzen sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Ohne Gedanken über Verleumdungen, ohne Gedanken über Absichten sind wir,
zwei Verrückte, zwei Gedankenlose sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
** Leila und Madschnun ist ein bekanntes Liebespaar in der persischen Literatur, ähnlich wie Romeo und Julia.
Wir weinen in Gedanken an die Geliebte – die Geliebte unserer Träume,
zwei Madschnune** im Feld sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Manchmal haben wir nicht genug Platz in uns, wir fliessen über und wir regen uns auf
aus Rache am Ufer und am Bett – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Wir fürchten weder Wegelagerer noch Störenfriede;
zwei Suchende des zukünftigen Wegs sind wir – ich und der Fluss, ich und der Fluss.
Mit grossem Leid und Schmerz das Lied des Lebens auf den Lippen
eilen wir der Welt nach – ich und der Fluss, ich und der Fluss…
19.07.1984
+++
Hat Ihnen dieser Text gefallen? Dann unterstützen Sie doch bitte unsere Arbeit einmalig oder monatlich über eins unserer Abonnements. Wir würden uns freuen!
Wollen Sie keinen Text mehr auf Literatur.Review verpassen? Dann melden Sie sich kostenlos für unseren Newsletter an!
Übersetzung aus dem Tadschikischen von Mirzo Boboev, Lektorin Käthi Grimm
Das tadschikische Original kann hier heruntergeladen werden: